»Wenn man nach China geht, muss man auch flexibel sein«, sagt der Konzertpromoter Jiatong Wu. Auf die Probe gestellt wurden am 25. Oktober 2019 die Bamberger Symphoniker bei einem Auftritt in der chinesischen Stadt Changsha: Der Veranstalter wünschte sich vom Orchester das Stück Liuyang River als Zugabe. Das berühmte Volkslied aus der Provinz Hunan preist Staatsgründer Mao Tse-tung, der in Shaoshan, einem Dorf 100 km südwestlich von Changsha, nahe dem Fluss Liuyang geboren wurde. »Mao ist wie die rote Sonne in unseren Herzen«, heißt es in der letzten Strophe.
Ein »exquisiter Kulturbotschafter des Freistaats Bayern« (Bayerns Kunstminister Bernd Sibler) spielt in China Loblieder auf Mao? Die Angst vor dem Erregungspotential dieser Schlagzeile machte das Management des Orchesters nervös. Intendant Marcus Axt rief nach einem kritischen Blog-Beitrag dessen Administratorin Maren Lehmann, Soziologie-Professorin an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, an, um ihr »sagen wir: mitzuteilen, er könne sich nicht vorstellen, dass der oben stehende Beitrag – der seinem Orchester schwer schaden könne – im Einklang mit der Auffassung des Lehrstuhls stünde«, wie Lehmann in einem Kommentar auf dem Blog schreibt. (Das solche Anrufe nie eine gute Idee sind, weiß auch Christian »Rubikon« Wulff).
Die Geschichte dieser Zugabe, notiert von einem embedded journalist des Bayerischen Rundfunks, der die China-Tour des Orchesters begleitete, ist mehr eine schöne Pointe als ein wirklicher Skandal. Die Grenzen zwischen Volksgut und Mao-Kult sind in China fließend, das Lied wurde instrumental gespielt und ist im Übrigen kein Unbekannter auf Klassikbühnen. Der chinesische Pianist Haochen Zhang spielte es gerade erst als Zugabe eines Konzerts mit dem Philadelphia Orchestra in der New Yorker Carnegie Hall, die US-amerikanische Geigerin Esther Yoo bei einem Auftritt in Seoul, der französische Pianist Cyprien Katsaris auf einer CD-Aufnahme. Intendant Axt hatte sich vor der Aufführung in Changsha diplomatische Rückendeckung von der deutschen Generalkonsulin in Shanghai geholt. »Sie hat uns zugeraten, weil das Stück nicht mehr politisch verstanden würde.«
Warum also die Dünnhäutigkeit? Weil ein Shitstorm bedrohen könnte, was bei Asientourneen wichtigstes Ziel zu sein scheint: das Produzieren schöner Bilder. Da kommt der Vorwurf, man habe sich in China politisch instrumentalisieren lassen, ziemlich ungelegen. Dabei geraten die Überseereisen europäischer Orchester auch aus einem anderen Grund zunehmend unter Beschuss. Denn reicht eine Imagekampagne als Legitimation für eine Asientournee wirklich aus, angesichts des Ressourcenaufwands und der miserablen Klimabilanz?
Wirtschaftlich gesehen könnten die deutschen Tariforchester gut darauf verzichten. Für viele ist es schon ein Erfolg, wenn am Ende der Reise eine schwarze Null steht. Geld verdienen könnten in China eigentlich nur die ganz Großen, sagt Konzertpromoter Wu. »Entweder man ist die Wiener oder Berliner Philharmoniker, dann ist die Marke so stark, dass Sponsoren einsteigen, die Werbung ist leichter, und es kommen genügend Zuschauer, die für Tickets 300 Euro ausgeben. Oder man ist ein totales No-Name-Orchester, aber superbillig, und spielt ein umgängliches Programm wie zum Beispiel Filmmusik. Sonst wird es schwierig.«
»Warum macht man sowas? Bringt das was für uns und unsere Kunst? Brauchen wir Bestätigung und Prestige, die wir auf Touren bekommen, wirklich? Die Antwort auf diese Fragen ist: Nein,« meint Fredrik Österling, Direktor des Helsinborger Symphonieorchesters und Konzerthauses, die angekündigt haben, ab der Saison 2020/21 vollständig auf Flugverkehr zu verzichten. Die hämischen Bemerkungen, die das Orchester daraufhin auch aus Musiker*innenkreisen erntete (»Die will ja eh keiner hören«), klangen eher wie ein trotziges Pfeifen im Walde. Tatsächlich sind die Zeiten, in denen Menschen in China oder Japan auf eine Beethoven-Sinfonie deutscher Orchester gewartet hätten, lange vorbei, falls es sie jemals gegeben hat. Stattdessen gleicht das Tourneegeschäft mittlerweile einem Wettrennen, bei dem alle mitmachen, ohne genau zu wissen, warum. Die Konkurrenz macht es halt auch, man müsse international sichtbar sein, hört man oft schulterzuckend. Die »Hochkultur« gehorcht damit derselben globalisierten Wachstumslogik, die nicht erst durch den Klimawandel hinterfragt wird. Auch die Kulturpolitik trägt zum höher, schneller, weiter bei. Wenn Zulagen für Orchester damit begründet werden, dass diese wegen ihrer internationalen Gastspielreisen Leuchtturm und Standortfaktoren seien, dann ist das kein Signal, das zu ökologischem Umdenken motiviert.

