Die Proteste der Studentinnen und Studenten im Jahr 1968 verliefen in Österreich viel ruhiger als in anderen Ländern. Und in Graz, der Hauptstadt des Bundeslandes Steiermark, war auch musikalisch »tote Hose«. Heute ist beispielsweise die Oper Graz ein Haus mit vergleichsweise avantgardistischen Ambitionen. Und der Name einer komponierenden »Tochter der Stadt« ist im Grunde jedem Menschen geläufig, der sich mal ein wenig intensiver mit Neuer Musik, insbesondere mit Neuem Musiktheater beschäftigt hat: Olga Neuwirth, geboren am 4. August 1968 – in Graz.
Laut Eigenauskunft studierte Neuwirth in Wien und San Francisco. Während des Aufenthalts in den USA betrieb sie auch Studien in Malerei und Film. Privat ließ sie sich von Adriana Hölszky, Luigi Nono und Tristan Murail unterrichten. 1991, Neuwirth war 22 Jahre alt, wurde die internationale Neue-Musik-Szene auf die Komponistin aufmerksam, als zwei Mini-Opern auf Texte von Elfriede Jelinek von ihr bei den Wiener Festwochen aufgeführt wurden. 1998 widmeten sich die Salzburger Festspiele Neuwirths Musik in zwei Porträtkonzerten. 1999 konnte man dann ihr erstes abendfüllendes Musiktheaterwerk Bählamms Fest (ebenfalls auf einen Jelinek-Text) bei den Wiener Festwochen erleben.
So divers wie die künstlerischen Interessen von Olga Neuwirth – mit multiperspektivischem und multimedialem Blick auf Bildende Kunst, Film, Architektur, Wissenschaft, Literatur und Politik – so groß ist die Zahl der Künstlerinnen und Künstlern, die Neuwirths in aller Welt gegebenen Werke bereits bestellten, uraufführten und bekanntmachten. Pierre Boulez beispielsweise bestellte im Jahr 2000 Neuwirths Clinamen/Nodus: ein zunächst von stufenlos hinabgleitenden Streichertönen, dann von fast schon installationsartig stehenden Klängen und schließlich von schrittweise vorangehenden und dann wieder anhaltenden Stationen sowie schön staubigen Klängen geprägtes Orchesterstück. Boulez brachte die Komposition als Dirigent mit dem London Symphony Orchestra zur Uraufführung und präsentierte sie auf einer internationalen Tournee viele Male. Es reicht eben nicht, ein Werk Neuer Musik einmal in der Baarsporthalle von Donaueschingen gehört zu haben. Gerade Neue Musik lebt vom Live-Erlebnis. Bei vielen Neue-Musik-Uraufführungen handelt es sich, ist man ehrlich, um »Einmaligkeit mit Ansage«. Nicht so bei Werken von Neuwirth.
Neben Pierre Boulez zeichneten Persönlichkeiten wie Martin Grubinger, Daniel Harding und Antonie Tamestit für Neuwirtsche Uraufführungen verantwortlich. Und allein durch die noch nicht ganz zehn Musiktheaterwerke Neuwirths ist ihre Musik nun wahrlich über die Grenzen von Witten, Darmstadt, Donaueschingen hinausgelangt, denn Kompositionen fürs Musiktheater erreichen allein durch Abonnements ein viel breiteres Publikum als das Frickel-Streichquartett im überakustischen Galerie-Salon.
Olga Neuwirth (* 1968)
coronAtion V: Spraying Sounds of Hope, dished up (2020)
Wer beim Lesen des Titels von Neuwirths 2020er Stück coronAtion V: Spraying Sounds of Hope, dished up für Blechbläser und Schlagzeug (im Januar 2021 von François-Xavier Roth und dem Gürzenich-Orchester uraufgeführt) an die Pandemie denkt, der irrt nicht. coronAtion V ist der letzte Teil von Neuwirth coronAtion-Werkreihe und bezieht sich, laut Komponistin, tatsächlich auf die »Zeit während Corona«: »Ich war in der Steiermark und habe dort auf meine Mutter geschaut. Habe in dem wunderschönen Garten, den mein Großvater gepflanzt hat, gegärtnert, war viel mit meinem Hund spazieren und habe wieder mit Naturaufnahmen angefangen, was ich als Jugendliche sehr oft gemacht habe. Man hört in einigen coronAtions auf den Samples Naturgeräusche aus dem Garten. Frösche, von denen ich sehr viele Aufnahmen habe aus vor 25 Jahren, gibt es ja leider keine mehr, dafür habe ich unglaublich viele Vögel aufgenommen, die ich schon lange nicht mehr gehört habe. Für andere Stücke habe ich Freunde rund um die Welt gebeten, ›no!‹ zu sagen, als Reaktion auf die Situation.«
Man kann beim Hören von coronAtion V zunächst aber auch ganz »innermusikalische« Gedanken hegen: Nach einem fahlen Ton einer einzelnen Posaune gleitet diese, dann doch überraschend, in eine kurzzeitige Rhythmus-Situation hinein, die das synkopiert-zackige Spiel von Bigbands kennt – und gar nicht (weil: viel zu erwartbar) in typischer Neuer-Musik-Manier »verfälscht« oder umgehend zerlegt. Doch absichtlich viel zu früh öffnet sich eine pseudo-pathetische Abfolge von »Höhepunktsklängen«, die sehr gut ausgehört sind. Nach mehr als einer Minute differenziert Neuwirth dann ein heterogenes »Absinken« aus, bevor die drei Trompeten des Ensembles ein pseudo-bewegtes »Signal-Geschmetter« intonieren, das in seinem Übereinander aber sofort – und natürlich völlig intentional – zur Statik tendiert. Buntes Treiben, neue Hobbies im Lockdown – und doch die komplette Ausschaltung jeden Alltags, das auskomponierte Stoppen des Zeigers auf der Uhr.
Wie sich die Klänge und vor allem – immer auch musiktheatralisch »anfassbar« – die Situationen anschließend fortentwickeln, ist und bleibt einfach interessant. Und ziemlich witzig. ¶