1955 wurde das Joseph Haydn-Institut in Köln gegründet – mit dem Ziel, die erste vollständige wissenschaftliche Gesamtausgabe der Werke Haydns herauszugeben. Über Haydn als Charakter, die komplexe Überlieferungssituation und Kuriositäten der Haydn-Forschung hat Arno Lücker mit dem wissenschaftlichen Leiter des Instituts, Dr. Armin Raab, gesprochen – und ist dafür am »Tulpensonntag« (dem Sonntag vor Rosenmontag) nach Köln gereist.

In der Blumenthalstraße im Kölner Agnesviertel befindet sich seit 1970 das Joseph Haydn-Institut.
In der Blumenthalstraße im Kölner Agnesviertel befindet sich seit 1970 das Joseph Haydn-Institut.

VAN: Sie haben als Musikphilologe sehr viel mit der Handschrift von Haydn zu tun gehabt und immer noch zu tun. Hatte er eine gut lesbare Handschrift?

Armin Raab: Ja, gerade, wenn man beispielsweise die immer recht kleine, zierliche aber sehr saubere Handschrift Haydns mit der von Beethoven vergleicht. In Haydns Partituren sind außerdem relativ wenige Korrekturen zu finden. Er hat sich offenbar vor dem Komponieren immer sehr genau überlegt, was und wie er schreibt. Und darin unterscheidet er sich ebenfalls von Beethoven, dessen Partituren quasi Arbeitsmanuskripte sind. Von etwa zwei Dritteln der Werke Haydns haben wir dabei keine originalen Handschriften, sondern vorwiegend Abschriften von diversen Kopisten. Im schlimmsten Fall muss man sich hinsichtlich nur eines Werkes mit zwanzig bis dreißig verschiedenen Abschriften rumplagen, um auf das potentiell Ursprüngliche zurückschließen zu können.

Warum befindet sich das Joseph Haydn-Institut eigentlich in Köln? Was hat Haydn mit Köln zu tun?

Eigentlich gar nichts. Köln ist mehr oder weniger ein Zufall. Um das Jahr 1950 herum gab es die ersten Bestrebungen, den entsprechenden Trägerverein zu gründen. Als es 1954 dann konkreter wurde, hat man überlegt, in welcher Stadt man das Ganze ansiedeln könnte. Eine der treibenden Kräfte bei der Gründung des Instituts war der Verleger Günter Henle, in dessen Verlag die Haydn-Gesamtausgabe dann ja auch erschienen ist – und bis heute erscheint. Der Henle-Verlag war damals in Duisburg und München angesiedelt. Deshalb sollte es eine Stadt in der Nähe von Duisburg oder München sein. München hat sich nicht interessiert, auch aus Duisburg gab es keine Reaktionen, aber dafür aus Köln. Das Interesse ging von dem Oberstadtdirektor Max Adenauer, dem Sohn des damals amtierenden Bundeskanzlers Konrad Adenauer, aus. Der setzte sich dafür ein, dass die Stadt Köln das Haydn-Institut mitfinanziert. Und bis heute zahlt die Stadt Köln die Miete für die Räumlichkeiten, in denen wir jetzt gerade sitzen.

Haydn-Institut-Stillleben am Kamin.
Haydn-Institut-Stillleben am Kamin.

Glauben Sie – nach all Ihren intensiven wissenschaftlichen Studien – zu wissen, wer und wie Haydn war? Kennen Sie Joseph Haydn?

