Ich treffe Rebecca Saunders an einem sonnigen Nachmittag in ihrem Berliner Studio. Die Partitur ihres neuen Stücks ist an den Wänden um uns herum mit Klebeband befestigt; eine Seite löst sich und schwebt auf den Boden. Wir sprechen zunächst darüber, worüber wir nicht sprechen werden: welche Erfahrungen sie gemacht hat als Komponistin. »Es ist eine irritierende und meistens auch ein bisschen bescheuert gestellte Frage«, sagt sie. »Als ob mein Geschlecht mich oder meine Musik definiert. Sexualität hingegen, das könnte ein spannendes Thema sein.« Allerdings, fügt sie hinzu, sei es schon eine ziemlich patriarchale, konservative Kunstform. »Whisky, Zigarren, Halbglatze, Bärte.« »Die letzten beiden habe ich auch«, sage ich. »Du bist vielleicht okay«, antwortet sie.

VAN: Kommst Du aus einer musikalischen Familie?
Rebecca Saunders: Ja. Meine Eltern spielen beide Klavier. Mein Vater ist Pianist; nachdem er mit 70 in den Ruhestand gegangen ist, arbeitet er nun als Organist und hat auch einen Kirchenchor. Sein Vater war ebenfalls Organist, meine Großmutter Pianistin, meine Schwester ist Jazzsängerin.
Was sind deine frühesten Erinnerungen an Klänge oder Musik?
Es war immer da, irgendwo wurde immer gerade Klavier gespielt. Wir hatten früher vier davon: Meine Eltern besaßen beide einen Flügel, es gab ein Klavier, auf dem wir Kinder spielten, ein weiteres stand unbenutzt in einem Schrank. Eigentlich erinnere mich an nichts sonst. Ich schlief ein mit Musik, wachte auf mit Musik, samstags kamen immer viele Sänger/innen zum Unterricht bei meiner Mutter, die auch abends nach der Schule Klavier unterrichtete. Bevor ich überhaupt lesen konnte, lernte ich, als meine Mutter mir Blockflöte beibrachte, schon mithilfe von Farben, Noten zu lesen. Ich schrieb kleine Lieder auf der Gitarre und dem Klavier. Ich erinnere mich auch, wie ich oft Bilder malte, während mein Vater Sänger coachte. Manchmal lag ich auch unter dem Klavier, wenn er was nicht so lautes gespielt hat. Ich liebte es, Samstags den Flügel zu polieren. Ich war ein gutes Mädchen – allerdings nur, bis ich 14 wurde (lacht).
Was passierte dann?
Dann wurde ich ganz schön wild. (lacht)
Viele würden dich zu den führenden Mitgliedern eher der deutschen Komponist/innen-Avantgarde zählen, nicht zur britischen.
Wahrscheinlich. Ich weiß nicht. Es gibt eine Menge sehr interessanter britischer Komponist/innen, die im Ausland leben. Einige schaffen es, auch zu Hause in England spannende Dinge zu machen; aber das Klima dort erstickt einen. Finanziell ist es auch schwierig, man muss sich als Künstler permanent rechtfertigen, und das ist deprimierend.
Bist du deshalb zum Studium (bei Wolfgang Rihm) nach Deutschland gegangen?
Ich glaube, viele Leute, die Kunst studieren, haben diese Sehnsucht, aus ihrer eigenen Kultur auszubrechen. Es ermöglicht dir, dich von einer anderen Warte aus zu betrachten. Wenn du jung bist, solltest du das unbedingt tun. Es ist unglaublich befreiend, sich vom Bekannten loszulösen und sich an einen Ort zu begeben, wo du irgendwann einfach nicht mehr weißt, wo zum Teufel du dich gerade befindest. Es gibt dir die Möglichkeit, jeden Aspekt deines Denkens zu hinterfragen. Als ich gerade mein Grundstudium in Edinburgh beendete, hörte ich eine Menge Musik von zeitgenössischen Komponist/innen, die in Europa unterrichteten. Irgendetwas in der Musik von Rihm, die er Ende der 1980er komponierte, den Chiffre-Zyklus zum Beispiel, berührte mich zutiefst. Die Sinnlichkeit und Körperlichkeit; auch eine Art von sehr offen ausgestellter Emotionalität. Die Stille, die Momente ausgedehnten Nachhalls, dann die daraus entstehende Klangeruption. Eine starke statische Qualität, frei von irgendeiner Melodik. Ich folgte buchstäblich einfach diesem Klangfaden: Wo ist Deutschland? Oh, es liegt gleich rechts neben Frankreich, und dann ging ich da runter.

