Fragt man an Jugendorchester-Probenwochenenden – also zwischen Alkoholabusus, Skat-Exzessen und hornhautabraspelnden Streicher-Registerprobenquälereien – alle Beteiligten nach den absoluten Symphonie-Komponisten-Favoriten, dann stehen am Ende solcher Umfragen meistens die Namen Schostakowitsch, Mahler und Brahms. Und, mit kleiner Einschränkung: Tschaikowsky.

Bieten Schostakowitschs und Mahlers Orchesterwerke als symphonische Ego-Shooter das spätpubertär gut er- und gelittene Äquivalent zum früheren Genuss von Tarantino-Filmen, so steht Brahms nicht für Splatter-Wonne, sondern für das – nun ja – Gegenteil. Für das Reinlegen in den Klang, für die angestrebte Perfektion, für das innen Bewegte und dabei äußerlich so Strukturierte, nach dem man sich vielleicht in diesem Alter sehnt. Brahms ist nicht »cringe«, macht aus seinen Gefühlen keine Noten-Show. (Bei ihm findet ihr die Gefühle eher in den Show-Notes. Also weiter unten.) Und Mahler und Schostakowitsch sind über »cringe« hinaus. Beyond cringe.

Mahler bricht außerdem angenehm mit bestimmten Instrumentationstraditionen, schreibt Kuhglocke, Mandoline und Hammer vor. Der Anschein von Anarchie: Junge Menschen lieben das. Bei Schostakowitsch schnarrt die Militärtrommel. Tschaikowsky dagegen waren solche Instrumentationsspielereien fremd. Er knüpfte in dieser Hinsicht eher an die eine Zeit lang als »ideal« empfundene Orchesterbesetzung einer »normalen« Beethoven-Symphonie an – und fügte eine Basstuba hinzu. Und: sich selbst. Tschaikowsky, der große Leidenschaftliche. Der, der seine Liebe zu Männern in Russland nicht leben durfte. Der, der all seine Liebe (allgemein) in seine Musik hineinlegte. Der große Instrumentator, ein fantastischer Melodienfinder, ein Kinderreichschöpfer, ein Dramatiker. Nicht unbedingt das Ausbrechen aus der »gelernten« Harmonik. Sondern Kompaktheit, starke Themen, Klage, Hoffnung, Pathos. Amen (aber ohne den religiösen Aspekt). Die Symphonie als offenes Seelenbuch. Ein Seelenbuch mit ordentlichem Wumms dabei!


Auf der »Tschaikowsky für Kinder«–Hörspielkassette meiner Kindheit war von der Homosexualität Tschaikowskys – genauer: von der Liebe zu seinem ehemaligen Schüler Iosif Kotek (1855–1885) – noch nicht die Rede. Hierzulande brauchte man bekanntlich noch viele Jahrzehnte, um gleichgeschlechtliche Partnerschaften auch von Staatsseite aus anzuerkennen, während man in Tschaikowskys russischer Heimat bis heute Homosexualität politisch gewollt unterdrückt und gewaltsam verfolgt; so mancher russische Tschaikowsky-Forscher leugnet sogar dessen Homosexualität.

Es kann einem schon kalt werden in diesen Tagen. Nicht nur aufgrund der aktuellen Jahreszeit. Tschaikowskys menschlich eisige Erfahrungen hinterließen ebenso Spuren in seiner Musik. Ist es beispielsweise Zufall, dass fünf seiner sechs Symphonien in Moll stehen? Ist in der Wahrnehmungsgeschichte der Tschaikowsky-Symphonien irgendwie seltsam hängengeblieben, dass ausnahmslos alle Werke in kalten Monaten uraufgeführt wurden? Die Symphonien No. 1 und No. 4 im Februar (1866/1878), die Zweite im Januar (1873), die Dritte und Fünfte im November (1875/1888) und die Sechste – die PathétiqueEnde Oktober (1893).

