Traktoren blockieren Autobahnauffahrten, bei der Bahn wird mal wieder gestreikt und selbst mit dem Fahrrad ist nichts mehr anzufangen, weil die Bremsen festgefroren sind … 2024 will hierzulande einfach nicht recht in Bewegung kommen. Wir setzen dem eine Playlist entgegen: die besten acht Anfangsakkorde der klassischen Musik, für mehr Schwung, aber auch mehr Zauber und Besinnlichkeit zum Beginn dieses neuen Jahres. 


Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonia concertante für Violine und Viola Es-Dur, K. 364 (1779)

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Wahrscheinlich könnte man diese ganze Playlist auch nur mit gelungenen Stückanfängen aus Es-Dur-Dreiklängen füllen. Wagner zieht zu Beginn des Rheingold einen solchen Klang über fast vier Minuten in eine glitzernde Fläche, auf deren Wogen sich akustisch die Sonne bricht. Und auch Beethoven liefert, gleich zweimal: den Aufmerksamkeit heischenden Doppelwumms zu Beginn der Eroica, und den gleichermaßen unüberhörbaren Start des 5. Klavierkonzerts, in dem das Klavier nicht viel von einer orchestralen Einleitung zu halten scheint und sich gleich in den Vordergrund schiebt, um zu zeigen, was es an Brillanz zu bieten hat.

Mozarts Sinfonia concertante setzt stattdessen auf Understatement. Der Komponist, der selbst Bratsche spielte, schuf ein Werk, das das Instrument gleichberechtigt neben die Violine stellt. (Wenn Sie je in einem Haydn-Streichquartett die Bratsche gespielt haben, wissen Sie, wie viel einem diese Form der Anerkennung bedeuten kann.) Der Eröffnungsakkord der Sinfonia concertante hat einen ungewöhnlich dunklen und weichen Glanz, der dadurch entsteht, dass die anderen Instrumente des Orchesters im Register der Bratsche spielen, ihrem natürlichen Resonanzbereich. Niemand im Orchester spielt höher, ein schönes Zeichen des Respekts und der Ehrerbietung gegenüber der Wärme und dem Reichtum des Bratschenklangs. Die Bratschen selbst sind während des gesamten Werks in zwei Gruppen aufgeteilt – ein Trick, auf den Mozart auch am Anfang seiner 40. Symphonie zurückgreift und der die gesamte Klangwelt des Stücks auf die erhabene Mitte, in der die Bratschen klingen, ausrichtet.

Man ist ob der Sinfonia concertante versucht, die Rolle der Bratsche bei Mozart psychoanalytisch zu deuten: Vater Leopold war natürlich ein Meister der Violine, schrieb eine wichtige Abhandlung über das Spiel dieses Instrumentes und duldete als Lehrer keinen anderen Meister neben sich. Vielleicht hat Mozart hier versucht, seinem alten Herrn eins auszuwischen.


Richard Strauss: Elektra (1909)

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Der d-Moll-Akkord, der die Elektra eröffnet, ist rein technisch gesehen nicht der interessanteste in Strauss’ modernistischem Familienblutbad – dieses Prädikat verdient das bitonale Cluster als Klang der manischen Heldin der Oper, eine geradezu bewusstseinserweiternde Mischung aus E-Dur und cis-Moll. Zunächst aber fahren drei Schläge in simplem d-Moll herab, mit strenger klassischer Autorität, angemessen einem Agamemnon (Elektras Vater, der auch posthum noch eine tyrannische Herrschaft ausübt). D-Moll ist der diatonische Ausgangspunkt in eine Welt harmonischer Experimente, der Strauss erst wieder in der herbstlichen, versöhnlichen Haltung des Rosenkavalier abschwor.

Bei den drei Schlägen zu Beginn der Elektra kommt fast das gesamte riesige Orchester zum Einsatz – mit Ausnahme der Flöten, die sich einige Takte später mit einem schrillen Trillern in ihrem tiefen Register dazu gesellen. Nach dem eröffnenden d-Moll fallen die Blech- und Holzbläser zurück und überlassen der Pauke den Vortritt, begleitet vom tonlosen Zittern der großen Trommel; nachdem sie sich ihrerseits zurückgezogen haben, setzt tief die Klarinette ein. Ich kenne gleich zwei Inszenierungen der Elektra, die damit beginnen, dass die Bediensteten im Palast Blut wegschrubben, das durch den Boden sickert. Dieses Bild liegt nahe – denn man hört es im Orchester.


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Joseph Haydn: Die Schöpfung (1798)

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Haydns Schöpfung beginnt natürlich mit dem Chaos. Die formlose Leere vor jeder Materie wird durch ein unisono erklingendes C im ganzen Orchester dargestellt. Haydn schreibt eine Fermate über die Note, es gibt noch nicht mal einen Puls. Es ist eine Welt vor der Zeit, bevor der Lauf der Dinge in Tag und Nacht getrennt wurde. In der Luther-Bibel heißt es dazu: »Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe.« Ein einzelnes C ohne eine Terz, die seinen Platz definiert, hat in Haydns musikalischem System keine Bedeutung. Es gibt kein Himmelsgewölbe, kein Land, nichts, was die Wasser trennt.

