John Adams verdanke ich, dass ich heute kein Snob mehr bin. Während meines Kompositionsstudiums war ich völlig eingenommen vom für junge Männer scheinbar typischen und bedingungslosen Vertrauen in das eigene Wissen und den eigenen Geschmack. Glücklicherweise sah ich mich dann mit derart vielen gegensätzlichen Meinungen konfrontiert, dass ich anfing zu zweifeln: Was, wenn ich doch nicht alles wusste?  

Eines Tages entschloss ich, in die Musikbibliothek zu gehen, irgendeine CD aus dem Regal zu ziehen und sie mir komplett anzuhören, egal, welche Vorurteile ich gegenüber der Musik hätte. Die erste Aufnahme, die ich erwischte, war von Nonesuch, John Adams’ Harmonielehre. Beim vierten hämmernden e-Moll-Akkord wurde mir zu meiner eigenen Freude bewusst, wie begrenzt mein Horizont war. Nicht nur, dass es ein spektakuläres Stück ist, es sprach mich körperlich sofort an, auf einer sehr tiefen Ebene, und zerschlug damit den brüchigen und völlig überflüssigen Sockel mit der Aufschrift »Intellekt only«, auf den ich die Kunstmusik gehoben hatte.

Aus Nixon in China • Foto Joel Mann (CC BY-NC-ND 2.0)
Aus Nixon in ChinaFoto Joel Mann (CC BY-NC-ND 2.0)

Umso trauriger ist es, dass, während meine Ohren sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr öffneten, Adams’ Output immer uninteressanter wurde. Während die Musik, die er Anfang des 21. Jahrhunderts schrieb, reich und großzügig war, so wirken seine neueren Werke wie das Schreien eines alten Miesepeters, der nicht will, dass Kinder auf seinem Rasen spielen.

Das ist besonders schade, weil Adams eine wesentliche Rolle bei der Wiedereinführung der Tonalität und der romantischen Vorstellung von Ausdruck in die zeitgenössische klassische Musik spielte. Mit Blick auf sein Alter und die Qualitäten seiner frühesten Werke wird er oft in einem Atemzug mit Steve Reich und Philip Glass, quasi als ein Triumvir des Minimalismus, genannt. Allerdings waren Wiederholungen zwar ein essentieller Bestandteil seiner Technik, aber nur ein Mittel, nicht der Zweck. Was Adams mit Shaker Loops andeutet und mit Harmonielehre dann zur Vollendung bringt, ist der Einsatz der reinen Schönheit der Prozessmusik, um die Auflösung der Form emotional resonieren zu lassen.

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Damit fand er einen Ausweg aus der Sackgasse, in die sich der Minimalismus manövriert hatte und eine Möglichkeit, westliche klassische Musik in unserer Zeit weiterzuentwickeln. Und wie er ihn fand, kommt einer Erleuchtungsgeschichte gleich: Wie er in seinen faszinierenden Memoiren Hallelujah Junction: Composing an American Life (2008) erzählt, fuhr er durch die kalifornischen Berge und hörte den ersten Akt der Götterdämmerung, als ihm plötzlich auffiel, wie sehr Wagners Art des Ausdrucks, der dessen Gefühle, Gedanken und Werte den Hörenden als etwas Wunderschönes und Bewegendes nahebringt, auch in ihm Resonanz fand.

Ausgehend von dieser Erkenntnis schrieb Adams Meisterwerke, die die Grenzen der westlichen klassischen Musik ausweiteten und ein neues Publikum für moderne und amerikanische Musik begeisterten. Seine Musik lebte aus dem Moment heraus, und transportierte doch ähnliche Werte, befriedigte auf ähnliche Weise wie Mahler und Sibelius.