Sind die sechs Symphonien Tschaikowskys demnach allesamt schicksalsschwangere Tongemälde voller Dunkelheit und depressiver Gedanken? Kein Licht, keine Hoffnung und keine tänzerische Freude? Gehen wir stets umdüstert und voller Traurigkeiten im Herzen nach Hause nach dem Hören einer Symphonie Tschaikowskys? (Um die Antwort vorwegzunehmen: nein.) Viel zu häufig wird behauptet, diese oder jene Musik sei so schicksalsträchtig wie sonst nur was. Jene Pianistin, jener Komponist hätte so ein schweres Leben gehabt. Oder etwa: In Tschaikowskys Musik käme die ganze Traurigkeit seiner Existenz zum Ausdruck. Als sei es allein das! So ein Quatsch. Es gibt kaum lebensfrohere Musik als die von Tschaikowsky. Lebensfroh auch da, wo sie traurig, hereinbrechend wie ein Sommergewitter beim Campen im Bayerischen Wald sein kann. Traurigkeit ist ja immer auch Ausdruck von Lebensfreude; denn Traurigkeit kann nur an gefühlter, erlebter Fröhlichkeit gemessen werden. Und nebenbei setzen laute, dramatische Orchesterpassagen im Hirn etwas frei, was zu einem Spaßerleben führt. Archaik, ohne dabei selbst in Lebensgefahr zu schweben.

ANZEIGE

1. Satz: Andante – Scherzo. Allegro con anima

Tschaikowskys Symphonie Nr. 5 e-Moll 64 entstand also 1888 und wurde im selben Jahr – am 17. November – in Sankt Petersburg erstmals aufgeführt. In ungewöhnlicher Instrumentation wird das Hauptthema des ersten Satzes (Andante – Scherzo. Allegro con anima) als hohl-röhriges Ohrenmerk-Mobiliar auf die Ausstellungsfläche geschoben: Mit Pseudo-Pomp stoßen zwei ziemlich alleingelassene Klarinetten »Fanfarenartiges« aus – nur von den tiefen Streichern dünn begleitet. Hier wird nicht gleich triumphgeheult; es sind die Schwierigkeit allen Lebens: irgendwie ausgedrückt in Musik; die tiefen Täler aller späteren – potentiellen – Erfolge müssen schließlich zunächst einmal durchschritten werden, um von oben, vom Gipfelkreuz der Symphonik des äußerst späten 19. Jahrhunderts, Grandioses zu erkennen. Dieses Gipfeltreffen hier hat ein einziges Kreuz: e-Moll eben. Eine in der Musikgeschichte manches Mal als klagevoll und dabei irgendwie »pur« herbeigefühlte Tonart.

Das Klarinettenthema ist wirklich speziell – in dieser Konstellation. Irgendwie ist einem bewusst, dass diese durchaus schon präheroischen Töne irgendwann super laut in der Trompete erklingen werden. In Gestalt von Klarinetten wirkt das Ganze allerdings »falsch«, unzufrieden. Als hätte jemand sich komplett verstellt. »Das bist du einfach nicht!« Tante Anneliese ist nun mal kein Heldenbariton. Und Onkel Heinz kein Countertenor.

Der Beginn von Tschaikowskys Fünfter

Intendierte Falschheit, Negativität, Uneigentlichkeit: Man denkt bei derlei Begriffen – fallen sie im Kontext »großer Musik« – wohl zwangsläufig an Adorno. Aus dessen klugem und herrlich abwertendem Mündchen sprudelte es prickelnd bullshittig heraus, kam die Sprache auf Tschaikowsky. Tschaikowsky, so Adorno in seiner Philosophie der Neuen Musik (1949), porträtiere »noch die Verzweiflung mit Schlagermelodien«. Nein, Teddy, nein! Im Gegenteil. Noch in der vermeintlichen Heroik steckt ein Splitter von Negativität, von Hohlheit und musikbebilderter Hoffnungslosigkeit. Siehe eben beispielsweise die »hohlen Klarinetten« des Beginns von Tschaikowskys Fünfter!

YouTube Video
Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti (1975)

Sehr dicht, sehr geschlossen spielen die Klarinetten des Chicago Symphony Orchestra unter Georg Solti (1975) den ersten Block. Da ist wirklich Stimmung drin! Und zwar unverhohlene Zerdrücktheit. Beeindruckend und emotional völlig angemessen belastend. Wir lassen den Januar in seiner ganzen Kälte in uns hinein und sterben ein wenig dahin. Bei einer Tasse Tee.