Von dieser ersten Note an beginnen sich Spuren von Harmonie abzuzeichnen, wie ein Regenbogen, der erst langsam entsteht, wenn man ein Prisma im Licht dreht: eine kleine Terz in den Celli und Bratschen, eine große Sexte zwischen den Geigen, bevor ein schmerzhafter, dissonanter verminderter Septakkord erklingt – die Geburtswehen der Welt. Haydn versteckt die große Enthüllung mit großer Sorgfalt. Wenn es dann endlich so weit ist und auch die Musiker:innen wissen, was sie tun, haut es einen um.


Alberto Ginastera: Sonata for Guitar (1976)

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Bevor man überhaupt die ersten Töne von Ginasteras Sonata for Guitar spielen kann, muss man sich durch zwei Seiten mit technischen Anweisungen arbeiten: Es geht um das Anschlagen der Saiten mit offener oder geschlossener Faust, Hinweise auf »unbestimmte« Gruppierungen von Tönen oder Akkorden in den höchsten Tonlagen und die Erzeugung von »Pfeiftönen«. Der erste Akkord besteht jedoch einfach aus den offenen Saiten des Instruments, die von unten nach oben angeschlagen werden.

Ginastera war einer der bedeutendsten argentinischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der, ähnlich wie Pablo Picasso in Bezug auf die spanische Kultur, verschiedene Elemente der Gauchesco-Tradition, insbesondere der Volksmusik, auf mehr oder weniger abstrakte oder komplexe Weise in sein Werk einfließen ließ. Aufgrund ihrer Form steht die Gitarre in der argentinischen Ikonographie häufig symbolisch für die Frau, die wiederum das Mutterland repräsentiert. Angesichts der zentralen Bedeutung der Gitarre für die argentinische Musikkultur ist es erstaunlich, dass Ginastera erst spät in seiner Karriere für dieses Instrument komponierte. 


György Kurtág: Stele (1994)

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Simon Rattle bezeichnete Stele einst als »Grabstein, auf dem die gesamte Geschichte der europäischen Musik eingraviert ist«. Viele von Kurtágs Werken sind Abschiedswerke. Dazu gehören explizite Huldigungen, wie die vielen In Memoriam-Klavierminiaturen in Játékok sowie Werke, die einen Trauerschleier über die Formen selbst legen, wie seine Oper Fin de partie, die aus den gebleichten Knochen Monteverdis und dem Geflüster der Pariser Straßenmusik zusammengebaut zu sein scheint.

Stele bedeutet »Gedenktafel«. Der Eröffnungsakkord – karge Oktaven in Holzbläsern, Blechbläsern und Streichern – erinnert an den Klang, mit dem Beethovens Leonore-Ouvertüre beginnt. Diese Ouvertüre wiederum leitete Beethovens großes aufklärerisches Loblied auf die Freiheit und Würde des Menschen, den Fidelio, ein, in dem Florestan aus seinem feuchten Kerker in die strahlenden Höhen der Emanzipation emporgehoben wird. 

Beim ersten Schlag spielen alle gemeinsam, aber dann wird der Klang schnell säuerlich, scheint zu erschlaffen. Die ursprünglichen Tonhöhen werden verlassen, um nicht mehr als einen Viertelton, langsam schwingend. Im zweiten Takt kommen die Posaunen hinzu und beginnen, unaufhaltsam und unheimlich nach oben zu gleiten; die Kontrabässe springen zu Obertönen in ihrem höchsten Register, hier schimmert es plötzlich. Es ist der Klang der Romantik, von Hoffnung und Heldentum, die sich auflösen. Kurtág wurde zu diesem Stück unter anderem inspiriert durch eine Passage in Krieg und Frieden, in der Prinz Andrej verwundet auf dem Schlachtfeld von Austerlitz liegt und in den Himmel starrt.


John Adams: Harmonielehre (1985)

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John AdamsHarmonielehre aus dem Jahr 1985 beginnt mit einem e-Moll-Akkord, den das Orchester ganze 11 Mal unverändert in den Saal hämmert – eine klare Absage an das serielle Komponieren, das damals vor allem in den Kompositionsklassen von Akademien und Hochschulen die Vorherrschaft innehatte. Die entschlossenen Wiederholungen signalisieren die Stärke der Überzeugung, dass die Tonalität immer noch etwas zu sagen hat, und demonstrieren gleichzeitig ihre aufregende Ausdruckskraft. Das tiefe E in den Kontrabässen klingt während der ersten Minute des Stücks weitgehend ununterbrochen, bevor die Akkorde wiederkehren. Bis es auch wirklich alle verstanden haben.

