Mit neunzehn Uraufführungen gingen die diesjährigen Wittener Tage für Neue Kammermusik zu Ende. Es war die letzte Ausgabe von Harry Vogt, der das Festival dreiunddreißig Jahre kuratierte und als Szenetreffpunkt und Fachmesse im Frühjahr neben den Donaueschinger Musiktagen im Herbst etablierte. Seit Oktober letzten Jahres hat Vogt mit Patrick Hahn einen Nachfolger als Redakteur für Neue Musik am WDR in Köln. Ihm oblag jetzt die Durchführung des Festivals einschließlich der Radio-Übertragungen. Mit »gespannter Vorfreude« hatte sich Hahn auf dieses Übergangs-Festival eingestellt: »wie vor einer Riesenparty, wenn man hofft, dass alle Gäste kommen« – eine Hoffnung, die ihm die Deutsche Bahn mit ihrem Streik am ersten Festivaltag leider zerstörte, so dass die Reihen beim Eröffnungskonzert spärlicher als sonst besetzt waren.

Zu hören waren hier drei Uraufführungen und eine deutsche Erstaufführung mit dem Klangforum Wien unter dem aus Simbabwe stammenden, in den USA und Deutschland ausgebildeten Dirigenten Vimbayi Kaziboni, der auch häufig beim Ensemble Modern zu Gast ist. Und der Amerikaner im Programm schoss auch den Vogel ab: George Lewis, der in seinem Ensemblewerk Disputatio schöpfte aus dem Vollen schöpft. Im Titel bezieht sich Lewis auf den aus Westafrika stammenden Philosophen Anton Wilhelm Amo, der in Halle und Jena lehrte, bevor er 1747 wieder ins heutige Ghana zurückkehrte. 1729 hielt er eine juristische Disputation auf Latein, De iure Maurorum in Europa (in zeitgenössischer Übersetzung: Über die Rechtsstellung der Mohren in Europa). Wie geistreich es dabei zugegangen sein könnte, malt Lewis in seiner musikalischen Disputatio aus: eine ebenso intelligente wie turbulente Verteidigung von stilistischer Vielstimmigkeit im rasanten Perspektivwechsel. Außerdem ein Testfall für das Reaktionsvermögen jedes einzelnen Musikers. Der Franzose Yann Robin baute in seinem Klavierkonzert Toccata I & II mit dem Solisten Florian Müller auf Jazzerfahrungen auf, packte sie in ausgelassene Klanglichkeit und rhythmische Bewegungsintensität. Eivind Buene aus Norwegen ging es dagegen erst einmal beschaulich an, bevor sein Stück Doubles in gehämmerten Rhythmen eskalierte. Und Sara Glojnarić aus Zagreb schließlich fand ihr Glück bei Film- und Popmusik. 

»Uraufführungen sind ein Markenzeichen des Festivals und werden es auch künftig bleiben«, erklärt Patrick Hahn. Aber ein Reinheitsgebot möchte er nicht aufstellen: »Wenn es einem starken Programm dient, bin ich auch gern einmal der zweite oder dritte nach einer Uraufführung, wenn man neue Produktionen in einem Netzwerk von Partnern initiiert.« Entscheidend seien die Kontexte.

