Im Sommer 2009 organisierte Valery Gergiev im Rahmen des White Nights Festivals in St. Petersburg eine Ausstellung mit dem Titel ›Wilhelm Furtwängler: Maestro, Mensch und Mythos‹. Furtwängler sei sein Leben lang wegen seiner Biographie angegriffen worden, so Gergiev in seiner Eröffnungsrede, dabei »diente er mit all seiner kreativen Energie und einer unglaublichen emotionalen Intensität einer großen Sache, nämlich der Bewahrung der deutschen Musiktradition«. Gut möglich, dass Gergiev sich in den Worten, mit denen er sein großes Vorbild würdigte, auch selbst wiederfindet. Er übernimmt in seiner Rede das Narrativ, mit dem Furtwängler nach 1945 seinen Pakt mit dem Nationalsozialismus legitimierte. Viel ist in den letzten Wochen über den richtigen Umgang mit Gergievs Nähe zu Putin und dessen verbrecherischer Politik diskutiert worden. Oft wurde dabei der Vergleich mit Wilhelm Furtwängler herangezogen. Welche strukturellen Ähnlichkeiten gibt es zwischen beiden Fällen? Hartmut Welscher hat darüber mit Friedrich Geiger, Professor für historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater München, gesprochen. Zu Geigers Arbeitsschwerpunkten zählt die vergleichende Forschung zur Rolle der Musik in Diktaturen. 2003 habilitierte er sich an der Universität Hamburg mit der Studie ›Musik in zwei Diktaturen. Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin.‹

Friedrich Geiger • Foto privat

VAN: Diktaturvergleiche haben gerade wieder Konjunktur. Inwieweit sind sie hilfreich oder problematisch?

Friedrich Geiger: Man kann erstmal alles vergleichen, das ist eine grundsätzliche wissenschaftliche Operation, um strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erkennen. Man muss aber sehr stark beharren auf der Unterscheidung von Vergleichen und Gleichsetzen. Es wird umgangssprachlich immer etwas anders gehandhabt, aber Vergleichen heißt ja auch das Wahrnehmen von Unterschieden. Deswegen ist gegen Diktaturvergleiche nicht nur nichts einzuwenden, sondern ich halte sie für hochgradig produktiv, gerade auch wenn es um die Rolle von Musik geht. 

Wo sehen Sie im Fall Gergiev und Furtwängler strukturelle Ähnlichkeiten?

Zunächst einmal muss man erkennen, dass russische klassische Musik Teil von Putins Auslandspropaganda-Programm ist. Das wird von vielen nicht gesehen. Es gibt ja offizielle Dokumente, die das belegen. Auf der Seite des russischen Kultusministeriums findet man zum Beispiel den ›Erlass der Regierung der Russischen Föderation zur Verabschiedung der staatlichen kulturpolitischen Strategie im Zeitraum bis 2030‹ vom 29. Februar 2016. Dort heißt es: ›Die einheimische klassische Musik‹ – also im Grunde das Hauptrepertoire von Gergiev – ›spielt weiterhin eine führende Rolle in der Weltmusikkultur und ist der nationale Ruhm und Stolz der Russischen Föderation‹. Das ist zunächst mal absolut vergleichbar mit der Rolle, die deutsche Musik im NS-Regime gespielt hat. Die russische Seele als wichtiger Exportartikel neben Öl und Gas, der das Land in einem positiven Licht erscheinen lassen soll. 

In der Diskussion um Furtwängler und Gergiev wird oft von einem ›Pakt‹ gesprochen, es wird suggeriert, dass die Nähe rein opportunistischer Natur war und ist. Aber es scheint mir, dass bei beiden auch eine sehr große weltanschauliche Nähe zum jeweiligen Regime bestand beziehungsweise besteht. 

Ich würde das auch so sehen, da muss natürlich eine bestimmte Affinität vorhanden sein. Es gibt ja diese jahrzehntelange Diskussion: ›War Furtwängler ein Nazi?‹. Das greift viel zu kurz. Viel wichtiger ist, wie Sie zu fragen, wo ideologische Schnittmengen waren. 

