Auf dem Zoom-Monitor wirkt er anders als auf den Fotos. Aber auch die Fotos, nicht nur wegen seiner etwas ausgefallenen Frisur, geben ein immer wieder verschiedenes Bild von Enno Poppe. Er geht mit dem Gesicht nah an das Kameraauge heran. Es wirkt knochiger und schwerer als erwartet, wie jemand, den man für jünger gehalten hat, der aber zugleich überhaupt nicht alt aussieht. Die Stimme kann die kompliziertesten Dinge sagen, sie behält den lockeren Ton, das unangestrengte Parlando eines wie Unbeteiligten. Enno Poppe ist ein Phänomen. Und ein phänomenaler Musiker.
VAN: Treiben Sie eigentlich Sport?
Enno Poppe: Nö, ich bin eigentlich nicht sehr sportlich. Ich spiele jeden Tag Klavier, das ist es dann auch schon. Im Übrigen: Dirigieren ist eigentlich auch sportlich. Wenn ich viel dirigiere, habe ich überhaupt keine Rückenprobleme. Man kann beim Dirigieren mit dem Oberkörper unheimlich gesunde Bewegungen machen, Dirigieren ist echt gut für die Gesundheit.
Ihr Vater war Musik- und Mathematiklehrer, das heißt, Sie haben früh angefangen mit der Musik?
Ich komme aus einem musikalischen Elternhaus. Ich habe früh mit dem Klavier angefangen, sehr früh auch mit Komponieren, da war ich ungefähr zehn. Aber nicht auf elterlichen Druck hin. Das Elternhaus war einfach voller Musik, es gab Partituren und Schallplatten. Dass sie mich ins Konzert mitgenommen haben, war für mich das Normalste von der Welt.
Und sonst war bis zehn alles wie bei anderen Kindern?
Absolut.
Ein Wunderkind waren sie nicht?
Würde ich nicht sagen. Ich habe einfach meins gemacht, so für mich. Zum Wunderkind gehört immer eine Vermarktungsstrategie. Ein Wunderkind ist ja eigentlich immer erst eines, wenn es sichtbar wird, wenn also der Kulturbetrieb es zum Wunderkind macht, das war bei mir nicht der Fall.
Aber sie haben relativ früh von sich reden gemacht?
Es gibt diesen Wettbewerb Jugend komponiert, da bin ich recht oft gewesen, oft auch als Preisträger.
Könnte man sagen, Sie haben sich der Musik von Anfang an weniger vom Quintenzirkel her genähert, als mehr aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive?
Würde ich jetzt eher nicht so sehen. Als ich mit dem Komponieren anfing, habe ich Avantgardemusik geschrieben, im Stil von John Cage, also eigentlich das, was zunächst mal am einfachsten war. Es ist ja meistens so: Man imitiert Dinge, und nichts ist leichter zu imitieren als John Cage, weil das leicht verständlich und jedem zugänglich ist, damit ging es los.
Wie ging es weiter?
Mit meinem Bedürfnis, mich mit der Musik der Tradition zu beschäftigen. Ich habe dann wirklich Sonatensätze geschrieben, tonale Musik, ich habe mich so richtig durch die Musikgeschichte durchgearbeitet, also von Prokofjeff über Strawinsky, Schönberg, Berg, Webern, Bartók bis hin zu Nono und Lachenmann. Als ich anfing, Komposition zu studieren, hatte ich das alles durch. Als ich dann an die Uni kam, war das alles schon da. Ich habe mich mit der Musik der Geschichte beschäftigt, habe mir die traditionellen handwerklichen Verfahrensweisen angeeignet. Alles ohne Lehrer, wirklich komplett autodidaktisch mit Hilfe von Partituren und Büchern.
Wie kamen Sie dazu?
Mir ist vieles definitiv leichtgefallen. Aber ich fand es auch einfach toll. Ich habe ziemlich viel Zeit hineingesteckt, viel mehr als ins Klavierüben. Von der Naturwissenschaft komme ich eigentlich nicht. Darauf bin ich erst im Rahmen der Suche nach allem gestoßen, was für mich interessant sein könnte, was mir einen musikalischen Input verschafft. Ich fand es spannend, mich mit den unterschiedlichsten Dingen zu befassen, mit Literatur, Film, bildender Kunst, ich bin viel verreist. Und dann habe ich mich eben auch mit Naturwissenschaft beschäftigt. Ein breiter Horizont ist eigentlich immer gut, wenn man als Künstler arbeitet.