Aus Manos Tsangaris’ Übertragung

Wie die Donaueschinger Musiktage sind auch die Wittener Tage ein Radiofestival. Alle Veranstaltungen wurden live oder zeitversetzt im Kulturprogramm von WDR3 übertragen – in diesem Jahr von höchst aktueller Bedeutung, weil dadurch auch streikgeschädigte Besucher am Festival teilnehmen konnten, allen voran der Leiter Harry Vogt selbst. In diesem Jahr wird der Rundfunk in Deutschland hundert Jahre alt, was Vogt zum Anlass nahm, dem Tausendsassa für szenische Aktionen, Manos Tsangaris, einen Kompositionsauftrag über das Radio als solches zu erteilen. Herausgekommen ist eine komponierte Liebeserklärung mit dem mehr als doppeldeutigen Titel Übertragung: eine Reality-Show des Radiomachens an acht einzelnen Stationen im und vor dem Wittener Saalbau, eine nachgestellte Kammermusikaufnahme mit pingeligem Tonmeister – ab Takt 24 bitte nochmal–  , ein Blick in den  Kopf des »genialen« Redakteurs, der sich mit der psychologischen Hilfe einer Bassflöte ein neues Festival ausdenkt. Auch ein musealer Raum mit einer Sammlung historischer Radiogeräte ist in dem Parcours inbegriffen. Hier unterhalten sich zwei Transistorgeräte über ihre Zukunft: »Ist Radio ein Auslaufmodell?« Dazu muss erst einmal die öffentliche Meinung eingeholt werden, trösten sie sich. Und in der Station »Trimedia«, einer Pseudo-Live-Magazinsendung mit Investigativ-Moderator auf der Suche nach dem Lieblingsgeräusch des Publikums, heißt es dann ultimativ: »Wer Radio hört, lebt länger.« Aber wie lange wird das Radio des unter Druck geratenen öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch weiterleben?

»Auf dem Feld der neuen Musik nimmt der Rundfunk eine Schlüsselrolle ein«, ist Patrick Hahn nach wie vor überzeugt, und über Pläne des WDR für konkrete Sparauflagen in seinem Ressort weiß er derzeit nichts zu berichten. Ihm liegt am Herzen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk wieder stärker wahrgenommen wird als eine Institution, die das Leben in unserem Land auch aktiv mitgestaltet. Dafür scheint ihm das Festival in Witten wie geschaffen: »Mein persönliches Ziel ist es, dass Witten auch in den kommenden Jahren weiterhin ein Hotspot für alle wesentlichen ästhetischen Entwicklungen in der zeitgenössischen Musik bleibt. Zugleich wünsche ich mir, dass es noch mehr gelingt, Menschen, die sich nicht unbedingt zur Neuen Musik Szene zählen, darauf neugierig zu machen. Das bedeutet in der Konsequenz auch, dass man andere Projekte erfinden muss, die den Menschen andere Anknüpfungspunkte bieten. Es muss spürbar sein, dass das Festival in Witten, einer postindustriellen Stadt im Ruhrgebiet, stattfindet und nicht irgendwo an irgendeinem anderen Ort in der Welt.« Mit anderen Worten: Witten soll mehr mehr Publikums- als Fachmesse sein.

Im Märkischen Museum griff Christian Mason aus England die unsichtbaren Fäden, die Manos Tsangaris schon in seiner »Übertragung« ausgelegt hatte, auf. Auch diese Veranstaltung war mehr Performance als Konzert. Aber nicht mehr der ironischen Art wie bei Tsangaris, sondern eher der erhabenen. Das Publikum, das stehen, gehen oder auf dem Boden sitzen konnte, bildete dabei selbst ein »Netzwerk«, ein Geflecht sich ständig verändernder Konstellationen im Raum oder besser: im oberirdischen Bereich. Denn das Libretto von Paul Griffiths, das sich aus dem englischen Wort »Mycel« als reines Sprach-Spiel ableitet, führt zu den unterirdischen Wurzelgespinsten der Pilze und Bäume. Und wie Mason diese Vorlage klanglich umsetzt, das ist nun ihrerseits eine »Übertragung« – ins Sakrale. Die Invisible Threads, so der Titel seiner Installation, verbinden auch die Interpreten untereinander. Sie sind im Raum verteilt, in Nischen, auf der Empore, im Hauptsaal. Und sie sind mit dem Publikum zusammen unterwegs, begeben sich auf einen rituellen Rundgang. Dabei begleiten jeweils ein Sänger, eine Sängerin der Neuen Vocalsolisten die Mitglieder des getrennt voneinander aufgestellten Arditti Quartetts wie gute Geister. Bassklarinette (Gareth Davis) und Akkordeon (Kressimir Sterev) ergänzen das Streichquartett.

