Für einen Dokumentarfilm über Richard Strauss besuchte der Schriftsteller und Regisseur Thomas von Steinaecker die Strauss-Villa in Garmisch-Partenkirchen und sprach dort mit dem letzten lebenden Enkel. Gedanken über das Werk und die Rätsel des vor 150 Jahren geborenen Komponisten.

Der Widerspruch des Menschen und Komponisten Richard Strauss lässt sich vielleicht anhand dieser Fotos verdeutlichen:
Auf der einen Seite der recht bieder und gemütlich wirkende Bayer, auf der anderen Seite eine der avanciertesten Partituren der damaligen Zeit, Salome, die Strauss 1904/05 im winzigen Dorf Marquartstein im Chiemgau schreibt; vier Jahre später folgt ein noch radikaleres Werk, das nicht nur die Grenzen der Tonalität auslotet, sondern in menschliche Abgründe blicken lässt, dass einen schaudert: Elektra. Wie geht das zusammen?
Ob antike Tragödie, Komödie (Arabella), cineastisch-moderne Kurzszenenfolge (Intermezzo) oder intellektuelle Überlegungen in musikalischer Form (Capriccio); ob Neutönendes wie in Salome oder Retro-Walzer im Rosenkavalier – Strauss konnte fast alles, und zwar meisterhaft. Und doch hat genau diese Vielseitigkeit etwas zur Folge, das ich nur schwer in Worte fassen kann: Wenn ich Strauss höre, habe ich oft das Gefühl, ich bewege mich auf einer hochglänzenden Oberfläche, ohne darunterzudringen. Nur selten, im Rosenkavalier-Trio, in den Metamorphosen oder den Vier letzten Liedern, berührt mich die Musik und kommt es mir so vor, als gebe Strauss hier tatsächlich einmal Einblick in sein Innerstes.
Strauss, der Mann der Masken, die so perfekt sitzen, dass man sie für sein wahres Ich halten könnte. Ein Mann, ein Foto.

Garmisch
Das Navigationsgerät lotst unser Auto sicher durch Garmisch-Partenkirchen. Wir passieren den Michael-Ende-Platz, richtig, der Autor von »Momo« und »Die unendliche Geschichte« wurde hier geboren, und tatsächlich hat an diesem Tag die Gegend um die Zugspitze etwas von einem Fabelreich. Die Wolken haben einen dichten Vorhang zugezogen, so dass von den Bergen nichts zu sehen ist, außer einem Fetzen, der surreal hoch am Himmel hängt und durch den ein Felshang wie durch ein Bühnenguckloch zu sehen ist. Für einen Moment scheint es mir im Bereich des Möglichen zu liegen, dass der Glücksdrache Fuchur auftaucht und über die Stadt fliegt, die dringend ein wenig Zauber vertragen könnte. Um die Jahrhundertwende muss es hier noch beschaulich zugegangen sein, eine einzige Straße mit alten Bauernhäusern, vor deren Fenstern Geranien hängen, gibt eine Ahnung davon; ansonsten aber irren auf den breiten Einkaufsstraßen mit bayerischen Souvenirläden Touristenströme, vor allem aus Amerikanern und Japanern, bei denen man sich instinktiv entschuldigen will für die architektonischen Geschmacklosigkeiten, mit denen der Ort in den vergangenen Jahrzehnten entstellt wurde. Keiner der Touristen ist an diesem Wolkentag im Herbst 2012 aus demselben Grund hier wie wir, Kameramann, Tonmann, Regisseur.
Wenn man, nur einmal spaßeshalber, vergleicht: Richard gegen Richard, Strauss gegen Wagner, was gar nicht so abwegig ist, beide große Opernkomponisten, beide erklärtermaßen »deutsch«, Strauss auf Wagner aufbauend – dann steht das kleine Bayreuth, dessen Grüner Hügel mit dem Wagner-Museum in der Villa Wahnfried internationale Strahlkraft besitzt, dem noch etwas kleineren Garmisch-Partenkirchen gegenüber, wo im arg in die Jahre gekommenen Kongresszentrum für ein paar Tage im Sommer mittelprächtige Konzerte stattfinden und das Richard-Strauss-Institut in zwei winzigen Räumen einige Devotionalien ausgestellt hat.