Da waren Sie als Jugendlicher gut beschäftigt.
Na ja, Dinge wie Mathematik, für die ich mich stark interessiert habe, und Systemtheorie wurden mir erst im Rahmen meines Studiums zugänglich. Aber ich würde vorsichtig sein, zu sagen, ich habe mich mit Naturwissenschaften beschäftigt und deshalb ist meine Musik so und so. Die Vielfalt ist wichtig. Ich setze keine Theorie in Musik um. Ich nehme auch nicht etwas Festes, das ich von woanders habe, und schreibe dann irgendwie eine Sinfonie dazu, so wie Richard Strauss eine Alpensinfonie geschrieben hat, weil er in den Bergen spazieren gegangen ist, so arbeite ich eigentlich gar nicht.
Wie machen Sie es?
Ich möchte die Elementarteilchen der Musik verstehen, möchte per Analyse an die kleinsten Bausteine herankommen. Wie klein kann ich den Blickwinkel machen mit einem Mikroskop und immer noch näher herangehen bis zu den Atomen? Wie kann ich mit Hilfe von Atomen eine neue Art von Zusammenhang herstellen, indem ich nicht von den traditionellen, einen Zusammenhang stiftenden Dingen ausgehe: Melodik, Harmonik und so weiter, sondern indem ich, quasi aus den Atomen, die Musik neu zusammensetze. Dabei hat mir tatsächlich eine ganze Menge naturwissenschaftlicher Lektüren geholfen. Zum Beispiel übers Pflanzenwachstum. Die genetischen Bausteine sind einfach zu bestimmen, wie eine Pflanze wächst, wie aus einfachsten Wachstumsregeln ganz komplexe Gebilde entstehen. Auch das ist etwas, was ich nicht eins zu eins auf die Musik übertrage, ich kann so aber mit Hilfe von Wachstumsregeln auch an musikalischen Atomen beobachten, wie Musik anfängt, zu blühen, wie sie als Organismus betrachtet werden kann. Meine kompositorische Arbeit hat damit also immer auch etwas mit Beobachtung zu tun.
Die Beobachtung wäre das wissenschaftliche Moment.
Mein Gefühl ist natürlich, ich schreibe das alles selbst hin, ich bin nicht passiv, ich bin ein tätiger Beobachter, weil ich Künstler bin. Aber wie ich mit den Dingen umgehe, wie sich die Prozesse in der Musik entfalten, dafür brauche ich immer auch eine Beobachtungsgabe.

Sie lassen sich als Künstler von der Naturwissenschaft inspirieren, Sie nutzen die wissenschaftliche Methodik für die Musik?
Ich würde einfach sagen, meine Leitidee ist, dass Musik etwas Organisches ist und Prozessen unterliegt. Musik findet in der Zeit statt, darin unterscheidet sie sich von anderen Kunstformen. In der Zeit laufen Prozesse ab, organische Prozesse, die in der Musik komplett frei sind. Die verschiedensten Dinge können sich entwickeln. Das muss nicht unbedingt von wenig zu viel gehen oder von dicht zu weiträumig, es gibt auch Verfallsprozesse oder ihr Gegenteil. Über solche Prozesse denke ich nach, ich versuche, sie zu steuern, für mich eine zusammenhangbildende Methode. Musik hat immer mit Kommunikation zu tun. Das ist vielleicht anders als mit einer Pflanze, die kommuniziert nicht mit mir …
Wissen wir’s?
[lacht] Musik ist Kommunikation. Das heißt, ich wünsche mir Zwiesprache, ich möchte etwas mitteilen, nein, mitteilen ist ein doofes Wort – ich möchte meine Hörer nicht verlieren, sie sollen an meiner Seite bleiben, ich möchte sie an der Hand durch mein Stück führen. Darum haben die Prozesse, von denen ich vorhin sprach, viel mit Wahrnehmung zu tun und nichts mit Mathematik oder Naturwissenschaft. Es handelt sich um etwas, das mittels Wahrnehmung erfunden wird, weil es dabei um künstlerische Entscheidungen geht. Es kann natürlich leicht passieren, dass ich viel von der Musik wegwerfe, denn diese Prozesse ergeben oft irgendwann nur noch Strickmuster, es wiederholt sich und wird uninteressant. Wie also kriege ich hin, dass ein Prozess abläuft, der die ganze Zeit interessant bleibt? Indem ich mir – Musik ist Kommunikation – meinen Hörer vorstelle, der sich die Musik anhört.