[zögert] Das ist eine schwere Frage, die ich mir so noch nicht gestellt habe. Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Wir wissen eigentlich wenig über Haydn. Das ist anders als bei Mozart, dessen Persönlichkeit viel plastischer vor einem steht, wenn man diese vielen überlieferten Briefe von ihm liest. Von Haydn gibt es zwar auch über dreihundert Briefe, aber davon ist der größte Teil geschäftlicher Natur: vor allem Briefe an Verleger. Private Briefe gibt es nur ganz wenige. Das Bild, das wir von Haydn haben, ist geprägt durch die drei bekannten Biographen, die ihn persönlich kennengelernt und nach seinem Tod Biographien über ihn veröffentlicht haben: Georg August Griesinger, Albert Christoph Dies und Giuseppe Carpani. Mit diesen drei Herren hatte Haydn als alter Mann persönlichen Kontakt. Deshalb haben wir alle das bekannte Bild vor Augen: Haydn als ein humorvoller, freundlicher, manchmal etwas seniler alter Herr. Und genau das hat das Bild von ihm als Person geprägt, aber – wie ich meine – auch den Zugang zu seiner Musik: Sie wird immer als humorvoll und ausgeglichen verstanden. Andere Arten von Tief- und Hintersinn, die in dieser Musik stecken, werden allzu leicht übersehen. Natürlich auch, weil Haydn in den musikgeschichtlichen Wirkungsschatten Mozarts und Beethovens geriet. Dazu haben letztlich auch die Gesamtausgaben beigetragen. Eine Mozart-Gesamtausgabe gab es ja schon im 19. Jahrhundert. Die erste Haydn-Gesamtausgabe ist 1907 gestartet, aber schon nach elf Bänden eingegangen. Den nächsten Versuch machte man 1950: nach vier Bänden eingegangen. Und jetzt also unser Projekt, das auf 113 Bände, die fast alle vorliegen, angelegt ist.

Zwei Mitarbeiterplätze.
Zwei Mitarbeiterplätze.

Zu dem Humor Haydns, den Sie schon angesprochen haben: Die mittleren Sinfonien – allesamt auf Schloss Esterházy entstanden – höre ich nie im Konzertsaal, stets nur die Londoner Sinfonien. Dabei gibt es in den mittleren Werken Haydns Humor auf ganz verschiedene Weisen zu erleben. In dem Menuett der hören wir jeweils acht Takte erst »richtig herum« und dann rückwärts gespielt. Im zweiten Satz der spielt das erste Horn eine Melodie, die für das Instrument so hoch ist, dass zwischenzeitlich fast die Töne wegbleiben. AnschlieSSend ist das zweite Horn dran, das dann die tiefstmöglichen Töne des Horns bringt. Das ist mehr als Humor, das ist auch groSSe Tragik! Wie stellt sich »Tiefgründigkeit« bei Haydn für Sie in der Musik dar?

Ludwig Finscher hat in seinem Buch »Joseph Haydn und seine Zeit« sinngemäß gesagt, Haydns Musik sei Musik für denkende Hörer. Das trifft es ganz gut, weil man vor allem dann Freude an dieser Musik hat, wenn man mitverfolgt, was da eigentlich geschieht. Dann fallen einem Kleinigkeiten auf, plötzliche Abweichungen zwischen Exposition und Reprise, harmonische Überraschungen. Und genau das ist eine ganz andere Form von »Witz« als das, was sich dann manchmal in den Londoner Sinfonien findet. Da sind zum Teil sehr grobe Scherze eingebaut. Für London hat Haydn bewusst für ein großes Publikum komponiert. So hat er ja den berühmten Paukenschlag in der erst nachträglich eingebaut. Seinem Biographen Griesinger berichtete er, dass er sich nicht das Wasser von seinem Schüler Ignaz Pleyel, der für ein konkurrierendes Konzertunternehmen in London tätig war, abgraben lassen wollte. Genau aus diesem Grund habe er solche Überraschungen wie den Paukenschlag eingefügt, um »das Publikum durch etwas Neues zu überraschen, und auf eine brillante Art zu debütieren«. Das ist eben eher »Humor für die breite Masse«. Die Londoner Sinfonien tragen aber trotzdem den feinen Haydn-Humor in sich. Er erfreut damit sozusagen zwei Publikumsschichten gleichzeitig! Sie waren seit jeher schon bekannter als alle anderen seiner Sinfonien. Und das ist der Grund, warum sie von Dirigenten auch heute noch bevorzugt auf die Konzertprogramme gesetzt werden. Man kennt sie halt einfach schon.