Es gibt in Garmisch jedoch die Strauss-Villa, in der der Komponist von 1908 bis zu seinem Tod 1949 lebte. Allerdings ist diese Villa, an deren Einfahrtstor mit den geschwungenen goldenen Initialen »RS« ich dann, kurz schluckend, innehalte, um schließlich beherzt die Klingel zu drücken, nicht öffentlich zugänglich. Oder, sagen wir, nur halb. Aber eigentlich auch wieder nicht. Jedenfalls, so der freundliche Mitarbeiter des Strauss-Instituts ein paar Monate zuvor, könne ich ja mal mein Glück versuchen. Bei Herrn Dr. Christian Strauss, dem über 80-jährigen letzten lebenden Enkel. Der führe hin und wieder interessierte Gruppen durch die Villa seines Großvaters. Das hänge von der Tageslaune ab. Aber Interviews? Noch dazu fürs Fernsehen? Gebe er nur sehr ungern. Aber auch das hänge und so weiter.

Die Villa
Tatsächlich hat es dann einige Überredungskunst gebraucht, um Christian Strauss zu einem Termin in der Villa zu bewegen. Am Telefon wehrte der ehemalige Chefarzt erst einmal ab, er habe doch das alles schon so oft erzählt. Aber nun ist es doch so weit, zwei Stunden für den Aufbau der Kamera, des Lichts und des Tons, dann wird er dazukommen. Ein weites Rasenstück, dahinter das fast trotzige dreistöckige Gebäude mit Loggia, einem Türmchen mit bayerisch-barocker Haube und vergitterten Fenstern, kein freundlicher Rückzugsort, eher eine Festung, im eklektischen Stil nach Strauss’ eigenen Wünschen vom damaligen Stararchitekten Emanuel von Seidl erbaut.
Noch während ich aus dem Augenwinkel auf die beiden goldenen Wetterfahnen auf dem Haupt- und dem Nebengebäude schaue, einen Hahn und einen Vogel Strauß, öffnet uns eine zierliche, ältere Haushälterin in weißer Schürze die Haustür – wie aus einem anderen Jahrhundert.
Drückende Schwere im Eingangsbereich mit dem düsteren Treppenhaus und einem langen Gang. An den Wänden ist vor lauter Geweihen und barocker alpenländischer Sakralkunst kaum noch Platz. Und während wir die Ausrüstung durch den Flur tragen, frage ich mich: Wie konnte Strauss hier nur leben, sogar komponieren? Die bombastischeren Tondichtungen würden ja gut hierher passen, aber Der Rosenkavalier, Die Frau ohne Schatten, Arabella? Geschrieben beim täglichen Anblick von Putten, Hinterglasmalerei und Hirschgeweihen? Woher nimmt man zwischen Jagdtrophäen, bayerischer Sakralkunst und einem vergitterten Blick auf die Zugspitze die Inspiration für »Marie Theres! – Hab mir’s gelobt« aus dem Rosenkavalier? Der Eindruck relativiert sich ein wenig, als wir dann in Strauss’ Arbeitszimmer im Erdgeschoss stehen. Vor den Bücherschränken mit der Goethe-Gesamtausgabe, der Beethoven-Statue und an dem riesigen Schreibtisch hinter dem Flügel kann man sich den komponierenden Strauss schon eher vorstellen.
Dann steht Christian Strauss in der Tür, im Anzug, hochgewachsen, mit Schnauzer und Glatze. Die Ähnlichkeit mit seinem Großvater ist fast gespenstisch. Deutlich ist ihm anzumerken, dass sich seine Vorfreude auf dieses Gespräch arg in Grenzen hält, sodass ich ihn schnell bitte, für die Tonprobe Platz zu nehmen. Ich schaue in mein Skript, zwanzig Fragen, eine Stunde dauert das mindestens, die Kamera direkt neben meinem Kopf. Christian Strauss knetet im Sessel vor dem Flügel seines Großvaters ungeduldig die Hände. Also gut. Die erste Frage, bitte.