Wo waren die?

Bei Furtwängler war es der Glaube an die kulturelle Superiorität Deutschlands, das Raunen von Beethoven und der deutschen Tiefe, die Idee, dass sich in der Musik das deutsche Wesen am tiefsten artikuliert … Die Ideologisierung der Musik haben aber nicht die Nazis erfunden, das geht sehr viel weiter zurück. Deswegen hat sich Furtwängler auch nie als Nationalsozialist begriffen, weil er im Grunde nur etwas weiter tradiert hat, was aus dem 19. Jahrhundert stammt. Und die NS-Ideologen haben sich bei dem bedient, was bereitlag. 

Gergiev und das Mariinsky-Orchester beim Konzert vor russischen Truppen im eroberten Palmyra.

Auch Gergiev hat aus seiner weltanschaulichen Nähe zu Putin und dessen Politik nie einen Hehl gemacht. Ist bei ihm die Nähe zur Staatsdoktrin noch stärker als bei Furtwängler?

Wahrscheinlich schon, bei ihm gibt es eine völlige Konvergenz mit den Zielen Putins. Das ist sozusagen der Klang des Terrors und die ästhetische Seite dessen, was wir in Butscha sehen. Es gibt diesen vor kurzem erschienenen Gesprächsband, in dem Gergiev beschreibt, wie er vom Mariinsky aus die westliche Kultur erobert hat. Das wird wie ein Feldzug beschrieben: ›Alle Positionen, die ich im Ausland übernahm, in Rotterdam, bei der Met, beim LSO in London, hatten immer etwas mit dem Mariinsky zu tun, dem ich damit einen Vorteil mehr verschaffte.‹ Bei der Strategie der Ämterhäufung bezieht er sich explizit auf Furtwängler, der im Buch an vier oder fünf Stellen als Leitfigur und Vorbild vorkommt. Dann wird Gergiev gefragt, worauf er diese Expansion gestützt habe, und er antwortet: ›Auf die russischen Komponisten, die hatten diese eine mächtige Waffe in unsere Hände gelegt, die diese großartige russische Musik nun einmal ist.‹ Dazu kommen alle mögliche Kommentare zur russischen Seele … Diese Idee einer gewissen Überlegenheit der eigenen Musikkultur gibt es bei Gergiev wie bei Furtwängler.

Bei Gergiev ist der Wille zur Macht und zur Ämterhäufung unübersehbar. Wie war das bei Furtwängler?

Das war bei Furtwängler schon auch so, vielleicht nicht so extrem wie bei Gergiev, der die einzelnen Positionen ja gar nicht mehr ausfüllen konnte. Die Anzahl wirklich schlechter Performances aus Zeitmangel bei ihm ist ja auch beeindruckend. Der Unterschied ist, dass Furtwängler im Dritten Reich relativ früh, 1934, nach dem Versuch, sich gegen das Regime zu stellen, seine offiziellen Ämter verloren hat, aber natürlich trotzdem inoffiziell weiter der Chef der Berliner Philharmoniker geblieben ist, nachdem er 1935 zu Kreuze gekrochen war. Eine weitere Parallele ist die Mitwirkung in kulturpolitischen Gremien. Bei Gergiev ist es der Rat der Kulturschaffenden, bei Furtwängler war es der Reichskultursenat in der Reichskulturkammer.

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Furtwänglers Verteidigung im Entnazifizierungsprozess war, dass er als Künstler quasi a priori unpolitisch gewesen sei. Woher kommt eigentlich diese auch heute noch verbreitete Anschauung, dass Politik und klassische Musik getrennte Welten seien?

