Alma Mahler gehört zu den schillerndsten Persönlichkeiten der Musikgeschichte. Als Komponistin, Mäzenin und Gesellschaftsdame stand sie im Zentrum der Wiener Kunstkreise des frühen 20. Jahrhunderts. Die Nachwelt kennt sie jedoch hauptsächlich als Witwe von Gustav Mahler und als Liebhaberin zahlreicher berühmter Künstler – darunter der Maler Gustav Klimt, der Architekt Walter Gropius und der Schriftsteller Franz Werfel. Der Film Alma und Oskar, der am 6. Juli in die Kinos kommt, erzählt ihre stürmische Liebesgeschichte zu dem expressionistischen Maler Oskar Kokoschka, der sie in seinem Gemälde DieWindsbraut verewigte. Die Wiener Drehbuchautorin Hilde Berger beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Alma Mahlers Lebensgeschichte und berichtet mir am Telefon von ihrer persönlichen Sicht auf den Mythos und Menschen Alma Mahler.

VAN: Im Laufe Ihrer Karriere sind Sie immer wieder aufs Neue zu dem Künstlerpaar Alma Mahler und Oskar Kokoschka zurückgekehrt. 1999 erschien Ihr Roman Ob es Hass ist, solche Liebe, 2020 der Roman Die Windsbraut und 2023 folgte schließlich das Drehbuch zu Alma und Oskar. Was fesselt Sie so sehr an dieser Geschichte?

Hilde Berger: Es handelt sich um eine Beziehung, bei der die Machtverhältnisse vertauscht sind. Er ist der Liebende, sie ist ein weiblicher Don Juan. Und er ist derjenige, der sie mehr liebt als sie ihn. Normalerweise kennen wir dieses Narrativ eher umgekehrt.

Erinnern Sie sich, wann und wo Sie zum ersten Mal mit der Figur Alma Mahler in Berührung gekommen sind?

Das war 1986. Ich habe bei einer Inszenierung von Kokoschkas Theaterstück Mörder, Hoffnung der Frauen mitgearbeitet. Um mit diesem wahnsinnig expressionistischen Text etwas anfangen zu können, habe ich die Autobiografie von Oskar Kokoschka gelesen. Da bin ich natürlich auch auf die Kapitel gestoßen, in denen es um Alma Mahler geht. Direkt danach habe ich die – sehr geschönte – Autobiografie von Alma gelesen, die irgendwann in den 50er Jahren unter dem Titel Mein Leben erschienen ist. Da hab ich sofort gemerkt, wie die beiden um die Deutungshoheit der gemeinsamen Geschichte gestritten haben: Alma zum Beispiel hat behauptet, er sei immer in aller Frühe bei ihr vor dem Haus aufgetaucht, weil er so wahnsinnig eifersüchtig war und kontrollieren wollte, ob sie andere Liebhaber empfing. Er dagegen erzählt das ganz anders. Er sei einfach nur gerne schon früh an die frische Luft, um eine zu rauchen. 

Auch die Berichte der beiden über ihr erstes Aufeinandertreffen in Almas Elternhaus gehen stark auseinander: Kokoschka erzählt, Alma hätte ihn sofort ins Nebenzimmer gezogen und ihm den Liebestod aus Tristan und Isolde von Richard Wagner am Klavier vorgespielt. Bei Alma Mahler klingt das anders: Oskar Kokoschka sei in einem zerschlissenen Anzug aufgetaucht und habe sie zeichnen wollen. Als sie während der Portrait-Sitzung kurz ans Klavier gegangen sei, sei er völlig unvermittelt aufgesprungen und ihr um den Hals gefallen.

Ja, das sind wirklich große Unstimmigkeiten. Kokoschka meinte später sogar, er hätte noch nie eine Frau getroffen, die gleich vom ersten Augenblick an so in ihn verliebt gewesen sei.

In Ihrer Version der ersten Begegnung geht es wieder anders zu: Oskar Kokoschka kommt ins Hause Mahler, um die Totenmaske des kürzlich verstorbenen Gustav Mahler anzufertigen. Wie kam es zu der Entscheidung für diese fiktive Szene?

Das war eine rein künstlerische Entscheidung. Mir hat einfach die Vorstellung gefallen, dass Kokoschka seinen großen Konkurrenten Gustav Mahler quasi ›eingipst‹. Ganz losgeworden ist er ihn trotzdem nie. Durch seinen Nachruhm stand er wie ein Geist zwischen Alma und Oskar. Später hat sie darauf bestanden, Mahlers Totenmaske in ihrem gemeinsamen Haus in Semmering aufzustellen. Das ist wiederum wirklich so passiert.

In diesem Moment soll Kokoschka einen richtigen Tobsuchtsanfall bekommen haben. 

Ja, und letztlich zerbrach die Beziehung  auch in diesem Streit.

Auch an anderer Stelle schildert das Drehbuch die Begebenheiten anders als die Autobiografien der Protagonisten: Im Film spielt Alma Oskar nicht etwa Wagner vor, sondern greift zu einem anderen Komponisten – dem Operetten-König Jacques Offenbach: Sie spielt eine Melodie aus Hoffmanns Erzählungen, die Arie der Olympia.

Damit wollte ich auf das Thema der Puppe anspielen. Olympia ist eine aufziehbare Puppe. Und auch Oskar Kokoschka hat später eine Puppe anfertigen lassen, die Alma Mahler nachempfunden war und mit der er zusammengelebt hat wie mit einem richtigen Menschen. Und so endet dann ja auch der Film: Oskar hat die echte Alma verloren und lebt mit einer Puppe. 

