Asientourneen europäischer Orchester sind normalerweise Hochämter der Social Media Abteilungen. Es werden laufend schöne Bilder und nette Geschichtchen produziert, die der Konkurrenz, den eigenen Fans und der Kulturpolitik daheim zeigen sollen, dass man auch international groß aufspielt. 

Anders diese Woche bei den Wiener Philharmonikern: Die traten mit dem Dirigenten Franz Welser-Möst zweimal in Hongkong auf, aber wenn man darüber etwas erfahren wollte, musste man sich schon chinesischer Quellen bedienen. Im Konzertkalender des Orchesters taucht das Gastspiel ebensowenig auf wie in den eigenen Social Medial Kanälen. Wer den Wiener Philharmonikern auf Facebook folgt, bekommt den Eindruck, Franz Welser-Möst gebe gerade daheim in Wien Meisterkurse für die hauseigene Orchesterakademie. Die Konzerte in Hongkong sind wie eine Fata Morgana: Waren sie jetzt da, oder doch nicht?

Umso mehr wird das Gastspiel in chinesischen Medien gefeiert. Die Kulturverwaltung Hongkongs schaltete einen »Sponsored Article« in der englischsprachigen South China Morning Post, in dem die Konzerte der Wiener Philharmoniker »als eine der wichtigsten Veranstaltungen anlässlich des 25. Jahrestages der Gründung der Sonderverwaltungsszone« bezeichnet werden. Stolz wird darauf verwiesen, dass Hongkong der erste Stop auf der Asientournee des Orchesters sei. Die Konzerte wurden live im Fernsehen, im Radio und auf der Website der Kulturverwaltung übertragen. 

Auch die anschließenden Konzerte in Taiwan werden von den Wiener Philharmonikern nicht öffentlich kommuniziert, wohl aber die in Südkorea. Das sei eine bewusste Entscheidung, aufgrund der politischen Situation, so die Pressesprecherin der Wiener Philharmoniker gegenüber VAN. »Man muss es nicht an die große Glocke hängen.« Das klingt nach Selbstzensur, um nicht in unruhige politische Fahrwasser zu geraten. 

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Normalerweise geht es bei Orchestertourneen vor allem ums Prestige, beim Gastspiel in Hongkong wohl eher ums Geld. Die Konzerte wurden gesponsert vom Hong Kong Jockey Club (HKJC), einem der reichsten Vereine der Welt, der mit einem staatlichen Monopol auf Rennveranstaltungen und Sportwetten jedes Jahr Umsätze im zweistelligen Milliardenbereich macht. Als »Geldautomat der Regierung« ist der HKJC auch der größte Steuerzahler der Sonderverwaltungszone. Geschäftsführer ist dort seit 2007 der aus Deutschland stammende Winfried Engelbrecht-Bresges.

Die Kultur dürfe nicht zum Spielball von politischen Auseinandersetzungen werden, begründete Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer am 24. Februar 2022 die Entscheidung, an Valery Gergiev als Dirigent der bevorstehenden US-Tournee festzuhalten. Allerdings gehört es zur chinesischen Staatsdoktrin, Kultur regelmäßig zum politischen Spielball zu machen. So wurde eine China-Tournee der Prager Philharmoniker im Juli 2019 abgesagt, nachdem der Prager Bürgermeister Zdeněk Hřib sich geweigert hatte, in einem Städtepartnerschaftsvertrag mit Beijing Taiwan und Tibet als Hoheitsgebiet Chinas anzuerkennen. In einem Gastbeitrag in der Washington Post warnte Hřib im Dezember 2019 davor, im Umgang mit China zu vorsichtig zu sein und aus Angst vor Erpressung und Drohungen auf Werte und Integrität zu verzichten. Statt nach China fuhren die Prager Philharmoniker jetzt Anfang Oktober für vier Konzerte nach Taiwan. Ein Konzert am Nationalfeiertag (10. Oktober) mit Dvoraks Symphonie Aus der Neuen Welt bezeichnete der künstlerische Leiter des Orchesters, Ales Drenik, als »beste Gratulation für Taiwan«. 

Wer hingegen nach China reist, muss andersrum immer auch damit leben, dass man zur Selbstlegitimation eines diktatorischen Regimes beiträgt. Es lässt sich kaum vermeiden, dass der eigene Auftritt von chinesischer Seite hemmungslos politisch instrumentalisiert wird – als Beweis dafür, dass es in China an nichts mangelt, weder am technischen noch am kulturellen Highend-Produkt, dass China auch Kulturmacht ist, oder eben, wie jetzt im Falle der Wiener Philharmoniker, als Teil staatlicher Feierlichkeiten.

Wie nun also verhalten gegenüber China? Diese Fragen stellen sich gerade nicht nur viele Kultur- sondern auch Wissenschaftsinstitutionen. Nach den Universitäten Hamburg und Düsseldorf hat sich zum Beispiel vor zwei Wochen auch die Universität Trier vom Konfuzius-Institut getrennt, dem unter anderem vorgeworfen wird, als nachgelagerte Institution des chinesischen Bildungsministeriums Propagandainstrument der Kommunistischen Partei Chinas zu sein und durch politische Einflussnahme die Wissenschaftsfreiheit zu gefährden. »Die Zusammenarbeit hätte unter den jetzigen Bedingungen nicht mehr funktioniert – da gab es fundamental unterschiedliche Sichten auf China«, sagte Universitätspräsident Michael Jäckel zur Begründung.

Für Orchester und andere Kulturinstitutionen gibt es – neben den wirtschaftlichen – auch andere gute Gründe, weiterhin den Austausch mit China zu suchen. Was bringt es, alle Brücken abzureißen und sich abzuschotten? Kulturdialog ermöglicht schließlich auch einen »Ortswechsel des Denkens«, um Scheuklappen abzulegen, eigene Standpunkte zu überprüfen, Ambiguitätstoleranz zu üben. Statt geopolitische Freund-Feind-Zuschreibungen zu übernehmen, könnte Kulturdialog ein differenzierteres Bild von der Welt und ihren Gegensätzen zeichnen. Schließlich ist »Kultur« immer mehr als die Summe nationalstaatlicher Interessen. 

Es gibt aber auch viele gute Gründe, sich kritisch mit einem Engagement in China auseinanderzusetzen: Was kann und soll »Kulturdialog« – wenn man sich des Begriffs mal nicht nur als Floskel bedient –  in einem Land, das sich selbst immer mehr abschottet, in dem sich die Zensur kontinuierlich verschärft, das in Tibet und Xinjiang kulturellen Genozid begeht, in dem Künstlerinnen und Künstlern die »Liebe zur Partei« verordnet wird, und jene moralisch diskreditiert werden, die der Parteilinie nicht folgen? Diesen Fragen stellen sich insbesondere bei einem Auftritt in Hongkong, wo Anti-Regierungs-Proteste vor zwei Jahren brutal niedergeschlagen wurden.

Hinfahren, Geld einstreichen, sich instrumentalisieren lassen und ansonsten so tun, als sei nichts gewesen, ist mit Sicherheit der schlechteste Weg. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com