Aus The Death of Klinghoffer • Foto Imagine Communications (CC BY-ND 2.0)
Aus The Death of KlinghofferFoto Imagine Communications (CC BY-ND 2.0)

Das hat ihn zu dem »großen amerikanischen Komponisten unserer Zeit« gemacht, zum würdigen Erben Coplands, was sowohl Format als auch Popularität betrifft. Seine besten Werke haben eine Kraft, deren dramatischer, mächtiger und doch menschlicher Ausdruck für die Hörenden körperlich spürbar ist. Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Konzert des San Francisco Symphony im Jahre 1995. Ein Typ, der hinter mir saß, beschwerte sich, dass nach der Pause und damit nach einer Rossini-Ouvertüre und einem Haydn-Cellokonzert Adams’ Harmonielehre gespielt werden sollte. »Warum setzen sie für die zweite Hälfte was Modernes aufs Programm? Da hauen doch alle ab«, maulte er und fuhr – überraschenderweise, denn die San Francisco Opera hatte schon bemerkenswerte Inszenierungen von Nixon in China und The Death of Klinghoffer auf die Bühne gebracht – fort: »Ich kenne Charles Ives, aber wer ist dieser John Adams?« Während der lautstarken Standing Ovations nach der zweiten Hälfte verkündete derselbe Mann beinah schreiend: »Das war das beste Konzert meines Lebens!« Standing Ovations sind bei Adams-Konzerten nach wie vor keine Seltenheit und Harmonielehre ist ein Meilenstein des symphonischen Komponierens, aber Adams wurde im Laufe der letzten 15 Jahre immer unwichtiger. Wie konnte das passieren? Wann lässt sich die Veränderung festmachen?

2015 feierte Scheherazade.2 in New York Premiere, ein großangelegtes Violinkonzert, das Adams als »Sinfonie für Geige und Orchester« bezeichnet hat. Adams erklärt dem Publikum von der Bühne aus, dass das Stück durch die Solistin Leila Josefowicz die dunkle Geschichte einer jungen Frau erzählt, die den patriarchalen Strukturen ihres in der Tradition verhafteten Dorfes widersteht und schließlich entkommt. Er betonte, dass die soziale Benachteiligung der Frau falsch sei – ich fragte mich, wem diese Botschaft bisher entgangen war. Und warum in einer Zeit, in der Musikinstitutionen scheinbar beinahe alles dafür tun, um ein jüngeres, breiteres Publikum zu erreichen (unter anderem, nutzlose Consultants und Marketing-Profis mit Geld überhäufen), niemand Adams davon abhält, sein Publikum so von oben herab über Offensichtliches zu belehren.

Während Reich und Glass immer organischere Formen finden, die harmonische Bandbreite ausweiten und ihrer Tonsprache Verzierungen und Chromatisches hinzufügen, scheint Adams einfach irgendwann stehengeblieben zu sein. (Er sei »nicht so neugierig« wie sein Sohn, erklärte er VAN 2016). Viel von dem, was er heute komponiert, klingt einfach genau wie das, was er früher auch gemacht hat. An und für sich ist das nicht unbedingt schlimm: Wenn er seine rhythmische Sprache und seinen Sinn für Form auf neue Besetzungen anwendet, wird seine Musik dadurch erfrischend neu (seine Streichquartette sind sehr lebhafte Beispiele dafür). The Dharma at Big Sur (2003) sticht dabei heraus – hier war die Zusammenarbeit mit der Geigerin Tracy Silverman die notwendige neue Stimme.

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Der Beginn des ersten Satzes aus Scheherazade.2, Tale of the Wise Young Woman – Pursuit by the True Believers, lullt das Publikum ein und weckt Erwartungen auf etwas Besonderes, das fern am Horizont heraufzieht. Stattdessen folgt jedoch ein Autorennen, das einige Klischees bedienen würde, wenn es nicht so schlecht wäre: ein »Achtung, jetzt bitte einmal kurz Angst haben«-Akkord, dann eine Art Battle zwischen Solistin und Orchester mit aufwärtssteigende Skalen mit Rhythmen, die klingen, als ob jemand ohne besonderes Talent eine Kampfszene für eine Hamlet-Laientheaterproduktion übt. Das ganze Stück hindurch zieht sich dieses Problem: Fließende, überzeugende Abschnitte werden durch Musik konterkariert, die funktioniert wie Adams’ Mansplaining. Wäre er ein Schriftsteller, lautete der Vorwurf: Er berichtet, was er eigentlich zeigen sollte.