Das klingt für mich nach Dramaturgie, gehen Sie dramaturgisch vor?
Ich habe eine Art Gespür. Es gibt diesen Begriff ›Formgefühl‹ . Ich kann die Musik innen hören, das heißt, bevor ich etwas hinschreibe, habe ich es schon im Kopf. Beim Schreiben entfaltet sich das dann weiter. Ich versuche, mich dabei oft auch selbst zu überraschen. Manchmal entstehen im Verlauf solcher Prozesse sehr unterschiedliche Dinge, von denen ich vorher überhaupt nichts ahnte.
Haben Sie ein Beispiel?
Das Stück Stoff von der letzten CD mit dem Ensemble Resonanz.
Da gab es eine ziemlich rigide Vorstrukturierung, die mir ermöglichte, eine große Vielfalt der verschiedensten Details dort reinzuschmeißen. Diese Vorstrukturierung erwies sich als so stabil, dass alle Details erstaunlich gut zusammenpassten, das heißt: Ein stabiler Prozess kann stabil bleiben, auch wenn ich ihn mit den unterschiedlichsten Details füttere. Im Stück Wald war es umgekehrt. Da gab es diese Art von großformatiger dramaturgischer Planung eigentlich nicht.
Ich habe immer wieder auseinandergeschnitten, umgestellt, anders zusammengebaut, bis die Musik sich im Lauf des Schreibens am Ende zu dem fügte, was sie nun ist. In diesem Fall also weniger eine geplante Dramaturgie als eine, die wirklich komplett aus meinen Überprüfungen entstanden ist. Ich höre es mir so lange im Kopf an, bis es stimmt.
Das eine Mal ergibt sich die Dramaturgie, mit ihr die Form qua Formgefühl erst im Lauf des Schreibens. Das andere Mal hat sich die anfangs fertige Grundidee gegen Ihre vielen, spontan in der Arbeit entstehenden Einfälle zu bewähren?
Es gibt diese schönen Begriffe top down und bottom up. Einmal ist das Stück quasi von oben geplant, ich kann es im Inneren immer mehr verfeinern und verästeln, der Gesamtzusammenhang bleibt trotzdem stabil. So war es beim Stück Stoff. Bei Wald ging es bottom up: Da kommt es von unten, alle Einzelheiten sind genau ausgearbeitet, die endgültige Form entsteht erst im Lauf der Arbeit.
Auf der Suche nach mir geläufigen Begriffen für Ihre Musik fiel mir zuerst das Wort ›Linien‹ ein.
Wie wichtig Linien als Grundbedingung sind, kann man gut in Stoff hören, wo die Musik mit den unterschiedlichen Bausteinen, den Punkten, Linien, Akkorden und Motiven, aus denen sie entsteht, produktiv umgeht. So etwas interessiert mich, weil mich Grundbedingungen interessieren. Es ist natürlich auch ein Angebot an die Hörer. Die können sich an solchen Entstehungsprozessen festhalten, sie können etwas wiedererkennen. Nur durch Wiedererkennbarkeit sind die Prozesse überhaupt erfassbar, sonst würde ja alles im Ungefähren bleiben.
Wiedererkennbarkeit und Wiederholung sind zwei archaische Parameter der Musik – was fangen Sie damit an?
Musik fließt und geht immer weiter. Im Anfang des Bratschenkonzerts haben Sie – ich verwende das Wort ›Variationen‹ ungern, ich spreche lieber von – Varianten. Für mich ist das Variieren eine der Grundbedingungen des Komponierens. Ich kann alles variieren, jeden Bestandteil der Musik einzeln oder den ganzen Zusammenhang. Gleich – ähnlich – verschieden – das sind für mich Differenzierungen, mit denen ich, unabhängig vom Material, eigentlich immer arbeite.
Fürs bessere Verständnis von Musik hilft mir oft der Vergleich einer Musik mit einem Maler, zum Beispiel Brahms‘ mit Courbet oder Schönbergs mit Kandinsky. Gibt es einen Maler, in dessen Arbeit Sie etwas in Ihrer Musik wiederfinden?
Da fällt mir spontan niemand ein. Ich weiß auch nicht, ob der Brahms, wenn Sie ihn gefragt hätten, Courbet genannt hätte.
Ihnen leuchtet keine solche Paarung ein?