Unprätentiös spricht Christian Strauss von seinem »liebenswerten und großzügigen Großpapa«. Die beiden Enkel spielten wie selbstverständlich auch im Arbeitszimmer, während Richard Strauss völlig unbeeindruckt davon seine Opern schrieb.
»Mein Großvater war sehr tolerant in der Beziehung. Wenn wir reinkamen, hat er gesagt: ›Da, nimm dir ein Buch, setz dich hin, oder schau dir Bilderbögen an‹, das war kein Problem. Nur toben durften wir nicht, in seinem Arbeitszimmer, wenn er hier gearbeitet hat. Aber das war ja klar.«
Erst später, bei den Festlichkeiten zum 80. Geburtstag, 1944, ahnt Christian, dass sein Großvater wohl auch eine recht bekannte Persönlichkeit ist. »Das war damals in Wien. Da war am Vormittag ein Konzert, da hat er auch dirigiert, mit dem Böhm. Und am Abend war eine Ariadne in der Staatsoper, und er hatte also eine Loge, und wir durften mit. Ich war damals zwölf Jahre alt. Und wie mein Großvater dann kam, in die Loge kam, ist das ganze Haus aufgestanden. Das war natürlich ein großer Eindruck für mich, dass ich mir gesagt habe: ›Holla! Der ist doch irgendetwas Besonderes.‹«
Noch immer ist hinter den Gitterfenstern des Arbeitszimmers nichts von der Sonne zu sehen. Die Stimmung entspannt sich langsam. In seinen Anekdoten zeichnet Christian Strauss seinen Großvater als freundlichen alten Herrn. Ein klassischer Bildungsbürger des späten 19. Jahrhunderts. So ermahnte er seine Enkel, wer die Ilias nicht im Original gelesen habe, sei kein Mensch. Ansonsten aber völlig unexzentrisch, »ein ganz ruhiger, bajuwarischer Typ«. Trotzdem: Salome und Elektra, die hysterischen Furien, die vornehme Marschallin, die Färberin, der Prototyp der grantigen Hausfrau – woher nahm Strauss in einer sehr geregelten und heilen Familienatmosphäre die Inspiration für derart unterschiedliche und extreme Frauenrollen, ja, welche Bedeutung hatten überhaupt die Frauen im Leben eines Komponisten, in dessen fünfzehn Opern die Hauptrolle nahezu immer weiblich ist?

Pauline
Über 55 Jahre, bis zu seinem Tod 1949, war Strauss mit Pauline, geborene de Ahna, verheiratet. Bekannte Affären? Keine. Ihre Zeitgenossen wissen allerdings nur wenig Schmeichelhaftes über Pauline zu berichten. »Ein ordinäres Weib!«, lautete etwa Alma Mahler-Werfels Urteil. Nach dem Misserfolg der Frau ohne Schatten soll Pauline sich geweigert haben, gemeinsam mit ihrem Mann nach Hause zu fahren. »Der Großpapa wäre nicht vorstellbar ohne die Pauline«, wendet Christian Strauss jetzt ein.