Durch die Dichtheit, das Dranbleiben der Instrumente am Klang spannt die Chicago-Aufnahme einen eindrücklichen Bogen bis hin zum nächsten Formteil. Mit Schwung, jähem Näherkommen und feistem Entschwinden wird diese Musik angegangen. Dadurch erscheinen ritterliche Dynamik-Höhepunkte kein bisschen platt, sondern als Konsequenz. Die Klarheit, der Wumms, das Brillante von US-amerikanischen Orchestern passt hier wunderbar, weil die US-Perfektion auf einen absolut fordernden Solti trifft. Groß – vor allem dann, wenn schließlich nach ungefähr sechs Minuten die Geigen auch einmal richtig im Vibrato schluchzen dürfen. Ja, na klar darfst du weinen. Komm her, Junge. Ich nehm’ dich in den Arm!

YouTube Video
Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (1976)

Die Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan (1976) inszenieren den besonderen Symphonie-Beginn noch einmal ganz anders. Viel langsamer. Da ist noch viel mehr Tavor® am Start. Um Einiges deutlicher hört man auch, dass hier zwei Klarinetten spielen. Intonationsschwebungen, die die Stelle aber nur noch expressiver herauspulen. Aus dem Schorf der negativen Tschaikowsky-Instrumentation. Herabneigende Gesten ereignen sich dann. Durch die Konzentration auf besondere Momente zerfällt das Ganze ein wenig mehr. Aber das kann diese Musik ab.

Das Allegro con anima unterscheidet Karajan auch nicht unbedingt im Sinne Soltis als Stimmungs-, sondern als Form-, als Gattungskontrast. Für Karajan ist das zunächst ein Trauermarsch – und die bald herbeistürmenden Ausbrüche wirken daher auch umso kriegerischer. Mit militärischen Assoziationen komme ich bei Tschaikowsky aber nicht weiter. Insofern: beeindruckend an Tschaikowsky vorbeigespielt!

YouTube Video
Leningrader Philharmoniker, Jewgeni Mrawinski (Live, 1983)

Live in Leningrad, 1983. Jewgeni Mrawinski und sein Leningrader Orchester. Sehr abgesetzt voneinander fallen die Linien zu Beginn herab. Wirklich: jeder Klang für sich. Das ist von großer Traurigkeit! Voller Innerlichkeit und trauernder Schönheit. Überhaupt: die Phrasenenden. Die überraschenden Sforzati der Einleitung: Nur hier entfalten sie ihre (moderne) Wirkung. Einfach nur fantastisch.

Sehr seriös und doch innerlich bebend nehmen die Leningrader den bewegten Satzteil nun in Angriff. Das muss man erst einmal können: Die Musik so erdenschwer klingen lassen – und doch eingebettet in eine Tradition, aus der heraus aber ganz individuelle Gefühlsäußerungen stattfinden dürfen. (Fast hätte ich »Meinungsäußerungen« gesagt. Aber das kommt in Russland gerade nicht so gut.)

YouTube Video
New York Philharmonic, Leonard Bernstein (Live, 1988)

Gefühlt noch langsamer als die Berliner Philharmoniker lässt Leonard Bernstein die Philharmoniker aus New York den Beginn intonieren. Eine Live-Aufnahme des ganz späten Bernsteins. Aufgenommen 1988 in der Avery Fisher Hall in New York. Im Grunde wie eine Mischung der Aufnahmen aus Chicago und Leningrad. Ein bisschen egaler. Die berühmte Lässigkeit Bernsteins verbrüdert sich stimmungsmäßig mit der Realisierung seines mangelhaften Gesundheitszustands zu dieser Zeit. Dass es so viele Farben der symphonischen Traurigkeit überhaupt geben kann!

Im leisen Gleichschritt und überraschend spießig dann der eintreffende zweite Formteil. Etwas sehr blockhaft vielleicht. Teilweise auch ungenau gespielt. Offenbar wenig geprobt. Ein bisschen sehr aus dem Hemdsärmel improvisiert.