Um der heimischen Fanbase zu zeigen, dass auch »ihr« Orchester New York, Rio und Tokio kann, sind Tourneen vor allem Stressphasen der Social Media-Abteilungen. Es gibt Foto-und Video-Blogs, Reisetagebücher von Musiker*innen, Instagram-Stories, Tour-Hashtags und Hofberichterstattung durch mitreisende Journalist*innen. Das, was man dort zu sehen oder lesen bekommt, ist meistens eine Mischung aus exotistischen Stereotypen, TUI-Reisekatalog und Lobhudelei auf sich selbst: In Asien gibt es viele Hochhäuser. In Peking gibt es Smog. Tokio ist eine Stadt der Gegensätze. Japaner tragen auch heute noch oft und gerne Kimono. Chinesen essen komische Tiere. Ansonsten überall tolle Konzertsäle, in denen das Publikum vor Begeisterung rast: »Wann immer Christian Thielemann auf das Podium tritt, gibt es kaum noch ein Halten.« Die Berichte erwecken bisweilen den Anschein, vor Ort herrsche eine derartige kulturelle Ödnis, dass die ausgehungerte lokale Bevölkerung nur darauf gewartet habe, dass endlich mal ein deutsches Orchester vorbeischaue. Den bleibendsten Eindruck scheinen aber Zucht und Ordnung ›der Japaner‹ zu hinterlassen. Trotz fehlender Papierkörbe, so erfahren wir, gebe es »keinen Krümel auf der Straße, nur herabgefallene Blätter«. Ansonsten: rührselige Homestories aus dem Innenleben eines Orchesters. Der mitfahrende Arzt erzählt, dass ein paar Orchestermusiker*innen eine Erkältung ausbrüten, in den Shopping Malls werden Mitbringsel für die Kinder gekauft »und wenn die Geigenkästen vor dem Konzert offen stehen, sind im Deckel eingeklebte Kinderfotos zu sehen«. Der Maestro freut sich derweil auf Japan, weil er Land und Leute liebt, genau wie die Berliner Philharmoniker. Das alles ist ungefähr so inhaltsleer wie Berichte aus WM-Quartieren an spielfreien Tagen. Katrin Müller-Hohenstein lässt im Campo Bahia die Beine im Pool baumeln und im Hintergrund spielt Poldi Playstation.
Die Selbstreferentialität dieser Reiseeindrücke konterkariert das Argument, nach Asien fahrende Orchester seien Kulturbotschafter und förderten den Kulturaustausch. Auf die Reiserei zu verzichten wäre dieser Logik folgend gleichbedeutend mit der freiwilligen Rückkehr zur Provinzialität. Nur, welche »Botschaft« soll da wem und warum vermittelt werden? Es ist ja nicht so, dass mit Uraufführungen, Repertoireentdeckungen oder neuen Konzert- oder Vermittlungsformaten im Gepäck gereist würde. Während man sich zuhause vehement gegen den Vorwurf der Musealität wehrt, stellt Orchester im Ausland eine mumifizierte Kultur der symphonischen Schlachtrösser aus, die sich seit 100 Jahren nicht geändert hat. Und was für eine Art »Austausch« ist gemeint, wenn für die Japaner*innen, Chines*innen und Korean*innern keine andere Rolle als die der Rezipienten vorgesehen ist (deren Rezeptionshaltung freilich misstrauisch überprüft wird)? Begegnungen mit der »lokalen Bevölkerung« beschränken sich, allein schon wegen des effizient durchgetakteten Tourplans, zumeist auf Backstage-Kontakte mit Autogrammjäger*innen, offene Proben oder mal eine Meisterklasse an der örtlichen Musikhochschule.