Als Strauss Pauline, die bereits als Sopranistin in der Uraufführung seiner ersten Oper Guntram sang, 1894 heiratete, machte er ihr ein besonderes Hochzeitsgeschenk: Vier Lieder, mit einem seiner bekanntesten Stücke überhaupt, »Morgen!«. Bald darauf kommt es bei Strauss zu einer bemerkenswerten Veränderung. Ebenso ausschließlich, wie er zuvor Ton- und sinfonische Dichtungen schrieb, die mal von starken Männern (Don Juan, Also sprach Zarathustra), mal von tragikomischen Anti-Helden (Till Eulenspiegel, Don Quixote) handelten, konzentriert er sich ab seinem Durchbruch mit Salome 1905 auf die Gattung Oper, in der nun die Frauen das Sagen haben. Überliefert ist, dass Pauline als Sängerin besonders in langen Bögen in den hohen Lagen brillierte – ein Markenzeichen aller Sopranpartien bei Strauss. Zeitweise soll Strauss mit dem Gedanken gespielt haben, einen Zyklus nur über seine Frau zu schreiben, was nicht so abwegig klingt, bedenkt man, dass er sie ja in seinen Tondichtungen Ein Heldenleben (1898) und Sinfonia Domestica (1903) und später in der Oper Intermezzo (1923) porträtierte. Im finalen der Vier letzten Lieder, »Im Abendrot«, heißt es nach einem Gedicht von Eichendorff: »Wir sind durch Not und Freude / gegangen Hand in Hand«. Vier Lieder am Anfang, Vier letzte Lieder am Ende: eine komponierte Ehe.
»Sie hat ihn unglaublich beschützt und bewahrt vor Äußerlichkeiten. Und hat ihn auch vor sich selbst bewahrt.« Es ist spürbar, wie wichtig Christian Strauss diese Sätze sind. »Er war eher der Typ, der dann sitzen bleibt oder auch eine ganze Schachtel Zigaretten raucht, zu viele Süßigkeiten isst, im Alter natürlich. Sie war da wie ein Cerberus, aber in Liebe.«
Pauline gibt nach der Geburt ihres einzigen Kindes Franz 1897 ihren Beruf auf. Bei der Komposition des berühmten Terzetts des Rosenkavaliers soll sie aber, während Strauss am Klavier probierte, aus dem Nebenzimmer bei einer Hausarbeit gerufen haben, er müsse das Stück verlängern, sonst wirke es nicht; im Alter sang sie Besuchern ergreifend eindrucksvoll aus der Elektra vor, um dann unter Tränen zusammenzubrechen. »Sie war seine Muse, seine Geliebte, seine Feindin, sie war eigentlich alles. Sie wird sehr verkannt, die Frau«, sagt der Enkel.
Die Nazis
Die heikelsten Fragen habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Strauss war von 1933 bis 1935 Präsident der Reichsmusikkammer, komponierte eine Olympische Hymne für die Eröffnung der Spiele 1936 und widmete Goebbels sein Lied »Das Bächlein«, das mit den Versen endet: »Es treibt mich fort, weiß nicht wohin. / Der mich gerufen aus dem Stein, / Der, denk’ ich, wird mein Führer sein!«. Gleichzeitig war sein Sohn Franz mit der Jüdin Alice Grab verheiratet, mit
der sich Strauss senior nicht nur hervorragend verstand – ohne Alices Engagement wäre heute die Strauss-Forschung undenkbar. Schon zu seinen Lebzeiten sammelte sie Skizzen und Entwürfe und baute später das Archiv auf. Zwei Frauen also, hier Pauline, dort Alice, die ihr eigenes Leben ganz Strauss widmeten, die beiden Heldinnen in seinem Leben.
Nur: eben, Alice war Jüdin, ihre Söhne Richard und Christian Halbjuden. In Wien, wo Strauss eine schlossartige Villa mit fast 80 Zimmern besaß, gleich hinter dem Belvedere, konnte man sich mit dem Strauss-Fan und Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, arrangieren. In der Nazi-Hochburg Garmisch gelang das nicht so leicht. Alle Widersprüche des Menschen Strauss, der nie etwas von sich preisgab, werden vielleicht hier am deutlichsten: Er schimpfte gegenüber seinem Librettisten Stefan Zweig auf die Nazis; der Brief kommt Goebbels in die Hände, und Strauss wird als Präsident der Reichsmusikkammer entlassen; daraufhin wendet er sich in einem Bittschreiben an Hitler. Auf der anderen Seite ist Strauss ein liebevoller Schwieger- und Großvater, der mit dem Chauffeur nach Auschwitz fährt, um die Freilassung einer Angehörigen Alices mit den Worten zu fordern: »Ich bin Richard Strauss, der Komponist des Rosenkavaliers!«, was nichts nützte.