YouTube Video
Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko (Live, 2020)

Derlei würde Kirill Petrenko natürlich niemals zulassen. Hier klingt der Symphonieanfang ganz sanft. Aber nicht im medikamentösen Sinne. Und das ist ein Problem. Bei Sekunde 38 hört man dann eine Ungenauigkeit, die bei Petrenko überrascht. Wobei er selbst dafür nicht so viel kann. Die Klarinette setzt zu spät, beziehungsweise zu abrupt ein. So etwas passiert sonst nur mittelguten Orchestern: Die Unterschiede von Bläsern und Streichern im Zusammenklingen treten zutage. Bei den Streichern schleicht sich der Ton »aus dem Nichts« herein. Die Bläser sind plötzlich da und beginnen erst bei Mezzopiano. Die Streichergruppen allerdings formen hier einen marmorfarbenen Klang, der sich gewaschen hat. Erde, Tiefe, Kompaktheit. Wahnsinnig interessant ist das aber nicht.

Petrenko lässt dann das Orchester ganz leise erste schnellere Schritte machen. Ganz elegant gleiten die Holzbläser flutschig mit hinein. Das ist brillant gespielt, fraglos. Lässt mich aber total kalt.


Bitte unterscheiden!

2. Satz: Andante cantabile, con alcuna licenza

Auf dem warmen Streicherteppich, der nach fünf Takten mittels der auf tiefster Saite spielenden zweiten Geigen klanglich angefüllt wird, kuschelt sich im zweiten Satz (Andante cantabile, con alcuna licenza) das Solo-Horn mit einer wehmütigen Melodie in unser Herz: eine der bekanntesten Horn-Stellen dieser Welt.

Nach eben jenem legendären Horn-Solo entspinnt sich ein äußerst meisterhaft gesetzter Reigen der Holzbläser in Korrespondenz mit den Streichern: unterschiedliche Motive ineinander, stimmungsvolle Polyphonie, Kontrapunkte der Spielarten. Doch wie schwer ist das Horn-Solo eigentlich? Ich habe Christoph Ess gefragt. Er ist Solo-Hornist der Bamberger Symphoniker und Horn-Professor an der Musikhochschule Lübeck. Ess: »Das Horn-Solo in Tschaikowskys fünfter Symphonie gehört mit zum Schönsten und zum Schwierigsten für Horn in der Musikgeschichte. Schön, weil es natürlich den runden, warmen, romantischen, kantablen Horn-Klang wie kein anderes Solo repräsentiert. Und schwierig, weil es einerseits eine sehr lange Stelle ist, wodurch es am Ende anstrengend wird. Und schwierig auch, weil man gut aufpassen muss, dass die Intonation gut funktioniert. Drittens spielt man wirklich fast alleine. Man hat nur die Streicher unter sich. Man ist auf dem Präsentierteller. Und zwar von Anfang bis Ende. Und das macht es dann doch zu einer gefürchteten, aber eben auch wunderschönen Stelle. Viertens kommen sämtliche Artikulationsmöglichkeiten des romantischen Horns hier vor. Das wirklich schön und ausgewogen, kantabel, mit großem Ton zu spielen, ist echt schwierig.«

YouTube Video
Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti (1975)

Wunderschön elegisch bereiten die Streicher aus Chicago dem Horn ein Himmelbett des Singens und Schmachtens. Ganz gelassen, wie ein lächelnder Alter, der sich auf dem Schaukelstuhl über die Existenz seiner im Garten spielenden Enkelkinder freut.

YouTube Video
Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (1976)

Mit mehr Vibrato: die Streicher der Berliner Philharmoniker. Diese bäumen sich auch anders, offensiver (nicht lauter!) vor dem Horn-Solo auf. Dieses erklingt wie von Ferne. Eher landschaftlich als menschelnd (wie noch bei Solti). Das Horn in seinen Fern-Wirkungspotentialen macht hier einen guten Job. Aber da es per se mit »Ferne« assoziiert wird und Karajan nichts gegen diese instrumentale Determination tut, zieht diese Interpretation bei mir mit viel weniger Eindruck vorbei als noch zuvor. Das hat Auswirkungen auf den Interessantheitsgrad des ganzen Satzes in dieser Interpretation. Denn aus der Mitte – Stichwort: Horn-Solo (man hätte es ja fast vergessen) – entspringt kein Fluss … schimmert es eben nicht so interessant wie in der Einspielung aus Chicago heraus. Dort (bei Solti): eine viel differenzierte Emotion, hier (bei Karajan): hochwertiger Standard.