Auch seine Zusammenarbeit mit dem Librettisten Peter Sellars trägt keine nennenswerten künstlerischen Früchte mehr. Alles, was die beiden nach dem außergewöhnlichen El Niño angegangen haben, ist gescheitert.

Aus Doctor Atomic • Foto Sascha Pohflepp (CC BY 2.0)
Aus Doctor AtomicFoto Sascha Pohflepp (CC BY 2.0)

The Gospel According to the Other Mary ist genauso monoton wie Doctor Atomic. Beide Werke beginnen mit einer Krise, in beiden versucht Adams, die Gefühle des Anfangs im Verlaufe des Stücks immer wieder hervorzurufen. Nachdem die Musik alles andere als subtil beginnt, hat sie im weiteren Verlauf nur zwei Möglichkeiten: entweder unmissverständlich weitermachen – Konflikte sind, egal ob innerlich oder äußerlich, immer hoch und laut und verdrängen jede Tiefe, die in El Niño noch entstehen konnte – oder verwirren, indem wichtigen Gesangsparts eine nervöse, störende Begleitung unterlegt wird, wie in In My Own Quietly Explosive Here und Don’t Touch My Left Arm. Am Ende wirkt, was besonders tief bewegen soll – die Kreuzigung – wie ein Ausschnitt aus einem der schlechteren Hammer-Horror-Filme und erinnert nur entfernt an irgendetwas, das mit dem Christentum zu tun hat.

Während El Niño darauf vertraut, dass das Publikum sensibel in Hören und Wahrnehmung ist, schreibt The Gospel genau vor, was wann gedacht werden soll. »Am Morgen der Auferstehung sind die Frauen die ersten vor Ort, die die Engel sehen und die Kunde von der Auferstehung verbreiten«, erklärt Sellars 2017 der Deutschen Welle. »Deswegen glaube ich, dass die Bibel ihnen einen ganz besonderen Platz einräumt. Wir hören nur nie, was sie zu sagen haben. Wir haben das geändert.« Was dabei herauskommt ist keine Musik, sondern ein Vortrag – ganz abgesehen von der Tatsache, dass es einem etwas unangenehm aufstößt, dass hier nun mal zwei weiße Männer am Werk sind. Und weil Adams jetzt ein »großer amerikanischer Komponist« ist, fürchte ich, dass von ihm noch mehr Werke aus einer ähnlichen Richtung auf uns zukommen.

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In Adams’ neueren Werken vermisse ich Menschlichkeit, Selbstkritik und Humor. Besonders humorvoll war Adams nie. Das zeigt sich schon in seiner mechanischen, autokratischen Kammersinfonie. In diesem Werk versucht er, seine Idee von Cartoon-Musik in die starre Form und Struktur von Schönbergs Kammersinfonie Nr. 1 zu überführen. Adams selbst schreibt, er habe zugehört, wie sein Sohn im Nebenraum Cartoons schaute. Folglich klingt seine Kammersinfonie wie Musik, die ein älterer Verwandter schreiben würde, nachdem ihm irgendwer erklärt hat, was Cartoons sind. Das ist so schräg wie Großeltern, die plötzlich anfangen, ihr Enkelkind »Digga« zu nennen.

Am meisten hat mich von seinen Werken Absolute Jest enttäuscht. Die New Yorker Premiere mit dem San Francisco Symphony und Michael Tilson Thomas war eine endlose Aneinanderreihung von Noten, ein Strom von Tönen, der zwischendurch von kleinen Schnipseln aus Beethovens Streichquartetten Op. 131 und Op. 135 unterbrochen wurde. Diese wirkten völlig willkürlich platziert, neben Fragmenten von Stravinsky. Beethoven verlor durch Adams’ schwerfälligen wiederverwerteten Rahmen; das ganze Stück wirkte wie das eines Komponisten, der zu viel um die Ohren hat, um einen eigenen Gedanken zu fassen oder sich um das Publikum zu kümmern (und damit ziemlich weit weg von dem Credo, welches Adams auf seiner schicksalhaften Autofahrt durch die kalifornischen Berge entdeckte.)

