Der Musikwissenschaftler Björn Gottstein war Vorstandsvorsitzender der Initiative Neue Musik Berlin, Organisator und Kurator zahlreicher Neue-Musik-Projekte, Redakteur für Neue Musik beim SWR in Stuttgart und von 2015 bis 2022 Künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage. Aktuell ist er Sekretär des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung, die im schweizerischen Zug ihren Hauptsitz hat. 2023 feierte die Stiftung ihr 50-jähriges Bestehen. Anlass, mit Björn Gottstein zu sprechen, der in den Münchner Büroräumen der Stiftung arbeitet.

Björn Gottstein • Foto © Ernst von Siemens Musikstiftung/Stefanie Loos

VAN: Die Ernst von Siemens Musikstiftung, gegründet durch den Enkel des Unternehmensgründers Werner von Siemens, vergibt jedes Jahr den mit 250.000 Euro dotierten Ernst von Siemens Musikpreis – und zusätzlich Förderpreise an Komponist:innen und Neue-Musik-Ensembles. Geht es Musiker:innen wie Anne-Sophie Mutter, Wolfgang Rihm oder zuletzt George Benjamin tatsächlich finanziell so schlecht, dass diese auf die 250.000 Euro angewiesen sind?

Björn Gottstein: [lacht] Der Preis ist ja nicht dazu da, dass die Künstler:innen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie können mit dem Geld machen, was sie wollen. Aber in der Regel fließt das Geld doch künstlerischen Zwecken zu. Und nicht selten ist das Geld auch gespendet oder in die Unterstützung des Nachwuchses investiert worden. Die Verwendung des Geldes ist zwar vollkommen frei, aber es gibt viele Beispiele, wo das Geld wohltätigen Zwecken zugeflossen ist, eben weil die Künstler:innen schon so arriviert und berühmt und auf das Geld nicht unbedingt angewiesen sind.

Versiegt so eine Quelle wie die der Ernst von Siemens Musikstiftung eigentlich irgendwann? Oder ist das Stiftungsvermögen so groß, dass das Geld im Grunde selbst ›arbeitet‹?

Wir haben ein sehr kompetentes Anlage-Komitee. Und das, was Ernst von Siemens in Form von Siemens-Aktien im Jahre 1972 angelegt hat, ist sehr gut verwaltetet worden, ja. Das heißt: Wir zehren nicht von unserer Substanz, sondern wir können von den Erträgen, die wir haben, tatsächlich alles, was wir bezahlen müssen, bezahlen. Die Quelle wird, wenn es so weitergeht wie jetzt, nie versiegen.

Unter den fünfzig bisher mit dem Hauptpreis Ausgezeichneten gibt es nur vier Frauen: Anne-Sophie Mutter (2008) und dann erst in den letzten Jahren Rebecca Saunders (2019), Tabea Zimmermann (2020) und Olga Neuwirth (2022). Inwiefern halten Sie es diesbezüglich für möglich, dass auch mal eine Überraschungskandidatin gewinnt, die vielleicht etwas interdisziplinärer arbeitet, wie beispielsweise Meredith Monk? Sie schwimmen doch ziemlich im eigenen Saft …

Ich verfolge ja jetzt seit einigen Jahren die Diskussionen um die Preisträger:innen. [zögert] Es gibt einen großen Pool an Möglichkeiten, der da ist und der auch ernsthaft diskutiert wird. Von außen versucht man, aus den Preisträger-Entscheidungen der letzten Jahre eine Art Bild abzuleiten. Aber eigentlich müsste man erkennen, wie breit das gedacht ist. Das kann man aber nicht, weil die Diskussion über die Kandidat:innen, die vielleicht auch mal Musiker:innen aus der Alten Musik berücksichtigt, intern bleiben muss. Wenn sich die Diskussion im Kuratorium auf ein, zwei Kandidat:innen zuspitzt und am Ende kommen dann George Benjamin, Olga Neuwirth oder Georges Aperghis heraus, dann ist das eben das, womit man sich in der Öffentlichkeit zeigt. Ich verstehe auch, dass die Stiftung und die Bedeutung der Stiftung an dieser Reihe der Preisträger:innen gemessen werden. Das ist auch richtig so. Ich kann nur aus der eigenen Erfahrung sagen: Das Fundament dessen ist viel breiter, viel vielschichtiger und komplexer, als es nach außen manchmal wirkt. Und Überraschungen sind immer möglich.