YouTube Video
Leningrader Philharmoniker, Jewgeni Mrawinski (Live, 1983)

Wie Mrawinski das dirigiert und wie die Leningrader Philharmoniker das spielen: Man hört sofort, wie nah diese Musik diesem Orchester war. Mit Bedacht: Der Docht wird erst einmal sanft, weil leicht eingewachst, aus der Kerze oben herausgeprokelt. Damit die Kerze brennen kann. Aber jede Geste für sich! Mit Achtsamkeit! Anderswo nimmt man ein Feuerzeug und hält es einfach ran. Hier, in Leningrad, entsteht die Musik Geste für Geste. Ein kleines Wunder.

YouTube Video
New York Philharmonic, Leonard Bernstein (Live, 1988)

Aus einem dunklen Nichts steigen die Toten-Streicher aus ihren Gräbern empor. Wie in Mahlers Neunter wird in jeden Klang hereingelauscht. Vielleicht hier aber zu schöngeistig. Ich weiß nicht. Zu zäh!

YouTube Video
Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko (Live, 2020)

Viel mehr mit dem Anschein von Normalität, viel weniger auf eine Stimmung hin inszeniert: Petrenko und die Berliner. Schon schön aber, wie man kollektiv vor dem Einsatz des Horns in den Nebenraum geht. Stefan Dohr, der hier wahrscheinlich das Solo-Horn bläst, mit kupfernem Ton.


3. Satz: Valse. Allegro moderato

Im Gegensatz zum zweiten Satz der Pathétique (dort: 5/4-Takt!) ist der dritte Satz der Fünften (Valse. Allegro moderato) ein »echter« Walzer (hier: 3/4-Takt). Wieder ergeht sich Tschaikowsky an seinen tollen Instrumentationsideen: vom Tutti ins Solo – und wieder zurück. Dabei ist der Walzer nicht frei von Sorgen. Immer wieder stagnieren die Melodien, scheinen auf der Stelle zu stehen. Doch da stellt sich auch schon ein sommernachtstraumhafter Geigen-16tel-Reigen ein, der schreibmaschinenhaft Fröhlichkeit und Geschwindigkeit ins Spiel bringt.

YouTube Video
Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti (1975)

Herrlich: ein wenig fies! Schaukelnd, aber dennoch sich der Gefahr bewusst.

YouTube Video
Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (1976)

Heller im Klang, dabei aber langsamer, zäher in der Ausgestaltung. Not my cup of waltz!

YouTube Video
Leningrader Philharmoniker, Jewgeni Mrawinski (Live, 1983)

Säuselnd, mit tollen Horn- und Fagott-Komplementärrhythmuswuppungen dazwischen. Sehr ausdifferenziert. Extrem besonders: Oboe und Klarinette im Verbund anschließend. Bitterer Humor. Hier ist jemand einsichtig, hat aber dennoch Sorgenfalten, negative Krähenfüße im Gesicht. Wir verstehen: Je differenzierter, unalltäglicher ein Gefühl sich bei Tschaikowsky (und dabei gibt es immer mehrere Möglichkeiten!) zeigt, desto besonderer die Interpretation!

YouTube Video
New York Philharmonic, Leonard Bernstein (Live, 1988)

Langsamer, dabei in den Ausfransungen mancher Gesten moderner: Bernstein in New York. Das klingt nach Bruckner, wie er als alter Mann mit Tippelschritten zu seiner geliebten Orgelbank krebst. Traurig, aber wahr.

YouTube Video
Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko (Live, 2020)

Der Walzer, den die Philharmoniker aus Berlin unter Petrenko da aufführen, könnte auch aus einem der Ballette Tschaikowskys entstammen. Das geht aber an diesem Walzer total vorbei. Und hier zeigt sich, dass die große Zeit der Tschaikowsky-Dirigenten längst vorbei ist. Oder wiederkommen muss.