Alles in allem ist das eine dürftige Ausbeute, die, wenn man sie den enormen Kosten gegenüberstellt, jede Menge Fragen aufwirft. Bei einer Asientournee werden allein für den Instrumententransport mit dem Flugzeug teilweise über 100 Kisten und mehr als 10 Tonnen bewegt. Oft liegen, gerade in China, Tourneestädte weit auseinander, weshalb für die meist über 100 Musiker*innen weitere Inlandsflüge hinzukommen, oder, im Falle eine Ostasientournee, Flüge zwischen Japan, Südkorea und China. Wenn man sich unter Orchestermusiker*innen und Intendant*innen umhört, scheint der ökologische Fußabdruck jedoch bisher kaum ein Thema zu sein. Geht ja nicht anders. Außerdem sei ein Auftritt in der Tokioter Suntory Hall eine gute Motivationsspritze für jene, die sonst Schwarzbrot-Dienst in der deutschen Provinz leisten. Eine Asientournee als Teamentwicklungsmaßnahme? Es muss doch bescheidenere und klimaneutralere Möglichkeiten geben, den Teamgeist zu stärken. Blöd nur, dass deutsche Orchester keine Personalentwicklung haben, die sich darum kümmern könnte.
Bisher war es so, dass Orchester mit dem logistischen Aufwand und den Cargo-Zahlen ihrer Tourneen prahlten. In der Saisonbroschüre 2014/15 des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks fand sich eine doppelseitige Infografik, die den Aufwand einer Konzertreise nach Südamerika veranschaulichte: 100 Kisten, 105 Kubikmeter, 13 Tonnen Gewicht, 16 Flüge mit 5 Fluggesellschaften, allein für die Luftfracht. Die NDR Radiophilharmonie resümierte unlängst in einem Facebook-Post stolz die eigene Bilanz der China-Tour: »Zwei Wochen in China und ca. 25.000 Reise-Kilometer liegen hinter uns – und unsere Instrumente sind sogar noch 300 km mehr gefahren.« Auf einer Graphik waren die Flüge eingezeichnet, Frankfurt – Shanghai, Shanghai – Lanzhou, Lanzhou – Shanghai, Shanghai – Harbin, Harbin – Langfang, Beijing – Hannover … Dass die Klimabilanz der Unternehmung ein Problem sein könnte, und das eigene Publikum sich dessen vielleicht bewusster ist als man selbst, fiel erst nach einem kritischen Leser*innen-Kommentar auf. Der Post wurde daraufhin kurzerhand gelöscht.

Trotzdem setzt sich auch bei Orchestern langsam die Erkenntnis durch, dass man nicht länger so tun kann, als wäre man nicht von dieser Welt oder über alle Zweifel erhaben, weil man Beethovens Pastorale spielt (die Liebe zur Natur!).
Auch für Image und Prestige könnte es gewinnbringender sein, die Widersprüche des eigenen Handelns selbstkritisch zu hinterfragen, statt sich im Hamsterrad um internationale Sichtbarkeit immer schneller zu drehen. Muss man wirklich jedes Jahr reisen, kann man mehr Strecken mit dem Zug zurücklegen, oder sich Instrumente vor Ort leihen, um Cargo zu reduzieren? Könnte man nicht mit kleinerer Besetzung fahren? Sollte man nicht mindestens kompensieren?
Ein Überdenken der Reiseaktivitäten könnte auch einen neuen Fokus bedeuten. Kann bei dem ganzen Reiseaufwand nicht auch künstlerisch was rumkommen? Statt in fünf Tagen an vier Orten Brahms zu spielen: mehr Residenzen, langfristige Kooperationen, gemeinsame Projekte mit lokalen Ensembles, Austausch mit der dortigen Komponist*innenszene. Tatsächlich könnte Kultur ja ein guter Kontaktpunkt für Austausch sein. Das hieße allerdings, bisherige Pfadabhängigkeiten zu verlassen. Statt Planung von der Stange mehr Mut zum Risiko und Experiment. Statt der Zugabe mit Lokalkolorit als Höflichkeitsgeste mehr echt Neugierde dafür, was vor Ort so los ist. Dabei könnten dann fürs Tagebuch unter Garantie auch noch bessere Geschichten und noch schönere Bilder entstehen. ¶
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