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Frames Percussion, Förderpreis Ensemble 2024 der Ernst von Siemens Musikstiftung

Sind Sie denn selbst in der Neuen-Musik-Szene entdeckerisch unterwegs? Besuchen Sie etwa die Hochschulkonzerte von Kompositionsklassen?

Ich entscheide ja nicht, wer die Preise bekommt. Das entscheidet das Kuratorium. Da gibt es dann Vorschläge und Diskussionen. Und im Kuratorium sind viele Leute, die sehr nah an der Praxis sind, die entweder auch unterrichten, wie beispielsweise Isabel Mundry, oder die, wie Enno Poppe, auch Werke von vielen jungen Komponist:innen dirigieren. Da kommt auch ein gutes Wissen zusammen. Ich selbst reise immer noch recht viel. Aber ich bin nicht mehr der Uraufführungs-Junkie, der ich mal war. Das musste ich als Leiter des ECLAT-Festivals und der Donaueschinger Musiktage sein. Da war das wichtig, zu gucken: Was ist wirklich jetzt gerade aktuell? Und jetzt ist es eine etwas breitere Perspektive, die ich einnehme und dafür bin ich, im Vergleich zu meinen Zeiten als Festivalleiter, einen Schritt zurückgetreten.

Und dann schaut man natürlich trotzdem, welche Ensembles spielen wie? Es sind ja sehr viele Faktoren im Musikleben, die das konstituieren, was es selbst ausmacht. Zu den Hochschulkonzerten, die Sie angesprochen haben: Ich gehe schon manchmal in ein Hochschulkonzert. Da zwinge ich mich aber nicht zu, das passiert einfach. Und ich bin jetzt auch in den Hochschulrat einer Musikhochschule gewählt worden . Und muss gestehen, dass das, was man da lernt – wie eine Hochschule von innen funktioniert, wie sie auch in die Stadt hineinwirkt, beispielsweise in der Zusammenarbeit von Musikhochschule und Musikschule – unglaublich lehrreich ist. An den Hochschulen wird natürlich auch nach Talenten gesucht. Aber letztlich ist es nicht meine Aufgabe, den neuen Wolfgang Rihm zu entdecken.

Ich stelle mir Ihren beruflichen Weg so vor: Sie kommen eigentlich aus dem ›Underground‹, aus der Neuen Musik, aus den staubigen Kellern der Avantgardeszene, wie man sie noch zu Beginn der 2000er-Jahre beispielsweise in Berlin besuchen konnte. Und jetzt arbeiten Sie bei der wohlbestallten Ernst von Siemens Musikstiftung. Was macht das mit Ihnen?

Den Weg, den Sie beschreiben, vom Berliner Hinterzimmer in die Isarphilharmonie, wo wir im September eines der ›räsonanz — Stifterkonzerte‹ mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern hatten … diesen Weg kann ich, so wie Sie ihn beschreiben, durchaus bestätigen. Es wäre, glaube ich, naiv zu behaupten, dass das nichts mit einem macht. Sagen wir es einmal so: Es ist im Laufe meiner beruflichen Jahre eine große Wertschätzung für all diese Ebenen im Musikleben entstanden. Und es ist wichtig, dass die Berliner Philharmoniker mit Petrenko Iannis Xenakis und Márton Illés spielen, wie ein Konzert in der Kölner Feuerwache ebenso wichtig ist, mit einem kleinen Publikum und einem vielleicht experimentelleren Programm, das wir auch unterstützen. Das Schöne ist, dass im Moment alle Bereiche in meinem Leben vorkommen. Und ob es mich verändert hat, das müssen andere beurteilen. Ich fühle mich auf jeden Fall sehr wohl, mit den Möglichkeiten, die die Stiftung hat, auf allen Ebenen des Musiklebens, unterstützend und helfend tätig zu sein.