4. Finale. Andante maestoso – Allegro vivace – Meno mosso

Am Beginn des Finalsatzes (Andante maestoso – Allegro vivace – Meno mosso) zitiert Tschaikowsky den Symphonie-Anfang – und schließt den weitläufigen, romanhaften Kreis dieses Werkes. Das von Punktierungen gekennzeichnete Thema ertönt hier jedoch in den Streichern – die Klarinetten begleiteten dieses Mal lediglich. Dann stimmen die Holzbläser auf feierlichste Weise das Thema an und lassen sich von rollenden Streichertriolen meistersingerouvertürenartig begleiten. Alle Linien binden sich zu einem ersten großen Fortissimo-Stau zusammen, aus dem wiederum die Stimmen einzelner Instrumentengruppen heraustreten, um individuelle Klagen zu formulieren. Dann das volle Tschaikowsky-Drama! Nichts bleibt hier mehr auf der Stelle stehen; kein symphonischer Stein auf dem anderen – und kein hörendes Auge trocken. Im krassesten vierfachen (!) Forte erklingt das sublimierte Hauptthema schlussendlich in den Trompeten. Eine Stelle, die ich als Jugendlicher immer fassungslos gehört habe. Wie kann man in dieser Vierfach-Forte-Trompeten-Verdopplung das Thema des Symphoniebeginns so schröttelnd und banal noch einmal bringen? 

Ein erzwungener Triumph? Ja, genau! Deshalb die »banalen« Trompeten. Tatsächlich mag man an das ein oder andere »scheinfrohe« Symphoniefinale Dmitri Schostakowitschs denken – doch freilich unter anderen politischen Vorzeichen und Umständen, deren sich Tschaikowsky noch nicht erwehren musste. Tschaikowsky kämpfte einen anderen Kampf. Aber mit erstaunlich ähnlichen Mitteln, die mit Bejahung nun wirklich nichts zu tun haben.

YouTube Video
Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (1976)

Mit bleckenden Zähnen: die Berliner Philharmoniker unter Karajan. Als würde ein etwas fies aussehender älterer Herr mit unangemessen neu gemachter Kauleiste uns anlächeln. Wir gucken aber nur auf seine Zähne, hören ihm nicht zu. Wobei, ganz ehrlich: Das ist natürlich extrem gut musiziert. Ein bisschen wie Jonas Kaufmann: tolles dynamisches Spektrum. Aber im Ton und in der im Grunde preußisch-bayerischen Grundhaltung nicht so toll.

YouTube Video
Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko (Live, 2020)

Mit merkwürdiger Seichtheit: die Berliner Philharmoniker unter Petrenko. Etwas stumpf im Abgang. Standard. Ich staune hierüber überhaupt nicht. Das ist kompakt gespielt. Anfassbar. Doch in der Seele, da fasst einen zu wenig an. Die Streicher kommen näher, in geschmackvollen Crescendi. Aber der Klang sagt mir nichts, die Interpretation hat zu wenig Haltung. Ja, hier werden verschiedene Emotionen zu Musik. Jedes Schleichen oder jede Vergrößerung atmet nicht den Geist der hier besprochenen früheren Interpretationen. Als wären uns diverse Zwischenemotionen irgendwie hopsgegangen.

YouTube Video
Leningrader Philharmoniker, Jewgeni Mrawinski (Live, 1983)

Mit Attacke und Schwung: die Leningrader Philharmoniker mit Mrawinski am Pult. Großartig, wie man hier Phrasen-Antworten in einem jeweils ganz anderen Ton bringt. Die Streicher halten den Bogen dann kollektiv anders. Dadurch entsteht eine ungemein charaktervolle Interpretation. Meine erste Empfehlung!

YouTube Video
New York Philharmonic, Leonard Bernstein (Live, 1988)

Mit Süffigkeit und Langsamkeit: die New Yorker unter dem alten Bernstein. Ungenau und jäh. Und zäh. Aber deswegen nicht falsch!

YouTube Video
Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti (1975)

Mit sublimer Brutalität exerzieren die Leute aus dem Chicago Symphony Orchestra unter Solti das Finale. Bitter von Anfang an. Mies gelaunt, missmutig – und unfassbar fantastisch! Meine zweite große Empfehlung! Was wäre das schön, wenn man Tschaikowsky-Symphonien ähnlich interessant heute noch hören könnte … Wir warten einmal ab. Vielleicht passiert ja noch etwas. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.