George Benjamin war einst das Wunderkind der britischen Klassik. Mit neun fing er an zu komponieren, im Teenageralter wurde er Schüler von Olivier Messiaen, dann der jüngste Komponist, der jemals bei den Proms auf dem Programm stand (da steckte er noch mitten im Studium). Und dann lange Zeit: nichts.Nach einem kurzen Intermezzo an Pierre Boulez’ IRCAM-Institut Mitte der 80er Jahre und einem einzigen Werk für Elektronik und Kammerorchester, Antara, in dem er mit Klängen von Panflöten, die er auf dem Platz vor dem Pariser Centre Pompidou hörte, arbeitete, schrieb er in den folgenden fünf Jahren gerade mal 30 Minuten Musik – und zusammen gerechnet bloß ein paar Stunden im gesamten folgenden Jahrzehnt.Dann traf er 2005 in einem Restaurant der Royal Festival Hall in der Londoner South Bank den Dramatiker Martin Crimp. Benjamin tauchte nervös mit einem Notizbuch voller Ideen für potentielle Opern-Plots auf; der vier Jahre ältere Crimp, der bereits einige Erfolge am Royal Court zu verzeichnen hatte, war deutlich selbstbewusster, entspannter. Vorgestellt wurden die beiden einander von Laurence Dreyfus, einem amerikanischen Bratschisten und Gründer des Phantasm consort. »Unsere Zusammenarbeit haben wir nur ihm zu verdanken«, erzählt Benjamin mir. Diese Zusammenarbeit trug bereits im nächsten Jahr Früchte mit der Premiere von Into the Little Hill. 2012 folgte dann Written on Skin in Zusammenarbeit mit dem Mahler Chamber Orchestra, die schon jetzt auf Platz 1 der am häufigsten aufgeführten Opern aus dem 21. Jahrhundert rangiert. Im Mai diesen Jahres kam die von einem elisabethanischen Drama inspirierte Oper Lessons in Love and Violence auf die Bühne. In der laufenden Spielzeit ist Benjamin Composer in Residence bei den Berliner Philharmonikern.

VAN: Hat sich Ihre Zusammenarbeit mit Martin Crimp seit Written on Skin oder vielleicht sogar schon seit Into the Little Hill geändert?
George Benjamin: Ja, ich glaube schon. Unser gegenseitiges Vertrauen ist im Laufe der Jahre gewachsen, und ich lasse mich beim Schreiben stärker als früher von ihm führen, was die Form, Psychologisches oder die Intentionen der Charaktere betrifft. Aber er hat auch noch immer etwas für mich nicht Greifbares an sich und viele der wichtigsten Aspekte unserer Zusammenarbeit bleiben unausgesprochen im kreativen Prozess – und auch danach.
Komponieren Sie mit Papier und Stift, am Klavier oder am Computer? Haben Sie bestimmte Angewohnheiten, was das Komponieren betrifft?
Ich arbeite den ganzen Tag, jeden Tag – obwohl manchmal eine Woche oder länger vergehen kann, bevor ich irgendwas Akzeptables schreibe. Den größten Teil der Arbeit bewältige ich im Kopf, obwohl ich manchmal auch das Klavier nutze. Ich erstelle ziemlich viele Skizzen, bevor ich zum eigentlichen Ergebnis komme und ich arbeite nicht mit Sibelius oder anderen Programmen. Ich bevorzuge Papier und Bleistift (und manchmal Buntstifte).
Was ist Ihre früheste Erinnerung in Bezug auf Musik?
Wie ich mit sieben Jahren oder so zum ersten Mal ein Orchester live spielen gehört habe. Bei L’Après-Midi d’un Faune schien die Temperatur im Raum durch Debussys magische Klangwelten auf mysteriöse Weise anzusteigen.
Gab es Ereignisse in Ihrer Kindheit, von denen Sie im Rückblick sagen würden, dass sie Sie zum Komponieren gebracht haben?
Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir, wie ich als junges Kind Walt Disneys Fantasia gesehen habe. Ich kann die Aufregung und Begeisterung, die die Werke Beethovens, Dukas’, Stravinskys und Mussorgskys bei mir auslösten, noch heute fühlen.
Kommen Sie aus einem musikalischen Elternhaus? Welche Musik lief bei Ihnen früher zuhause oder im Auto?
Meine Eltern liebten Musik, aber es gab überhaupt keine Musikerinnen oder Musiker in der Familie. Als ich noch sehr jung war, teilten meine Schwester und ich uns ein Zimmer und ich erinnere mich, dass ich den 60er-Jahre-Pop, den sie mit ihrem kleinen tragbaren Radio spielte, liebte. Das änderte sich allerdings schlagartig, nachdem ich Fantasia im Kino gesehen hatte.
Was ist das wichtigste, was sie von ihrem Lehrer Olivier Messiaen gelernt haben?
Vieles war wichtig, aber vor allem vielleicht: ›Du musst es hören.‹ Der schlimmste Fehler, den ein Komponist in seinen Augen begehen konnte, war, sich nicht jede einzelne Note, jeden Rhythmus, jede Klangfarbe innerlich vorzustellen. Er hat mir unzählige sehr wertvolle Dinge beigebracht – aber die vielleicht wichtigste Lektion war sein unglaublich liebes Wesen und die musikalischen Werte, die er lebte.
Welche Werke anderer Komponisten dirigieren Sie am liebsten? Und hatten diese Werke Einfluss auf Ihre Arbeit als Komponist?
Dirigieren hat mit Komponieren viel weniger zu tun, als viele vielleicht denken. In vielerlei Hinsicht haben beide überhaupt nichts miteinander zu tun, aber natürlich gibt es auch Überschneidungen, die einem für das jeweils andere eine große Hilfe sein können. Ich lerne dazu, indem ich Werke, die ich liebe, studiere und dirigiere und ich lerne aus Fehlern, die ich in meinen eigenen Stücken gemacht habe. Ich liebe dirigieren. Ich genieße den direkten Kontakt zu den Musikern und dem Klang, aber ich muss mir sehr genau überlegen, wei viel ich auftreten kann, um noch genug Zeit zum Schreiben zu haben.

Sie scheinen eine Vorliebe für Geschichten über Musiker mit magischen Fähigkeiten zu haben: Into the Little Hill basiert auf einer Erzählung über einen Dudelsackspieler, und in Written on Skin taucht die legendäre Figur des Guillem de Cabestany auf (obwohl Sie aus ihm einen Buchmaler gemacht haben). Glauben Sie an eine magische Kraft von Musik?
Ja, absolut, auch wenn das alles andere als originell ist. Musik hat die außergewöhnliche Eigenschaft, Zeit überwinden und die tiefsten Emotionen hervorrufen zu können; und doch ist sie in ihrem Wesen schwerelos, vergänglich und unsichtbar. Dieses Phänomen ist mysteriös und ergreifend zugleich. ¶