Ich bin nicht so der visuelle Typ. Ich liebe es zwar, mir Kunst anzuschauen, ich bin aber von bildender Kunst viel weniger inspiriert als etwa von Literatur. Absolut interessant für mich ist, wie literarische Formen gebaut werden. Der Roman etwa ist keine Kunstform in dem Sinn wie die Sonatenform. Jeder Roman kann eine andere Lösung für ein Formproblem anbieten, er bleibt Roman, die Frage nach der Großform hat mich immer fasziniert.
Die Inhalte interessieren Sie weniger, Sie schauen mehr auf die Formen. Gibt es in der Musik, wie in der Literatur, Inhalte?
Die gibt es. Aber andere. Die Inhalte der Musik sind nicht identisch mit dem, was man ihnen sprachlich beimisst. Musik hat schon darum einen Inhalt, weil sie ausdruckhaft ist. Den Ausdruck würde man jetzt aber nicht unbedingt in Worte übersetzen. Das Unbegriffliche in der Musik ist das Faszinierende. Deshalb zögere ich, zu sagen, die Musik drückt das und das aus. Einen Ausdruck gestalten und ganz in der Nähe zur gleichen Zeit einen oder mehrere ähnliche Ausdrücke, kann die Literatur vielleicht auf 4.000 Seiten Proust. Die Musik kann es auf einer Seite.
Wenn Sie in der Musik den Ausdruck von, sagen wir, Heftigkeit haben, kann sie zum Inhalt Zorn haben oder Triumph, der Bezug ist unklar.
Find ich nicht. Zorn hat einen anderen Ausdruck als Triumph. Sogar einen Übergang von Zorn nach Triumph mit allen Zwischenbewegungen kann man sich in der Musik sofort vorstellen. Wir haben keine Wörter, aber wir haben die Klänge, die Töne dafür. Wenn man sagt: ›Das drückt jetzt Zorn aus‹, kommt man nicht weiter, man verkürzt die Sache nur.
Benutzen Sie, um ein Beispiel zu nennen, für die in Filz dominierende Bewegungsform der Musik noch Begriffe wie ›Glissandi‹?
Beim Sprechen über Musik gibt es einen Mangel, ein begrenztes Repertoire an Worten. Und es gibt das traditionelle Vokabular, mit dem über Musik gesprochen wird. Ich kann etwas damit anfangen. Zum Beispiel mit motivisch-thematischer Arbeit. Die hat direkt etwas mit Haydn, Mozart, Beethoven zu tun, aber ich mache das völlig anders. Weil es nun allerdings nicht genug Begriffe gibt, ist es irgendwie auch wieder schön, so einen Begriff, der im 18. Jahrhundert geprägt wurde, gewissermaßen zu kapern und zu sagen, das mache ich auch, nur auf meine Weise. Den Begriff Melodie beispielsweise finde ich super, ich arbeite mit Motiven, mit Linien, mit Punkten und Kontrapunkten – nur eben anders. Die Gefahr dabei: Wenn ich sage, ich schreibe Kontrapunkt, heißt es sofort, ich bin stockkonservativ. Aber es ging mir nicht darum, konservativ zu sein. Es ging darum, dass ich etwas, das historisch enorm viel geleistet hat, eine Technik und eine Fülle, die enorm viel kann, für mich nutzbar mache, sie mir aneigne und in etwas anderes verwandele.
Aus den Medien ist zu erfahren, dass in Ihren Konzerten erstaunlich viele junge Leute zu sehen sind. Ist da ein positiver Trend erkennbar?
Ich glaube, das Interesse an neuer Musik ist riesengroß, aber es gibt unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Jungen Leuten etwa, die viel Clubmusik hören und nicht unbedingt ein Bedürfnis nach Tonalität haben, kommt Musik außerhalb von Tonsystemen entgegen. Sie finden es zugleich schwierig, im klassischen Konzert die ganze Zeit auf einem Stuhl stillzusitzen. Sie finden es seltsam, dass die Leute auf der Bühne einen schwarzen Anzug anhaben. Der traditionelle Habitus eines klassischen Konzerts ist für junge Menschen oft viel schwerer zu verstehen als die Musik selbst, die ja wild, gefährlich, experimentell und verrückt ist und ihnen also echt etwas zu bieten hat.
Auch in der Präsentation gehen Sie neue Wege?