Und so frage ich also mit einem etwas mulmigen Gefühl Christian Strauss, inwieweit die Familie hier unter dem NS-Regime zu leiden hatte. Und der erzählt völlig ruhig die Geschichte des »Judenspuckens«. Wie er sich als Siebenjähriger zusammen mit seinem Bruder in Garmisch auf den Marktplatz habe stellen und andere Juden, die vorübergetrieben wurden, anspucken müssen. Seine Mutter habe über 30 Verwandte in Konzentrationslagern verloren.
Ich versuche mir nichts von meiner Erschütterung anmerken zu lassen, während uns Christian Strauss durch das Erdgeschoss führt. Die Sakralkunst im ganzen Haus? Ach, die sei bloß eine Geldanlage seines Großpapas gewesen, der im Ersten Weltkrieg durch ungeschickte Bankgeschäfte im Ausland sein gesamtes Vermögen verloren hatte. Die Geweihe stammen von seinem Vater, seinem Bruder und ihm selbst, alle drei passionierte Jäger. Wir setzen uns ins Esszimmer, genau an jenen Tisch, an dem auch eine berühmte Fotografie entstand: die beiden Enkel zusammen mit ihrem Vater und Großvater. Für einen Moment: Strudel der Zeiten, Schwindel. Vor nicht einmal 65 Jahren lag Deutschland noch in Schutt und Asche, und Richard Strauss saß genau hier und war davon überzeugt, dass mit den deutschen Opernhäusern auch die Zukunft seines Werkes zerstört sei.

Coda
Nach dem Dreh sitzt das Team noch im überdachten Bereich eines Restaurants auf dem Michael-Ende-Platz. Es nieselt. Erschöpft oder gelangweilt ziehen amerikanische Touristen in Regenjacken und kurzen Hosen vorbei. Die Kellnerinnen tragen Dirndl. Garmisch ist der einzige Ort, an dem ich regelmäßig Männer in Lederhosen auf der Straße sehe.
»Ist der denn heute wirklich noch eine Nummer, der Strauss?«, fragt mich der Tonmann. Ich zähle ihm die Aufführungen auf, die gerade jetzt im Jubiläumsjahr besonders in Deutschland, Österreich und den USA laufen. Vor allem Der Rosenkavalier, aber sogar die schwierige Frau ohne Schatten. Ich tippe darauf, dass er mit Puccini, Verdi und Mozart zu den zehn meistgespielten Opernkomponisten der Welt gehört.
Mozart, Puccini, Verdi – Strauss scheint eine Außenseiterrolle einzunehmen, weil seine Opern einerseits nicht die großen Hits à la »Nessun Dorma« vorweisen können, andererseits aber äußerst kunstvoll sind, dank Hofmannsthal esoterisch wie Die Frau ohne Schatten oder, dank Strauss selbst, ziemlich verkopft wie Capriccio. Was macht sie heute so beliebt? Seine Frauenfiguren erscheinen zunächst zwar recht selbstbestimmt und frei für ihre Zeit – Salome, Elektra, die Marschallin –, werden dann aber nicht selten zur Hausfrau gezähmt, wie die Färberin in Die Frau ohne Schatten, oder ordnen sich dem Mann unter wie Arabella. Salome strippt zwar zum Ergötzen des Herodes und des Publikums beim »Tanz der sieben Schleier« und küsst das abgeschlagene Haupt des Täufers; am Ende der Oper heißt es aber: »Man töte dieses Weib!« Elektra wird wahnsinnig und sinkt entseelt zu Boden, nachdem ihre Rachegelüste gestillt sind, und die kluge Marschallin sieht ein, dass sie nichts gegen den Lauf der Zeit vermag, und verzichtet auf ihren Liebhaber. Einzig ein Fenster der Freiheit also – die Welt, die sich darin zeigt, malt Strauss in den betörendsten Farben, nur um es am Ende doch wieder zu schließen und auf die Tradition zu setzen. Aber ist uns dieses zwiespältige Denken heute vielleicht näher, als wir es uns eingestehen können?