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In einem Fußball-Podcast, den ich höre, wurde neulich ein Spieler, der bei Schalke wie bei Tottenham Hotspur wie beim HSV gespielt hat, gefragt, wo denn seine ›eigentlichen Wurzeln‹ seien, sein ‹eigentliches Herz‹ schlage. Auf die Frage nannte er dann quasi seinen Heimatverein, Alemannia Aachen.

Welcher Spieler war das denn?

Lewis Holtby.

Ich bin ja gebürtiger Aachener. Und ich kann Ihnen sagen: Für den Tivoli gibt es keinen Ersatz! Das waren meine ersten Fußballspiele. Die Fans von Alemannia Aachen sind einzigartig.

Und übertragen auf die Musik? Wofür schlägt Ihr ›eigentliches Herz‹?

In mir schlägt immer noch ein Herz für das Unfertige, das Experimentelle, das Ausprobieren. Weil man das Gefühl hat, da sind unglaublich schöne Gedanken, tolle Denker und verrückte Künstler:innen am Werk. Und die brauchen geschützte Räume, in denen sie ausprobieren können. Natürlich habe ich persönlich immer noch eine große Affinität zu dieser Form von künstlerischer Arbeit.

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›EVERYTHING, ALWAYS‹ für Streichorchester und Tonband von Sara Glojnarić, Förderpreis Komposition 2023 der Ernst von Siemens Musikstiftung

Die Förderpreise, die Ihre Stiftung vergibt, helfen, das steht außer Frage, den jungen Künstler:innen. Das gibt eine gewisse Sicherheit. Was brauchen aber Künstler:innen darüber hinaus, wenn wir uns ganz realistisch die heutigen Bedingungen des ›Marktes‹ anschauen?

Das ist ja ein Preis, den man in einem bestimmten Abschnitt seiner künstlerischen Karriere bekommt. Den erhält man, wenn man nicht mehr Bestätigung braucht oder ermutigt werden muss, seinen Weg zu gehen. Mit dem Preis ist ja beispielsweise eine CD-Produktion verbunden, professionelle Fotos und so weiter. Das sind Dinge, die einem helfen, sein professionelles Künstlerleben einzurichten. Ich glaube, das ist das Entscheidende an dem Preis. Also: Wie machen wir die jungen Komponist:innen sichtbar? Sie bekommen Aufmerksamkeit, strukturelle Hilfe – zum Teil fördern wir auch die CD-Aufnahmen selbst. Wir lizensieren nicht nur, sondern treten auch als Produzent in Erscheinung. Und das sind Dinge, die den Künstler:innen sehr gut tun in dem Augenblick. Was noch jüngere Komponist:innen dann bräuchten, das liegt nicht in unserer Hand. Viel entscheidender ist, in Bezug auf junge Komponist:innen, der Umgang mit den Lehrerinnen und Lehrern. Was die denen beibringen, aber auch was sie im Gespräch mit Kolleg:innen lernen. Das können wir als Stiftung natürlich nicht leisten.

Spüren Sie so etwas wie eine ›Krise der E-Musik‹?