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Das Arditti Quartett gehört wie das Klangforum Wien zum interpretatorischen Urgestein der Wittener Tage. Mit solchen Menschen arbeiten zu dürfen, betrachtet Patrick Hahn als Geschenk. Man dürfe als Veranstalter nur nicht in die Bequemlichkeitsfalle geraten und müsse selbst mit kritischen Augen betrachten, »was man da veranstaltet«. Heißt: »Auf welche Gesellschaft bezieht sich die Neue Musik, wie ist sie in den vergangenen Jahrzehnten gepflegt worden und wie hat sich diese möglicherweise gewandelt?«

Eine mögliche Antwort darauf gab vielleicht die Komponistin Carola Bauckholt, auch sie ein Wittener Urgestein, der Harry Vogt dieses Jahr sein Komponistinnen-Porträt widmete. Ihr Thema ist der Klimawandel, wie er sich im abschmelzenden Eis manifestiert. Dafür tat sie sich schon 2020 mit der schwedischen Geigerin Karin Hellqvist zusammen. Zum Ausgang für ihr gemeinsames Stück Solastalgia nahmen sie Tonaufnahmen von kalbendem arktischen Eis, die sie im Internet fanden.

Doch diese Klangereignisse mit der Geige allein nachzubilden, erwies sich bald als ungenügend. Deshalb machte Hellqvist Schicht um Schicht Tonaufnahmen, die dann in einem Zuspiel übereinander gelegt wurden und jetzt die Bühne mit »eisigem« Hintergrund versahen. Zur visuellen Hilfe kam den Autorinnen noch der Videokünstler Eric Lanz, der das Eis durch Salzkristalle ersetzte, die im ständigen Fluss neue Landschaften bilden. Das Ganze war so artifiziell, dass man den Schmerz der Komponistin angesichts der Klimaveränderung glatt vergaß.

Auch mit ihrer Komposition Aus dem Geröll für Perkussion, Akkordeon und Kammerorchester spielt Bauckholt auf die Zerstörung unserer Lebensgrundlage an und fragt sich: »Müsste ich nicht etwas anderes tun, wo sozusagen unser Haus brennt?“ Aber vorläufig bleibt sie bei ihrer Musik, und die ist die Welt der Geräusche. Sie sind auch in ihrem neuen Werk mit dem WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Lin Liao die wahren Solisten: Steine, Kupfertöpfe, Teeschachteln, Schlagzeugklöppel mit Billiardkugeln, Teigschaber und Handschuhe für die Bongos liegen für den Schlagzeuger Dirk Rothbrust bereit, der Pianist widmet sich dem Innenleben seines Flügels, irgendwo jault etwas, schreit oder fiepst. Und dann haben sie ihren großen Auftritt: vierzehn Waldteufel aus der Familie der Trommeln, im Zuschauerraum verteilt, rufen zum letzten Gefecht.  

Aber: Sind Konzerte mit dem WDR Sinfonieorchester noch »Kammermusik«? Sollte man den Namen des Festivals nicht in »Tage für Neue Musik« verkürzen? Nein, meint Hahn: »Ich finde im Gegenteil den Begriff der Kammermusik eine spannende Reibungsfläche. Als Festivalmacher muss man sich die Frage stellen, was das ist, eine ›Kammer‹, in der man Musik hört.« Márton Illés auf jeden Fall sprengte in seinem dritten Streichquartett, uraufgeführt vom Quatuor Diotima, die räumliche Vorstellung einer eng begrenzten Kammer: Nach einem gewaltigen Anlauf in den ersten voll klingenden Ton hebt die Musik alsbald raketenhaft ab, verschwindet im All, hinterlässt ein leises Zirpen in der ersten Geige und kehrt über lange Pausen allmählich auf die Erde zurück, löst sich in leisen Tropfen auf. Wenn die Kammer den Weltraum ersetzen kann, dann hat Witten noch eine große Zukunft. ¶

… stammt aus einem Musikerhaus in Baden-Baden, studierte in Freiburg und Berlin Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Romanistik. Zehn Jahre hatte sie ihren Lebensmittelpunkt in Frankfurt a.M., bevor sie als Redakteurin, Produzentin und Konzertveranstalterin an den SWR nach Baden-Baden zurückkehrte. Daneben leitete sie die Bachwoche in Ansbach und die Badenweiler Musiktage. Sie ist journalistisch für verschiedene Medien tätig und ist Mitglied in der Jury des Preises der Deutschen Schallplattenkritik.