Das ist ein Kerngedanke der deutschen Romantik. Das fängt an bei Tieck, Wackenroder, ETA Hoffmann – diese Idee, dass Musik eigentlich eine entrückte Welt repräsentiert, in die man sich zurückziehen kann, bis hin zu so einer Art Zwei-Reiche-Lehre, in der Musik als etwas vom Tagesgeschehen komplett Abgekoppeltes erscheint. Das ist seither eine mächtige Idee geblieben. Es zählt mit zu den geschicktesten Schachzügen der NS-Propaganda, damit sehr virtuos zu hantieren. Goebbels wusste, dass er diese beiden Systeme, Politik und Musik, zusammenschieben konnte, wenn er es brauchte, um die Politik zu emotionalisieren, sie aber bei Bedarf auch ganz schnell wieder auseinanderziehen und sagen konnte: ›Es ist ja nur Musik.‹ Dieser Argumentation sind in der Zeit der Entnazifizierung alle gefolgt, Orff, Furtwängler, Werner Egk. Selbst jemand wie Schönberg, der als jüdischer Künstler unter dem Nationalsozialismus sehr gelitten hat, setzte sich für Pfitzner ein, indem er sagte: ›Es ist zwar furchtbar, was er gesagt hat, aber er ist ein so großer Komponist.‹ Da sieht man, wie tief dieses Denken verwurzelt war. Beide, Furtwängler und Gergiev, tun je nach Anlass so, als ginge es nur um die Musik. Zugleich kann man aber viele Situationen aufzählen, in denen sie gezielt Musik in einen Kontext bringen, in dem sie eben nicht mehr nur Musik ist. 

Hat Furtwängler sich da im Nachhinein naiv gestellt, oder glauben Sie, dass er diese Instrumentalisierung von Musik durch die NS-Ideologie wirklich nicht verstanden hat? 

Es gibt einen interessanten Brief von ihm an Ludwig Curtius, seinen Lehrer und Freund, da schreibt er im September 1934: ›Es steht heute jeder Deutsche, der eine Stellung innehat, vor der Frage, ob er dieselbe behalten und durchführen will, oder nicht. Im Bejahungsfall muss er mit der herrschenden Partei irgendwie praktisch paktieren. Oder aber er will ausscheiden, dann ist es etwas anderes.‹ Das heißt, das Dilemma war ihm glasklar. Und er hat sich ganz bewusst dafür entschieden, nicht auszuscheiden.

Wilhelm Furtwängler dirigiert 1939 ein Konzert der Berliner Philharmoniker. • Foto © Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo

Furtwängler hatte 1936 das Angebot, als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker in die USA zu gehen. Er entschied sich zu bleiben. Dafür wurde er von vielen Emigranten angefeindet. Er selbst hat später gesagt: ›Ich konnte Deutschland in seiner tiefsten Not nicht verlassen.‹

Genau, er hat das als eine Art ›Widerstand‹ dargestellt. Eine der aufschlussreichsten Quellen über seine Verwicklungen sind die Goebbels-Tagebücher: Da werden unzählige Gelegenheiten beschrieben, in denen Furtwängler Goebbels gegenüber als Bittsteller auftritt, bis in den persönlichen Bereich: Unterstützung bei den Scheidungsangelegenheiten, ob Goebbels nicht Karajan ein wenig kaltstellen könne, weil der ihm auf die Nerven ging … teilweise unglaublich spießige und kleinkarierte Anliegen, für die Furtwängler glaubte, den NS-Staat instrumentalisieren zu können. Auch da liegt eine Parallele vor zu Gergiev, der Putin erfolgreich die Millionen für seine Theater rausleiert. Aber Putin würde das natürlich nicht machen, wenn er davon nicht auch was hätte. 

Darf man Menschen, die in einer Diktatur leben, zu kritischen Bekenntnissen nötigen?

Das ist hochproblematisch. Und man muss sich auch fragen, was man davon eigentlich hat. Für mich ist es immer ein wenig mit dem Verdacht behaftet, dass es eigentlich mehr um denjenigen geht, der solche Fragen stellt. Dass es mehr eine Strategie ist, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Nach dem Motto: Ich unternehme zwar keine weiteren Anstrengungen, um herauszfinden, was du sonst so gemacht hast oder was du denkst, es ist mir eigentlich auch egal, aber wenn du jetzt sagst: ›Putin ist böse‹, dann darfst du auch spielen. Das ist ja sehr wohlfeil. Die ganzen jahrelangen Verstrickungen, auf die Sie in Ihrem Artikel hingewiesen haben, das ist ja alles grauenvoll, soll jetzt aber nicht mehr von Interesse sein. Außerdem stellt sich immer die Frage, welchen Wahrheitsgehalt solche Statements haben. Anna Netrebko distanziert sich vom Krieg, schreibt dann aber parallel auf russisch: ›Sorry, ich konnte nicht anders‹. Das bringt nichts außer unter Umständen eine Beruhigung des eigenen Gewissens. 