Der e-Moll-Klang schlägt außerdem eine Brücke von dieser Komposition zu Brahms’ vierter Symphonie und Dvořáks Symphonie Nr. 9 Aus der Neuen Welt. Adams war sich seiner Position als amerikanischer Komponist, der das minimalistische Idiom der Westküste mit den spätromantischen, mitteleuropäischen Traditionen der Tonalität und Sinfonik verband, sehr bewusst. Harmonielehre ist nach Schönbergs berühmtem Lehrbuch benannt, aber weniger dogmatisch angelegt – Adams ist selten konventionell in seiner Art, die verschiedenen harmonischen Felder zu durchqueren, aus denen sich seine Musik zusammenfügt (obwohl Schönberg das natürlich auch nicht war).

Dass in der ersten Salve der e-Moll-Akkorde 11 Schüsse abgefeuert werden, könnte ebenfalls von besonderer Bedeutung sein. So entsteht eine Verbindung zu den berühmten Schlägen im 11/4-Takt im zweiten Teil von Strawinskys Sacre du printemps.


Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58 (1808)

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Obwohl seit der Uraufführung von Beethovens viertem Klavierkonzert mehr als 200 Jahre vergangen sind, gibt es immer noch relativ wenige andere Beispiele dieser Gattung, die leise beginnen; und noch weniger, bei denen erstmal das Klavier allein loslegt. Beethoven gelingt beides, und zwar mit einer Geste, die sich über alle Konventionen hinwegsetzt: einem zurückhaltenden und nach innen gerichteten G-Dur-Akkord in der Mitte der Klaviatur. Gerne wird debattiert, ob dieser Anfangsakkord harfenartig arpeggiert werden sollte oder einfach als ein Klang in die Tasten gesetzt. Letzteres wirkt noch entwaffnender und überirdischer.

Das Orchester scheint so erstaunt über dieses Ereignis, dass es in ein harmonisches B-Dur-Gebiet hineingerät, das es seltsam deplatziert klingen lässt, als ob es unbeholfen in etwas sehr Privates eindringt, oder als ob es sich nicht ganz in die zerbrechliche Welt einfügen kann, die das Soloklavier heraufbeschworen hat. Es dauert einige Takte, bis das Orchester sein Selbstvertrauen zurückgewinnt und das Konzert in Gang kommt.

Obwohl dieses Werk aus der mittleren Schaffensperiode Beethovens stammt, nimmt es die ästhetischen Revolutionen seines Spätwerks vorweg. Als Beethoven seine späten Werke schuf, wusste er, dass das Publikum für sie vielleicht noch gar nicht existierte; in ihnen ist die Unverständlichkeit eine bewusste ästhetische Strategie. Vielleicht ist das der Grund, warum das Orchester zu Beginn des Konzerts von diesem seltsamen Geist so überrumpelt wird.


Pauline Oliveros: Horse Sings From Cloud (1975)

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Es ist nicht ganz klar, wo der erste Akkord von Pauline OliverosHorse Sings From Cloud anfängt und endet. Beginnend mit einem einfachen B auf dem Akkordeon (zumindest in der Version, die Oliveros 1982 für ihr Album Accordion and Voice aufnahm), wird schließlich eine Quinte darunter, eine Quarte darüber und dann der gleiche Ton im Gesang hinzugefügt. Mit den Quarten und Quinten nehmen auch die Obertöne zu, die den einst ruhigen Ton wie ein kosmisches Harmonium zum Flirren und Vibrieren bringen. Schließlich kommen noch weitere Intervalle hinzu, der Klang wird immer komplexer.

Als eine von Oliveros’ Sonic Meditations geht es in diesem Stück um Deep Listening. »Halte einen Ton oder ein Geräusch so lange, bis jegliches Verlangen, ihn zu verändern, verschwindet«, schreibt Oliveros in ihren Spielanweisungen. »Wenn der Wunsch, den Ton oder das Geräusch zu verändern, nicht mehr vorhanden ist, dann ändere ihn.«

Viele der zuvor betrachteten Akkorde haben es auf diese Playlist geschafft, weil sie Dramatik und Spannung erzeugen; dies ist ein Akkord, der uns stattdessen dazu auffordert, der Vorstellung von Musik als eine Abfolge von Klangereignissen, die sich in ihrer Ausdrucksintensität gegenseitig übertrumpfen, abzuschwören. Das Stück, so Oliveros, »lehrte mich, auf die Tiefe eines Tons zu hören und Geduld zu haben. Anstatt musikalische Impulse von Bewegung, Melodie und Harmonie zu initiieren, wollte ich die Feinheiten eines Tons hören, der Raum und Zeit braucht, um sich zu entwickeln.« Perfekt, um zwischen Streik und Blockaden nicht einfach nur festzusitzen, sondern vielleicht auch einen Moment der Ruhe zu finden. ¶