War Haydn eigentlich ein wohlhabender Mann?

Am Ende seines Lebens: ja! Als er 1809 starb, da war er – so heißt es – einer der reichsten Bürger Wiens überhaupt. Dazu hat London aber sehr beigetragen. Haydn hatte mit dem Konzertunternehmer Johann Peter Salomon in London einen Vertrag abgeschlossen, der vorsah, dass er nach London reist, die entsprechenden Werke komponiert und selbst als Dirigent aufführt. Für ein einziges solches Konzert in London hat er 4500 Gulden erhalten, wie er selbst in einem seiner Notizbücher vermerkte. Diese Summe entsprach ungefähr dem Dreifachen des Jahreseinkommens Haydns als Kapellmeister beim Fürsten Esterházy.

Das analoge Haydn-Quellenverzeichnis, geordnet nach Gattung.
Das analoge Haydn-Quellenverzeichnis, geordnet nach Gattung.

Bei unserem Rundgang durch das Institut vorhin sprachen Sie von den vielen Haydn untergeschobenen Werken. Was sind die bekanntesten Haydn-Irrtümer in Bezug auf seine Musik?

Das bekannteste Beispiel ist die , die von Anthony van Hoboken in seinem gleichnamigen Haydn-Werkeverzeichnis eine eigene Hoboken-Nummer zugeteilt bekam, also von ihm als »echtes Werk« klassifiziert wurde. Inzwischen hat sich in der Musikwelt allerdings längst herumgesprochen, dass die Kindersinfonie nicht von Haydn ist. Auch die direkt davor bei Hoboken verzeichneten sechs Divertimenti Hob. II:41-46 stammen nicht von Haydn, was dagegen etwas weniger bekannt ist. In dem Divertimento Nr. 46 ist der »Chorale St. Antoni« enthalten, über den Johannes Brahms dann später seine komponierte.

Haydn-Quellen auf Mikrofilmrollen.
Haydn-Quellen auf Mikrofilmrollen.

Gibt es auch bewusste Fälschungen, also neu geschriebene Werke, die Haydn untergeschoben wurden?

Zu Haydns Lebzeiten gab es solche Fälle nicht. Wenn solche Fehler passierten, dann immer verschuldet von Verlegern oder Kopisten, weil sich die Werke weniger bekannter Komponisten unter Haydns Namen besser verkauften. Um mal anzudeuten, mit welchen Dimensionen wir es bei ihm zu tun haben: Neben den 107 echten Sinfonien gibt es laut unserer Kartei 184 weitere Sinfonien, auf denen »Haydn« draufsteht aber kein Haydn drin ist. Bei den Messen ist es noch schlimmer: Es gibt 13 echte Messen, eine weitere Messe von zweifelhafter Echtheit und über 200 »unechte« Messen. In einigen Fällen, wenn »Haydn« ohne Vornamen angegeben ist, bleibt unklar, ob sich die Zuschreibung auf Joseph oder seinen – als Kirchenkomponist seinerzeit berühmteren – Bruder Michael bezieht. In den meisten Fällen können wir den echten Komponisten ermitteln. Vor ein paar Jahren veröffentlichte ein Verlag eine angebliche Missa solemnis Haydns mit der Überschrift »Erstausgabe«. Man tat dabei so, als hätten wir schlecht gearbeitet und einfach etwas ausgelassen. Wir hatten dem Herausgeber der Messe aber schon im Vorfeld ganz klar mitgeteilt, dass sie nicht von Haydn stammt. Es gibt eine Quelle, auf der als Komponist »Mozart« ausgewiesen ist. Auf einer zweiten Abschrift steht »Haydn«, auf einer dritten Quelle gar kein Komponist und auf einer vierten Abschrift »Václav Pichl«. Ich erinnere an die alte musikphilologische Faustregel: »Gibt es bei einer Komposition mehrere Zuschreibungen, ist das Werk meistens von dem unbekanntesten Komponisten.« Das hat sich in dem besagten Fall auch bestätigt. Und Pichl hatte natürlich in keiner Weise die Absicht, sein eigenes Werk als ein Werk Haydns auszugeben. Die falsche Zuschreibung kam wahrscheinlich durch die Überlieferung in einer Klosterbibliothek zustande. Ein Versehen. Bewusste Fälschungen hat es aber viel später, nämlich in der heutigen Zeit, sehr wohl gegeben. 1993 gab es den berühmten Fall der angeblichen »Wiederentdeckung« von sechs verschollenen Klaviersonaten. Der Fälscher hat die jeweils zweitaktigen Incipits zugrunde gelegt, die Haydn in einem von ihm selbst angelegten Werkkatalog notiert hat – und die Sonaten auf dieser sehr schmalen Basis »vollendet«. Auf diese Fälschung sind damals auch bekannte Haydn-Forscher hereingefallen – nicht allerdings das Haydn-Institut, wo man sofort dagegen protestiert hat.

