Die Musik des griechisch-französischen Komponisten Georges Aperghis zeichnet vor allem ihre verblüffende, absurde und oft witzige Theatralik aus. In seinen berühmten Récitations für Sopran solo dehnen sich sinnliche Beschwörungsformeln pyramidenförmig in der Partitur und im Klang aus und ziehen sich wieder zusammen; Les guetteurs de sons für drei Schlagzeuger erfreut sich am Spiel von Klang, Bewegung und Erwartung, das durch das einfache Heben und Senken eines Arms über einer Trommel entsteht. Aber der 78-jährige Aperghis ist auch dann ein Meister von Form und Klangfarbe, wenn seine Werke keine explizit theatralischen Elemente enthalten: So klingt das Ende seines Concert pour accordéon , als würde das Soloinstrument einen Streicherakkord zudecken mit einem Schnee, der nicht von dieser Welt ist. Im Fuzzy Trio werden Fragmente des Tonmaterials aus dem Kontext gerissen, wie klassische Kunstwerke, die aus einem Museum gestohlen wurden und die man plötzlich auf einem Dachboden wiederfindet. Dazu passt auch die gleichermaßen belebende wie beißende Mischung aus gesprochenen und gesungenen Worten in der Wölfli-Kantate. Selten findet man einen Komponisten, der so produktiv und doch so immun gegen die Klischees der zeitgenössischen Musik ist.
Aperghis‘ neuestes Werk, ein Musiktheaterstück mit dem Titel Die Erdfabrik, wird vom 11. bis zum 20. August im Rahmen der Ruhrtriennale in Duisburg uraufgeführt. Mit Texten des französischen Lyrikers Jean-Christopher Bailly und Annette von Droste-Hülshoffs will das Stück die geologischen Prozesse erforschen, die der Mensch einst zu nutzen lernte und die heute unsere Existenz auf diesem Planeten bedrohen. Ich treffe Aperghis vor einer Erdfabrik-Probe in Duisburg zu einem halb auf Englisch, halb auf Französisch geführten Gespräch.
VAN: Ihr neues Werk Erdfabrik arbeitet mit Texten des Autors Jean-Christophe Bailly. Hat er Ihnen ein richtiges Libretto geschrieben?
Georges Aperghis: Nein, ich habe mit der Musik und bestimmten Bildern angefangen: Minen, Höhlen, Grotten, Tunnel. Zuerst habe ich mit den Geräuschen gearbeitet: Wassertropfen, das Klopfen kleiner Hämmerchen… Ziemlich plötzlich habe ich dann entschieden, mir jemanden zu suchen, mit dem ich zusammenarbeiten kann. Jean-Christophe kannte ich schon, und es stellte sich heraus, dass er auch schon in einigen Bergwerken war, in Frankreich, Deutschland und England. Das nötige Hintergrundwissen hatte er also.
Wir haben nie wirklich über die Form des Textes gesprochen. Aber er schrieb einiges und meinte, ich soll einfach nehmen, was ich will. Es gab keine Reihenfolge, er schrieb voneinander unabhängige Passagen und ich habe sie in der Musik verteilt. Es war nicht in sich geschlossen, kein Skript oder Libretto, es waren Vorschläge, die in die Musik eingearbeitet werden sollten.
Sie sind also für Dramaturgie und Form des Werkes verantwortlich?
Ja. In der Aufführung bestimmt die Musik alles.
Hatte der Text einen Einfluss auf die Klänge, die Sie ausgewählt haben?
Ja. Sobald die Komposition Form annahm, kamen mir Klänge in den Sinn, an die ich ohne den Text nicht gedacht hätte. Außerdem gab mir Jean-Christophe Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff, die fantastisch sind. Ich kannte sie vorher überhaupt nicht. Sie war eine Freundin von Robert und Clara Schumann. Ihre Gedichte sind sehr klangvoll, sie haben so viel Geräusch in sich. Das hat mich sehr inspiriert.
Zu Aperghis’ aktueller Arbeit passt beispielsweise Droste-Hülshoffs Gedicht Im Moose, in dem das lyrische Ich sich selbst dabei zusieht, wie es »leise in der Erde Poren zieh[t]«.
Aktuell laufen die Proben für Erdfabrik. Ändern Sie in diesem Stadium noch Klänge im Stück?
Ja, aber jetzt ist das Stück fast fertig. Heute Morgen habe ich noch einen Text verschoben. Ich habe ihn näher an das Ende gesetzt, ich finde das besser so. Aber jetzt ist es Zeit, an die Aufführung zu gehen.

Wie verlief denn der Probenprozess für Erdfabrik bisher?
Wir haben vier Tage lang an der Musik gearbeitet, da geht es sehr viel um Details. Es gibt fünf Interpret:innen, die ohne Dirigat spielen. Sie haben einen visuellen Click-Track. Im Moment sind wir dabei, das Ensemble, die Sängerin und das Video zusammenzuführen. Wir fangen in der Mitte des Stücks an und gehen bis zum Ende, wobei wir so viel wie möglich mit Video machen. Und dann machen wir das nochmal und nochmal und nochmal. Später geht es dann an den Anfang des Stücks. Ich beginne lieber in der Mitte.