Die Originalversion war eindeutig verbesserungswürdig. Bei einer späteren Aufführung einer überarbeiteten Version durch das New York Philharmonic standen im Programmheft als Komponisten »John Adams und Beethoven«, was wenigstens ehrlich war, die Musik aber auch nicht besser machte. In Absolute Jest wird Adams’ große Gabe, harmonische Auflösung in modernen Kontexten wiederkehren zu lassen, sinnlos verschwendet. Die Spannung, ohne die es keine Auflösung geben kann, liefert hier Beethoven, sie wird abgekupfert vom Beginn seiner 9. Sinfonie, dem zweiten Satz und dem Vivace seines Streichquartetts op. 135.

Beethovens punktierte Rhythmen und Synkopen sind es, die Absolute Jest vorantreiben. Immer, wenn Adams die rhythmische Führung übernimmt, so wie nach der Hälfte des ersten Satzes, verliert die Musik alle Energie. Das einzige Lohnende an Absolute Jest ist, dass Adams’ schwülstiges, mit sich selbst beschäftigtes Komponieren eine gewaltige Freude an Beethoven freisetzt.

Zu seinen Hochzeiten war Adams der große amerikanische Komponist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie Stravinsky auch konnte er mit seinen Fähigkeiten sowohl das Fachpublikum als auch eine breitere Masse ansprechen. Warum der Kern seines Schaffens, von Shaker Loops bis Hallelujah Junction so einen hohen Stellwert erreichen konnte, hat vor allem zwei Gründe.

Aus Doctor Atomic • Foto Sascha Pohflepp (CC BY 2.0), via Wikimedia Commons
Aus Doctor Atomic • Foto Sascha Pohflepp (CC BY 2.0), via Wikimedia Commons

Der erste ist die Librettistin Alice Goodman. Dass Doctor Atomic, Adams’ Oper zu einem Libretto von Peter Sellars, so schlecht ist – der Ausdruck statisch, ermüdend, trotz nervenaufreibender Entschlossenheit, abgesehen von der einen guten Arie Batter my heart – unterstreicht nicht nur, wie großartig Adams’ ersten beiden Opern sind, sondern auch, wieviel von ihrer Menschlichkeit und Dramatik schon im Libretto angelegt ist. Auch ihre Sprache ist von Grund auf gesanglich (Batter my heart ist vielleicht auch darum eine der großen zeitgenössischen Opernarien, weil sie die Poesie John Donnes als Text verwendet).

Die andere besondere Qualität der besten Werke Adams’ ist, dass sie nichts aussagen wollen. Als er Musik schrieb, die keinen anderen Inhalt als seine Traumbilder hatte, war das Ergebnis oft großartig; als er seine Kompositionen mehr und mehr als Medium nutzte, um Leuten aufzudrängen, was er über bestimmte Dinge dachte, litt die Musik. Meine pflichtbewusste Auseinandersetzung mit seinen neueren Werken bringt mich immer wieder zurück zur Grand Pianola Music. In den letzten zwei Spielzeiten habe ich in New York zwei Aufführungen des Stücks erlebt – eine von Juilliards Neue Musik Ensemble AXIOM, die andere vom International Contemporary Ensemble beim Mostly Mozart Festival –, die mich wieder einmal überzeugt haben, dass das seine beste Arbeit ist: nichts als Form, Farbe, Strukturen, Harmonien und dramatische, klanglich erfüllende Gesten. Es ist, als ob Adams nichts wollte als etwas Schönes zu schaffen. Das wäre genug. ¶