Gleichzeitig ist es für viele ukrainische Musiker:innen gerade schwierig, mit russischen auf einer Bühne zu stehen, ohne zu wissen, wie diese über den Krieg denken. Es besteht immer der Verdacht, dass jemand, der neutral bleibt oder schweigt, auf der Seite des Aggressors ist. 

Man muss in jedem einzelnen Fall sehr genau hingucken. Auch zwischen Gergiev und Netrebko gibt es ja beträchtliche Unterschiede, die in dieser Diskussion vollkommen verschwimmen. Das Ausladen, das Boykottieren, das sind schwierige Maßnahmen, weil es dabei auch so stark um uns geht, um unser Wohlbefinden. Dabei muss es ja um die Gefühle der Betroffenen gehen. Man muss für [den ukrainischen Botschafter] Andrij Melnyk nicht nur Sympathien haben, aber ich kann absolut verstehen, dass er als Botschafter eines Landes, in dem die Leute abgeschlachtet werden, es nicht ertragen kann, wenn er sieht, dass da ausschließlich russische Solisten bei einem Solidaritätskonzert für die Ukraine mitmachen. Das muss doch im Fokus stehen, dass man da eine Sensibilität entwickelt. Ein Konzert mit russischen und ukrainischen Künstlern wäre vielleicht vor zwei Monaten noch angemessen gewesen, jetzt kann es ein riesiger Fettnapf sein.

Auch der reflexhaft aktivierte Topos von der ›völkerverbindenden Kraft der Musik‹ funktioniert also nur kontextabhängig.

Der ist ja ohnehin diskutabel, doch wenn man davon überzeugt ist, kann man ihn in bestimmten Zeiten bemühen. Aber im Augenblick ist er einfach nicht angemessen. Musik ist maximal kontextabhängig. Deswegen ist es eben auch so absurd, wenn Furtwängler vor Hakenkreuzflaggen dirigierend sagt, das sei alles ganz unpolitisch, oder Gergiev mit seinem Schirmmützchen in Palmyra vor russischen Soldaten. Natürlich wird da Musik mit ihrer ganzen emotionalen Kraft in einen ganz bestimmten Kontext gestellt. 

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Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie anlässlich von Hitlers Geburtstag am 19. April 1942 in der alten – im Krieg zerstörten – Berliner Philharmonie. Wilhelm Furtwängler dirigiert das »Reichsorchester«, wie die Berliner Philharmoniker in der NS-Zeit hießen.

Auch Furtwängler wurde nach dem Krieg von einigen ›gecancelt‹, die Alliierten verhängten ein Dirigierverbot, worüber er sich bitter beklagt hat. Gab es bei ihm jemals so etwas wie Selbstkritik?

Nicht dass ich wüsste. Ich glaube, im Grundsatz war seine Überzeugung, dass er sich nichts hat zuschulden kommen lassen. 

Wie sollte man in der Rezeption mit so einer ambivalenten Person wie Furtwängler umgehen?