Sie sind sehr bekannt für Ihre musiktheatralen Werke, aber wenn ich andere Werke von Ihnen höre, habe ich den Eindruck, dass Sie auch ein sehr gutes Gespür für Klänge haben. Fühlen Sie sich manchmal in die Rolle eines Musiktheaterkomponisten hineingedrängt?
Zuerst einmal vielen Dank. Für mich ist beides dasselbe. Heutzutage stecken wir gerne alles Mögliche in Schubladen. Früher hat ein und derselbe Komponist Streichquartette, Klaviersonaten, Oratorien und Opern geschrieben. Und alle waren damit zufrieden. Für mich ist Musik überall. Mit oder ohne Theater, für mich ist das dasselbe. Theater ist immer Teil meiner Musik. Ich denke nicht darüber nach, aber ich bin mir sicher, dass es so ist. Alle sagen das.
Unbewusstes Theater?
Ja, ich glaube schon. Aber ich höre auch klassische Musik so. Wenn man ein Beethoven-Streichquartett hört, hat das ja auch eine Dramaturgie: Es gibt Menschen, die miteinander sprechen oder sich einander widersetzen. Eine Idee kommt auf und verändert sich. Wie im Leben eben auch.
Ich kenne alleine drei Einspielungen Ihrer Récitations. Würden Sie sagen, das ist Ihr erfolgreichstes Stück?
Ja.
Und können Sie sich vorstellen, warum?
Ich weiß es nicht. Es freut mich, dass es den Leuten gefällt. Diese Reaktion kam auch sofort, bei der Uraufführung beim Festival d’Avignon 1982. Die waren ganz verrückt danach.
Ist Ihnen die Publikumsreaktion wichtig?
Ich mag es, wenn das Publikum zufrieden ist, ich mag es, dem Publikum gute Energie zu geben. Abgesehen davon … Ich bin zu alt, um mich damit noch zu befassen. Wenn man sehr jung ist, kümmert einen das mehr. Weil man nicht weiß, wo man steht: Man weiß, was man will, aber man weiß nicht, ob man es auch vermitteln kann. Es ist, als würde man eine neue Sprache erfinden – man muss gucken, ob andere irgendwas verstehen.
Wissen Sie jetzt, wo Sie stehen?
Ja, leider.
Warum ›leider‹?
Wenn man jung ist, kann man gehen, wohin man will. Jetzt arbeite ich nur weiter an meinen Problemen: an harmonischen Problemen, an melodischen Problemen. Ich habe viele Probleme.
Welche denn zum Beispiel?
Oh, da gibt es eine Menge. In dem Stück nach diesem hier betreffen die Probleme vor allem den Kontrapunkt, die Harmonie und die Kombinationen von Instrumenten. In Die Erdfabrik gibt es sehr viele seltsame Farben. Es ist eine Menge Arbeit, die richtigen Kombinationen zu finden. Es gibt eine Trompete, die nicht wie eine Trompete klingt, Bass und Schlagzeug wirken oft sehr weich. Alles zusammen ist wie ein Organismus.
Das ist ein längerer Prozess. Und ich mache immer weiter. Als nächstes kommt ein Stück für Orchester.

Haben Sie damit schon angefangen?
Bevor ich hierher gekommen bin, habe ich schon einige Skizzen gemacht. Aber sie sind nicht gut. Ich war zu müde und habe mich darauf gefreut, hierher zu kommen, also war ich in Gedanken schon in Duisburg. [Lacht] Ich muss also später richtig anfangen, Ende August.
Vor fünf Jahren sagten Sie in einem VAN-Interview, dass sie den ganzen Tag komponieren und das jeden Tag. Stimmt das?
Ja.
Wird Ihnen das nie leid?
Nein. Meine besten Momente habe ich beim Komponieren.
Wie viel Kaffee trinken Sie?
Ich trinke ununterbrochen Kaffee [lacht]. Ich habe früher auch pausenlos italienische Zigaretten geraucht, aber damit habe ich aufgehört. Irgendwann fing es an, dass ich mich durch das Rauchen schlecht gefühlt habe. Vor acht Jahren war das.
Haben Sie, als Sie jünger waren, auch so viel gearbeitet?
Nicht ganz so viel, ich hatte ja meine Kinder, meine Frau [Édith Scob, Aperghis‘ Frau, starb 2019]. Und jetzt bin ich ganz allein. Meine Kinder sind jetzt in ihren 50ern. Meine Enkelin ist verantwortlich für das Video für dieses Projekt, sie ist 23. Für mich ist die Musik jetzt alles.
Hören Sie Musik von anderen Komponist:innen, wenn Sie komponieren – also am selben Tag?
Ja, gelegentlich klassische Musik. Ich spiele die Klaviersonaten von Beethoven und höre seine Quartette. Ich habe Faksimiles von Partituren von Mozart und Beethoven. Ich träume von ihnen. Man kann sehen, wie sie erst in eine Richtung gehen und dann zu einer anderen Idee springen. Mozart ist unmittelbarer, Beethoven bereitet alles sorgfältig vor. In seinen Notizen findet man viele verschiedene Ideen auf einer Seite, sogar für verschiedene Stücke. Es ist wie ein Puzzle: Alles findet seinen Platz, alles wird entwickelt. Es ist inspirierend, ihrem Vorgehen nachzuspüren und ihrer Art zu Denken näher zu kommen.