Welches Werk Haydns wird aus Ihrer Sicht bis heute unterschätzt?

Da ich mich selbst als Editor sehr mit beschäftigt habe, schmerzt es mich immer, dass dieses Oratorium im Schatten der Schöpfung steht. Ich finde, dass Die Jahreszeiten das viel bessere Werk ist: Bessere Dramaturgie, besseres Libretto. Es ist dabei ein Irrtum, zu glauben, es sei ein weltliches Oratorium! Es ist natürlich auch ein religiöses Werk. Die Schöpfung beschäftigt sich mit der Bibel als »erstem Buch Gottes«, Die Jahreszeiten mit der Natur als »zweitem Buch Gottes«. Es ist ein traditionelles Verständnis, dass die ganze Natur allegorisch aufs Transzendente hin zu deuten ist. Spannend ist auch sein frühes Oratorium . Ich bin froh, dass dieses Stück jetzt ab und zu mal wieder gespielt wird. Außerdem gibt es noch ganze Sektoren in Haydns Schaffen, die lange Zeit wenig Beachtung fanden und jetzt wieder in den Fokus des Interesses rücken, vielleicht auch Dank unserer Gesamtausgabe. Wunderschön sind beispielsweise die . Das sind Volksliedbearbeitungen, von denen es insgesamt 429 Stück gibt. [schmunzelt] In diesen Liedern kommt auf ganz besondere Weise Haydns Kunst zum Vorschein, zu diesen schlichten Melodien eine zwar ambitionierte aber eben nie zu artifizielle Begleitung schreiben zu können. Der schottische Volksliedenthusiast George Thomson hatte diese Bearbeitungen für seine Veröffentlichungen in Auftrag gegeben – und war mit Haydns Arbeit sogar zufriedener als mit den ebenfalls von ihm angeforderten Schottischen Liedern Beethovens!

Abschlussfrage: Haydn ist in Deutschland mindestens immer dann präsent, wenn die deutsche Nationalhymne – also die dritte Strophe des Deutschlandliedes – mit dem Text Hoffmann von Fallerslebens gesungen wird. Die Melodie stammt aus dem Kaiserlied Haydns. Sind Sie glücklich, dass »Ihr« Komponist also »in aller Munde« ist?

Nicht unbedingt. Ich würde mir eigentlich sogar eher wünschen, dass man die Melodie – wie sie Haydn auch im Streichquartett op. 76 Nr. 3, dem Kaiserquartett variiert hat – wieder in ihrem historischen Kontext als »Gott erhalte Franz den Kaiser« wahrnehmen könnte und nicht »Einigkeit und Recht und Freiheit« oder gar »Deutschland, Deutschland über alles« mithört. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

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