Ich glaube, die Herausforderung besteht darin, das nicht wegzuschieben, nicht so zu tun, als sei es nicht da. Das ist grundsätzlich keine produktive Haltung. Man sollte sich damit auseinandersetzen. Ich finde zum Beispiel auch die Frage interessant, inwieweit eine bestimmte Art des Dirigierens vielleicht diktaturaffiner ist als andere. Auf die Frage nach seinen seltsamen Handbewegungen bezieht Gergiev sich explizit auf Furtwängler, und erklärt die Strategie dahinter: das Orchester in einem Zustand der Verwirrung und Uneindeutigkeit zu halten, um dessen Aufmerksamkeit zu schärfen. Das war sicherlich auch eine der Hauptingredienzien dieses Furtwängler-Sounds, dass man die unglaublich angespannte Präsenz der Musiker spürt, die nie wissen, was als nächstes kommt. Das ist eine Auffassung, die ganz stark auf das irrationale Element von Musik abzielt, auf das Mystische, verstandesmäßig nicht Fassbare, was immer mit Begriffen wie Tiefe und Seele umschrieben wird. Da kann man sich schon fragen, ob eine solche Art des Dirigierens nicht diktaturtauglicher ist als eine, die die Struktur herausarbeitet, die Musik erklärt und erklärbar macht. Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass wir immer solche eher mystischen Dirigenten haben, wenn es darum geht, Musik als Propagandawerkzeug einzusetzen. 

Valery Gergiev und Wladimir Putin bei der Verleihung des Staatspreises der Russischen Föderation an Gergiev im Juni 2016 im Kreml • Foto Kremlin.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Trotz vieler eindeutiger politischer Statements und Auftritte hat man im Falle Gergievs bei einigen Kommentatoren den Eindruck, als wollten sie trotzdem unbedingt daran festhalten, dass er ›eigentlich‹ ganz anders denkt. Woher kommt das?

Das ist auch wieder musikspezifisch. Man liebt die Interpretationen von Gergiev, zurecht. Ich war 2001 im Mariinsky-Theater und habe dort einen Boris Godunow gehört, bei dem ich dachte: ›Ich muss sterben, das ist so unglaublich toll.‹ Und dann hält man es nicht aus, dass das so auseinanderklaffen kann und dieser Künstler unter Umständen vielleicht kein guter Mensch ist. In der Süddeutschen Zeitung wird ernsthaft gefragt, ob Gergievs Schweigen denn wirklich heißt, dass er zu Putin hält, und woher wir das denn wüssten – wie kann man so naiv sein? Man kann sich ja mal anschauen, wie die ganze Geschichte weitergegangen ist. Das ist eine typische kognitive Dissonanz: Du kannst mir tausendmal erzählen, dass Rauchen so schädlich ist, ich rauche aber gerne, selbst wenn da die offene Lunge auf der Schachtel abgebildet ist. Das ist auf eine gewisse Weise selbstbezogen, weil es auch darum geht, sich den eigenen Genuss nicht zu verderben.

Wo kommt denn eigentlich dieses ›ein großer Künstler kann kein schlechter Mensch sein‹ her? 

Ich glaube, das geht noch zurück auf die antike Ethos-Lehre, dass die Musik zivilisatorische Kraft hat und einen zu einem besseren Menschen macht. ›Wo man singet, lass dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; / Bösewichter haben keine Lieder‹, heißt es 1804 bei dem Dichter Johann Gottfried Seume. Das ist natürlich idealisierender Unsinn, man schämt sich fast, das auszusprechen. Aber viele sind eben auch heute noch davon überzeugt. Auch Gergiev wird einem dann präsentiert als ein guter, etwas weltfremd-trotteliger Onkel, der sich einsetzt für seine Mariinsky-Familie, und sich nur deswegen nicht äußert, weil er der nicht schaden will. 

In der FAZ wurde zum Verständnis des Fall Gergievs nicht Furtwängler sondern Schostakowitsch herangezogen. Was sagen Sie zu dem Vergleich?

Problematisch, weil Gergiev im Gegensatz zu Schostakowitsch ja jede Möglichkeit hatte, zwischen Putins Russland und seinen westlichen Posten zu wählen. Außerdem war er, anders als der Komponist, niemals Ziel von Repressalien. Vor allem aber muss man sich klar machen, was es bedeutet, wenn Gergiev Schostakowitschs Leningrader Sinfonie spielt. Das ist eine missbräuchliche Aktualisierung vom Mythos des ›Großen Vaterländischen Krieges‹, von dieser antifaschistischen Erzählung, mit der Putin seine Gräueltaten legitimiert. ¶

Hartmut Welscher

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com