Brauchst du für die Arbeit ein Studio?
Ja, ich brauche einen Raum, der mir gehört und leer ist. Als ich mein erstes Kind bekam, war mir sofort klar, dass ich einen separaten Raum brauche für die Arbeit, um beide Sachen miteinander in Balance zu halten. Und ich liebe es, nachts zu arbeiten. Ich bin ein Nachtmensch.
Gehst du nachts viel weg?
Früher bin ich sehr oft in Clubs gegangen. Als ich neu in Berlin war, bin ich anfangs viel in der Berliner Technoszene unterwegs gewesen. Das war großartig hier. Es gab das ganze Jahr über so ein einziges langes leeres Sommergefühl. Am Wochenende stand man auf, viele waren mit ihren Autors zu Ausflügen ins Umland gefahren, die paar Touristen in einem anderen Teil der Stadt unterwegs, die Straßen also komplett leer und man wanderte einfach umher, dort ein Hinterhof, hier ein Platz, und überall Kunst und Musik. Es gab einfach so unglaublich viel leerstehende Häuser und freie Flächen. Es ist ein sehr besonderes Gefühl, in einer Stadt zu leben, wo so vieles möglich ist. Gebäude, Plätze, alte Schwimmbäder, Fabrikhallen, viele Quadratkilometer, wo einfach nichts passierte. Wenn man solch eine Leere vorfindet, kann man sie auch füllen. Heutzutage müssen Künstler/innen dafür kämpfen, irgendwo dazwischen einen Platz zu finden, wo sie ihre Bilder malen können. Ensembles müssen verdammt clever sein, um irgendwo einen Proberaum zu finden, wo sie Lärm machen können. Ganz zu schweigen von den Kosten … Ich erinnere mich an einen Club, den man nur fand, wenn man nach mit Kreide geschriebenen Hinweisen oder Aufklebern auf dem Gehweg Ausschau hielt oder man irgendwo mitkriegte, wo er am nächsten Wochenende stattfinden würde. Du bist hingegangen, und die Leute hatten aus alten Sachen etwas zusammengebaut. Und das Wundervolle: wenn man am nächsten Wochenende vorbeigegangen ist, war alles fort, alle Spuren beseitigt.
Du setzt dein Stück Chroma bei jeder Aufführung für jeden Ort noch einmal neu zusammen. An welchen erinnerst du dich besonders?
Stockholm war sehr schön. Wir haben es dort gleichzeitig in verschiedenen Räumen der Musikakademie gespielt, nur ein zwei Module im Konzertsaal selbst. Alle Türen waren geöffnet, zur Probebühne, den Eingangstüren, zum Treppenhaus aus Beton. Der Proberaum lag am oberen Ende der Treppe und dort war auch die königliche Loge und der Zugang zu den Green Rooms. Es gab eine wunderbare akustische Verbindung zwischen allen Räumen. Man erzwingt einen neuen überraschenden Dialog mit der Architektur. Wir haben Chroma auch in großen Kirchen aufgeführt. Die Schwarzmander-Kirche in Innsbruck war als Arbeits- und Aufführungsort außergewöhnlich schön. Allerdings kam während einer Probe eine Pilgergruppe aus West-Österreich, die uns mitteilte, wir seien vom Teufel.
Mein Lieblingsort ist vielleicht das alte Elektrizitätswerk in La-Chaux-de-Fonds in der Schweiz. Riesige Fenster, Glasdach, gewaltige Turbinenskulpturen, Balkone, Treppen, Terrassen. Ein bisschen einfallendes Licht, das vom Schnee draußen in diesen wuchtigen Raum reflektiert wird. Es fühlt sich ziemlich magisch an.

Du bist bekannt dafür, viele Dinge auf ganz unterschiedlichen Instrumenten auszuprobieren. Welches spielst du selbst?
Ich habe Geige gelernt und etwas Klavier gespielt, einfach, weil es halt da war. Ich habe früher auch ein bisschen Querflöte und als Kind Gitarre gespielt, aber als Geigerin war ich sehr beschäftigt, eigentlich bis ich nach Deutschland kam, wo ich sofort aufgehört habe, selbst zu performen. Ich habe viel mit ein paar anderen Musikern improvisiert, wir waren unfassbar schlecht und hatten eine tolle Zeit, es war wirklich ein großer Spaß. Mit einem Komponistenkollegen haben wir in Karlsruhe merkwürdige Sachen ausprobiert, zum Beispiel Bach hundert Mal langsamer als sonst zu spielen, in großen, halligen Räumen.
Spielst du heute noch manchmal Geige?
Wenn, dann ist es ziemlich schmerzhaft. Ich experimentiere aber manchmal und verwende es für meine Arbeit. Ich habe eine sehr enge Beziehung zu Streichinstrumenten. Wenn ich für Streicher schreibe, probiere ich neue Dinge erst selbst aus, bis zu dem Punkt, an dem ich neue akustische Fragmente wirklich aufgesaugt und mir all ihre Möglichkeiten vorstellen kann.

Wie kommst du zu den anderen Instrumenten, die hier in deinem Studio stehen – gehst du mit bestimmten Vorstellungen in den Laden?
Nein, jedes Instrument hier hat eine andere Geschichte. Ich wollte eine BX3-Korg-Orgel, mit der zweifachen Tastatur, weil die sehr selten sind. Wenn sie auf eBay auftauchen, sind sie unglaublich teuer. Und ich habe einige Stücke geschrieben, wo ich sie verwende, also musste ich einfach eine haben. Ich habe auch beschlossen, dass ich mir, sobald ich ein bisschen Geld habe, ein digitales Klavier kaufe – die kommen immer näher an die analogen heran.
Arbeitest du generell sowohl mit digitalen als auch akustischen Instrumenten?
Im Moment arbeite ich nur mit akustischen. Ich sage immer, dass ich einmal das ganze Orchester durch haben will, bevor ich sterbe. Und das Leben ist kurz. Es gibt eine Reihe von Instrumenten, denen ich mich noch widmen will: Tuba, Harfe … Manchmal dauert es drei, vier Jahre, bis man die Eigenschaften eines Instruments voll und ganz absorbiert hat und dafür eine eigene Klangfarbenpalette entwickeln kann. Auf einige Instrumente bin ich geradezu versessen, Kontrabass und Trompete zum Beispiel. Die kann ich nicht in Ruhe lassen, damit vergeude ich wirklich eine Menge Zeit … ¶