Ich sehe eigentlich keine Krise, weil ich unglaublich viele gelungene, gute, glückliche Momente im Kontext Neuer Musik erlebe. Ich hatte gerade schon das Konzert mit Petrenko und den Berliner Philharmonikern angesprochen. Das war hier in der Isarphilharmonie ausverkauft, mit 1.800 Besuchern. Die standen bei jedem der vier Werke Kopf, obwohl es keine einfache Musik war. Und trotzdem wurde die Musik gefeiert, wie man früher vielleicht nur Bruckners vierte Symphonie gefeiert hat. Wenn man das erlebt und dann sagt: ›Wir sind in einer Krise!‹, dann muss ich sagen: Wenn es eine Krise gibt, dann liegt die vielleicht woanders. Was man schon feststellt, ist, dass es Auflösungserscheinungen gibt. Aber das ist auch kein Phänomen des letzten Jahres oder der letzten drei Jahre. Ich würde sagen, im ganzen 20. Jahrhundert ist die Neue Musik von Grenzüberschreitungen, Auflösungserscheinungen, Aufweichungen der Begrifflichkeiten betroffen gewesen. Das ist aber keine Krise. Das ist ein Verwandlungsprozess, in der die Neue Musik steckt. Das ist eigentlich ein ganz toller Prozess. Und dabei ist viel tolle Musik entstanden.

Früher sprach man ja im Hinblick auf die Neue Musik von so etwas wie ›der Angriffslust der Dissonanz‹. Patrick Hahn vom WDR, der neue Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik, schrieb kürzlich auf seiner Facebook-Seite über die Donaueschinger Musiktage 2023 etwas, was mich angenehm überrascht und gleichzeitig irritiert hat: ›Unsere Welt hat viele Wunden. Die Schatten der gegenwärtigen und andauernden Krisen liegen auch im goldenen Herbst über den Musiktagen. Wer nun – was nicht unverständlich wäre – erwartete, dass Musik, die in dieser Zeit entsteht, schreit, wütet, protestiert, der wird auch am zweiten Tag der Donaueschinger Musiktage überrascht gewesen sein, mit wie leiser Stimme die hier vorgestellte Musik unserer Zeit spricht. Sie artikuliert ihren Einspruch gleichsam inwendig. Ihre Stachel hat sie eingetauscht gegen sanfte Drones, zarte Klangfelder, einlullende Harmonien.‹ Was denken Sie über diese Beschreibung?

Lassen wir mal so etwas wie ›die Angriffslust der Dissonanz‹ dahingestellt. Ich habe auch relativ viele Gespräche darüber in Donaueschingen geführt, dass die Werke dieses Jahrgangs sehr stark aus einer zurückgezogenen Position geschrieben wurden. Und das habe ich in den Jahren davor auch schon beobachtet; diese Rückzugspositionen, die eingenommen werden … Nehmen wir ein Stück von den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen wie das von Joanna Bailie. Ihr Werk 1979 arbeitet sehr stark mit dem Thema ›Melancholie‹ und ›Hörerfahrungen in der Kindheit‹. Privater geht es kaum noch. Und da fragt man sich manchmal: Da toben draußen die Kriege in der Welt, die Welt ist gespalten in politische Lager, wie kannst du unter diesen Umständen ein Stück über Blondies Heart of Glass komponieren? Vielleicht ist das eine Art von ›Schutzbewegung‹, die man vollzieht. Weil man das Gefühl hat, man kann in diese Konflikte vielleicht gar nicht mehr künstlerisch hineinwirken. Das weiß ich aber nicht, das müsste man die Komponist:innen fragen. Mir ist aber noch etwas anderes aufgefallen dazu. Und zwar habe ich mich gefragt: Es wird in anderen Bereichen – und im Bereich Neue Musik nicht so sehr – über die Bedeutung von KI gesprochen. Und: Können Künstler:innen durch KI ersetzt werden? Ich habe manchmal das Gefühl, dass auch so eine Selbstbefragung oder die Behauptung dessen, was nur ich kann, was mich unersetzbar macht, mit dazu führt, dass wir eventuell eine sanftere, lyrischere Musik, wie es Patrick Hahn beschreibt, bekommen. Eine Musik, die aus der persönlichen Position heraus sich gegenüber einer Maschine behauptet, die eben die letzten genetischen, sozialen Einzigartigkeitserfahrungen nicht gemacht hat. Das ist aber vielleicht eine etwas spekulative These, zu der Sie mich jetzt verleitet haben. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.