Chaya Czernowin erblickte am 7. Dezember 1957 im israelischen Haifa das Licht der Welt. Auch wuchs sie (laut Selbstauskunft) in Israel auf. Nach musikalischen Studien in Israel verließ sie mit 25 Jahren ihre Heimat – Richtung Deutschland (damals sicherlich noch ein Schritt, der – völlig verständlich – von ihren Verwandten mit einer Äußerung des Erstaunens bedacht wurde). Mittels eines DAAD-Stipendiums konnte sie nun hier studieren, hielt sich aber aus Studienzwecken auch einige Zeit in Tokyo auf; ebenfalls ermöglicht durch ein Stipendium.

Czernowins Musik wurde in aller Welt aufgeführt – und das von den besten denkbaren Interpretinnen und Interpreten für Neue Musik. Sie erhielt eine Professur an der University of California in San Diego und war außerdem die erste Frau, die (anschließend) eine Kompositionsprofessur an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien erhielt, wo sie von 2006 bis 2009 lehrte. Mit komponierenden Kollegen gründete sie eine Akademie, die Kompositionskurse auf Schloss Solitude (Stuttgart) anbot; zur Förderung des komponierenden Nachwuchses. Nach der Professur in Wien übernahm Czernowin eine Professur an der Harvard University. Von Haifa aus in große, liberale Metropolen in Europa und Asien, vom konservativen Kalifornien ins konservative Wien – und schließlich die Erdung im liberalen Boston. Das ist der (bisherige) Lebensweg von Chaya Czernowin.

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Wo ist Czernowin ästhetisch verortet? Einerseits kennt Czernowin alles an Musikgeschichte (die Avantgarde freilich inkludierend), was gewissermaßen »bereitliegt«. Andererseits bleibt sie nicht bei Statements stehen, die sie selbst als »politisch« (was immer das dann in der komponierenden Konsequenz bedeuten mag) verortet. Czernowins Ästhetik zielt immer wieder ins »Innere«, ins Unterbewusstsein; nicht nur in ihr Eigenes (denn Komponieren ist immer auch ein Prozess des unterbewussten/unbewussten Verfertigens), sondern auch im Blick auf ein mögliches kollektives Unterbewusstsein

Angesprochen auf ihren eigenen Erfolg im Kontext des »Komponierens als Frau« sagte Czernowin einmal, dass der immer noch bestehende Mythos des männlichen Genie-Komponisten sowie viele andere Vorurteile die wirkliche Gleichberechtigung der Frauen bis heute ausbremsen würden. Immer noch befänden wir uns in einem Prozess, dessen Endresultat doch endlich einmal Gleichberechtigung sein müsse …


Chaya Czernowin (*1957)
String Quartet (1995)

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Czernowins Werkkatalog ist reichhaltig. Ihr erstes, von der Komponistin als »gültig« betrachtetes Werk heißt Manoalchadia (Besetzung: zwei Frauenstimmen und Bassflöte) – nach einem Text von Enadad Eldan aus dem Jahr 1987. Mit Afatsim komponierte sie 1996 erstmals für eines der bekannten mitteleuropäischen Neue-Musik-Spezialensembles, dem Ensemble Recherche. Auch für das Musiktheater legte Czernowin bereits Partituren vor: 2017 kam etwa das Projekt Zaïde / Adama auf die Bühne des Theaters Freiburg. Czernowin stellte dem Mozart-Singspiel-Fragment von Zaïde ihr eigenes Werk Adama gegenüber. Das Mozart-Fragment, in dem ein kultureller Konflikt mittels eines europäischen Liebespaares dargestellt wird, wird keineswegs von Czernowin »komplettiert«. Die Komponistin radikalisiert eher den Widerspruch des Ganzen – und lässt in ihrem Musiktheaterwerk einen Palästinenser amourös auf eine Israelin treffen.

Die erwähnte (komponierende) »Suche im Inneren« resultierte sogar in einem Musiktheaterwerk, das diese Suche bereits im Titel trägt. In ihrer Kammeroper Pnima… ins Innere (ein Auftrag der Münchner Biennale; Uraufführung 2000) trifft ein Holocaust-Überlebender als alter Mann auf ein Kind. Nach erstem Scheitern einer Kommunikation der beiden ungleichen Personen versucht das Kind, die Geschichte des alten Mannes zu verstehen. Letztlich kommt es zu einer Verinnerlichung der schlimmen Erfahrungen des traumatisierten Mannes und zum Herausschälen der Frage, wie überhaupt derartige Erfahrungen an spätere Generationen weitergegeben werden. (Die Oper erhielt zahlreiche bedeutende Auszeichnungen.)

Czernowin komponierte auch zahlreiche Kammermusikwerke, darunter – bereits 1995 – ihr String Quartet. Was in diesem Streichquartett anders ist als »sonst«? Die vermeintlich »typisch« aktionistischen Einzeltöne, die einem sogleich begegnen, können sofort plastisch vermitteln, wie unterschiedlich sie disponiert sind. Endlich werden mal Spielartenunterschiede plastisch hörbar (sicherlich auch bedingt durch die hervorragende Interpretation; Neue Musik mangelt es ohnehin meistens nur an guten Einspielungen).

Im dritten Takt kommt es zum ersten »Zusammenfinden« der Instrumente. Ein kleiner, witziger Höhepunkt; »in C-Dur«, wenn man so (fies) will, treffen sich Violine und Violoncello doch jeweils auf einem c. Fast erscheint dieser sehr kurze Moment als eine »tonale Insel«, die aber natürlich sofort wieder verlassen wird.

Im fünften Takt schon der nächste witzige, aber auch denkwürdig bizarre Moment. Die drei oberen Streicher (Violine I, Violine II und Viola) versammeln sich jeweils einen sehr kurzen Moment nach ihrer Vorrednerin. Sie spielen sich (nach der ersten Geige) »verspätende« Terzen, also vermeintliche »Schönklänge«, die aber mindestens auf zweierlei Weise in ihrer »Schönheit« (die hier »attraktiv zu hörender Einfallsreichtum« heißt) aktiv begrenzt, reflektiert, gebrochen werden. Erstens kommen die vier Beteiligten hier nur für einen kurzen Augenblick zusammen, bilden also keine echte »Gruppe«, keine komponierte »Peergroup«. Zweitens verhalten sie sich harmonisch zueinander »feindlich«: Die Bratsche spielt einen Viertelton-Klang, der mit den Nicht-Vierteltönen der anderen auf intonatorischem »Kriegsfuß« steht.

So »witzig« geht es nicht durchweg weiter! Das Stück wird bitter! Nach etwa zwei Minuten hören wir ein Verharren, ein Insistieren; als hätten sich Zahnräder komplett ineinander verkeilt. »Nichts funktioniert mehr.« Nur das String Quartet von Czernowin: Das geht noch ein paar (überraschend unterhaltsame) Minuten weiter … ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.