In unseren Konzerten mit dem Ensemble Mosaik in Berlin in der Kulturbrauerei ist eine Bar im Saal, man kommt mit dem Publikum ins Gespräch. Es gibt ›das‹ Publikum einfach nicht. Es gibt eine ungemein ausdifferenzierte Szene von Menschen. Es gibt Stücke von mir, die im Internet tausende Male geklickt wurden und ich habe keine Ahnung, wer das ist, der das hört, das muss ich auch nicht wissen. Die Vielfalt im Publikum ist mir eigentlich genauso wichtig wie die Vielfalt in der Musik.
Beethoven sprach einmal von ›neuen Wegen‹, die er gehen wolle. Haben Sie das Gefühl, Sie gehen neue Wege?
Ja, klar.
Das wäre nicht übertrieben?
Nö. Davon, dass ich neue Wege gehe, bin ich absolut überzeugt, sonst würde ich das Ganze nicht machen. Ich interessiere mich ja gerade so sehr für die Grundbedingungen dessen, was ich mache, weil ich über die Wege Bescheid wissen und die Wegekarten neu schreiben möchte.
Es gibt allerdings Leute, die sagen, es wäre alles schon mal dagewesen, es wiederhole sich alles.
Ein Zeichen von Fantasielosigkeit. Das kann eigentlich nur sagen, wem noch nicht aufgefallen ist, dass das nicht stimmen kann. Die Menschheit verändert sich ohne Ende, und die menschliche Kreativität ist unbegrenzt. Solange Menschen auf der Welt herumlaufen, wird es auch neue Musik geben.
Als ich Filz zum ersten Mal hörte, fühlte ich mich in der Ratlosigkeit meiner Begeisterung an Jimi Hendrix’ Star Sprankled Banner erinnert.
Ist mir recht. Ich höre mir ja alle möglichen Arten von Musik an, ich bin ein kompletter Musiknerd. Und ich bin natürlich, das hören Sie in Filz besonders deutlich, von arabischer Musik beeinflusst. Dieses Melisma und auch dieses Rutschen, was auch in Wald wichtig ist, also das Verlassen des festen Tonorts, und das Mehrere-Knöpfe-Drücken wie auf dem Klavier hängt alles sehr stark mit außereuropäischer Musik zusammen. Das ist aber nur eine von den Schichten. Was mich interessiert hat, ist, dass aus diesem Rutschen, diesem Verlassen fester Tonorte vor allem auch neue Akkorde entstehen. Vor allem in Wald ist das ganze Stück davon geprägt, dass es eigentlich keinen einzigen Akkord gibt, der einem bekannt vorkommt. Und das liegt daran, dass die Idee der Harmonik praktisch neu gedacht ist und zwar mit Hilfe des Rutschens – die Harmonik gerät in Bewegung, die Akkorde ins Fliegen. Ein normaler Klavierakkord wäre da ein absoluter Sonderfall, fast ein Störeffekt, weil alles immer in Bewegung ist. Das ist glaube ich so eine Art dreidimensionaler Harmonik, die ich wohl in gewisser Weise erfunden habe.
Harmonik ist auch schon wieder so ein Wort, das mir für Ihre Musik nicht über die Lippen will. Auch das Wort Akkord entspricht nicht dem, was ich in Stücken wie Filz oft zu hören meine.
Da sind wir wieder beim Ausdruck. Denn einerseits sind die Akkorde bei mir nicht wie ›normale‹ Akkorde. Man fragt sich unwillkürlich, spielen die falsch? In diesem Falsch-richtig entfaltet sich ein Ausdrucksbereich. Den erschließe ich mir mit meiner Art Akkorde, eine Vielzahl differenter Momente entsteht. Ich bin darauf als Student in Proben gekommen, als die Musiker ›falsch‹ gespielt haben. So etwas hat mich immer fasziniert. Was passiert, fragte ich mich, wenn ich vom ›Falsch-Spielen‹ der Musiker ausgehe und es als richtig definiere? Das sind inspirierende Momente.
Sie sind ziemlich umstürzlerisch.
Eigentlich nicht. Ich bin nur neugierig, ich bin absolut positiv. Früher war neue Musik immer negativ. Man musste gegen alles sein und möglichst viel abschaffen. Das ist mir alles ziemlich fremd. Ich bin neugierig und optimistisch und voller Vergnügen dabei, wenn ich falsche Töne hinschreibe.
Sie schaffen nichts ab. Sie lassen es hinter sich und gehen in eine andere Gegend.
So ist es. ¶