Nachdem wir den Flammkuchen bezahlt haben, setzen wir uns ins Auto und geben die Koordinaten Berlins ein. »Ihre Route wird berechnet«, sagt die überfreundliche Mädchenstimme des Navigationsgeräts. Ich bin erleichtert, dass das Interview mit Christian Strauss besser lief als gedacht; die anderen beiden freuen sich auf zu Hause. Obwohl wir erschöpft sind, macht sich ein Gefühl in uns breit, das man oft hat, wenn man einen weiten Weg vor sich hat, einmal quer durch Deutschland, Aufbruchsstimmung, on the road. »Sie erreichen Ihr Ziel bei aktueller Verkehrslage in sieben Stunden, dreiunddreißig Minuten«, ertönt die Mädchenstimme.
Und während der Tonmann am Steuer losfährt, zufrieden über die präzise Angabe, meine ich tatsächlich für eine Sekunde, in den Wolken draußen einen Drachen zu sehen, Fuchur, wie er spielend die höchsten Höhen der Berge überfliegt und aus dem engen Talkessel heraus in Welten aufbricht, die man sich nicht träumen lassen mag. Doch dann ist es nur eine Nebelschwade gewesen. ¶
Der Autor empfiehlt
… Aufnahmen
Vier letzte Lieder
Elisabeth Schwarzkopf (Sopran), Radio-Symphonie-Orchester Berlin (heute: Deutsches Symphonie-Orchester Berlin), London Symphony Orchestra, George Szell (Dirigent), erschienen bei EMI. Wer bei dieser Interpretation von Im Abendrot nicht sein Herz spürt, muss es noch entdecken. Wer wiederum die Platte entdeckt, möge sie erwerben. Wir bieten einstweilen eine hervorragende Alternative zum Reinhören an: Die Sopransängerin Cheryl Studer mit der Staatskapelle Dresden und dem Dirigenten Giuseppe Sinopol
i (erschienen 1994).
Malven
Kiri Te Kanawa (Sopran), Wiener Philharmoniker und Sir Georg Solti (Dirigent), erschienen als Teil der CD Vier letzte Lieder bei Decca. Strauss’ letztes Lied ist auch seine letzte vollendete Komposition überhaupt und wurde erst 1982 entdeckt. Im April 2014 wurde eine von Wolfgang Rihm instrumentierte Fassung aufgeführt. Sollte hier eine Aufnahme erhältlich werden, bitte zugreifen.
Der Rosenkavalier
Carlos Kleiber (Dirigent). Mit Brigitte Fassbaender, Lucia Popp, Gwyneth Jones, dem Bayerischen Staatsopernchor und dem Bayerischen Staatsorchester, erschienen als DVD bei Deutsche Grammophon/Unitel.
Strauss dirigiert Strauss (Strauss conducts Strauss)
CD-Box, erschienen bei Deutsche Grammophon. Und last but not least: Strauss war zu Lebzeiten einer der bekanntesten Dirigenten. Warum, wird nachvollziehbar mit dieser preiswerten Box. Neben den eigenen Tondichtungen sind hier u.a. Werke von Mozart und Beethoven zu hören.
… Bücher
Bryan Gilliam: Richard Strauss. Magier der Töne.
Die beste deutschsprachige Einführung in das Leben und Werk Strauss’. Etwas älter und preisgünstiger ist die Rowohlt-Monografie von Walter Deppisch.
Daniel Enders: Richard Strauss. Meister der Selbstinszenierung.
Neuerscheinung, die sich mit Strauss’ Kunst, die Medien zu bedienen, beschäftigt.
… und
David Lynchs Wild at Heart
… in dem Lula und Sailor zu Im Abendrot weinen. Das ist eines von Lynchs Lieblingsstücken, wie in diesem Interview nachzuhören ist.