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Ist Alma Mahler Ihrer Meinung nach also mehr Olympia als Isolde?

Weder noch. Olympia ist ja gefühllos, das war Alma Mahler bestimmt nicht. Isolde wiederum ist eine tragische Liebende: Das war Alma auch nicht. Sie hat immer einen kühlen Kopf bewahrt, denn sie musste ja auch irgendwie überleben. Der Abstieg in Kokoschkas Welt der Bohème wäre für sie nicht möglich gewesen. Sie war von der sogenannten guten Gesellschaft abhängig. Sie lebte von Mahlers Tantiemen und brauchte den Kontakt zu Verlagen, Intendanten und Konzerthäusern. 

Sie war in jeder Situation absolut pragmatisch. Als es nach dem Ersten Weltkrieg zu der großen Geldentwertung kam, hat sie ihren dritten Ehemann, den Schriftsteller Franz Werfel aufgefordert: ›Schreib einen Roman!‹ Werfel, der bis dato nur Gedichte geschrieben hatte, daraufhin: ›Worüber soll ich denn schreiben?‹ Und sie meinte: ›Schreib über Verdi, den magst du doch so gern!‹ Daraufhin entstand dann der Roman Verdi. Roman der Oper, der ein riesiger Erfolg wurde. 

Foto © Andrea Klemm / Alamode Film

Im Film sagt Alma den Satz ›Ich bin eben gerne von Genies umgeben.‹ Hat sie das selbst so gesagt oder haben Sie ihr diesen Satz in den Mund gelegt? 

Das findet man so in ihrem Tagebuch. Wissen Sie, um Alma zu verstehen, muss man auch wissen: Sie war Wienerin. Der Wiener sagt selten, was er wirklich meint, das nennt man ›Wiener Schmäh‹. Da ist immer ein Subtext dabei, der im Fall von Alma zum Beispiel heißen könnte: ›Eigentlich seid ihr Männer gar nicht so genial.‹

Könnte der Subtext auch heißen, dass sie sich selbst auch als Genie sah?

Ich glaube, sie war eins! Und sie selbst hat sich auch so gesehen. Sie war ja nicht nur eine begabte Komponistin, sie hatte auch ein untrügliches Gespür für Talente.

Ihr Vater Emil Jacob Schindler war Maler, ihr Stiefvater Carl Moll gehörte der Wiener Secession an. In ihrem Elternhaus gingen Maler, Musiker und Schriftsteller ein und aus, Alma ist unter Künstlern aufgewachsen. Und sobald sie bei anderen ein Talent entdeckt hat, hat sie diese Leute gefördert, aber auch gefordert und ganz klar von ihnen verlangt: ›Ich will, dass du was aus deiner Begabung machst!‹ Und die Geschichte hat ihr durchaus Recht gegeben. Fast alle Künstler, die sie unterstützt hat, kennt man heute noch.

Unter dem Titel Muse oder Macherin lief im Berliner Kupferstichkabinett bis vor kurzem eine Ausstellung über Frauen in der italienischen Kunstwelt. Viele dieser Frauen waren selbst künstlerisch tätig, haben aber gleichzeitig auch berühmten Männern Modell gesessen. Wo würden Sie Alma Mahler innerhalb dieses Spektrums einordnen? Eher Muse oder eher Macherin?

Auf jeden Fall eine Macherin. Sie wurde zur Muse erklärt, so hätten sie die Männer gerne gehabt. Ihr aber wäre das zu wenig gewesen. Ihre Tochter Anna hat sie später so beschrieben: ›Eine unglaublich starke Frau, vor der ich mich oft gefürchtet habe, von der ich aber auch wusste, dass sie mich immer beschützen würde.‹ Anna hat ihre Mutter auch ›Tigermami‹ genannt. Und das war wirklich so: Alma Mahler hat andere beschützt wie eine Tigerin. Arnold Schönberg hat sie über Jahrzehnte emotional und finanziell unterstützt und auch Benjamin Britten hat sie im amerikanischen Exil geradezu aufgepäppelt.

Und trotzdem legen viele Biographen den Fokus auf die Rolle der Muse, die durch ihre Verführungskraft großartige Werke inspiriert. Von der französischen Autorin Françoise Giroud gibt es zum Beispiel eine Biographie mit dem tendenziösen Titel Von der Kunst geliebt zu werden...

Das finde ich sehr schwach. Ich habe viele Biographien über Alma Mahler gelesen und fast überall habe ich den Hass gespürt, den man auch heute noch auf sie hat.

Wie erklären Sie sich diesen Hass?

Sie hat sich die Freiheit genommen, Grenzen zu überschreiten. Bei Männern löst das ganz einfach Kastrationsangst aus. Von Frauen wird sie manchmal geschätzt, aber nie von denen, die über sie schreiben. 

Die Figur der Alma Mahler tritt ja in verschiedenen Verfilmungen auf – etwa in Mahler von Regisseur Ken Russell aus den 70er-Jahren. 2002 kam der Film Windsbraut und 2010 dann Mahler auf der Couch raus. Inwiefern hebt sich Ihre Darstellung von Alma Mahler von den bisherigen ab?

In dem Film von Russell geht es ja hauptsächlich um Gustav. Bei Mahler auf der Couch ist mir Alma zu sehr Opfer. Und das war sie wirklich nicht. Über diesen Bride of the Wind-Film habe ich mich richtig geärgert. Man kann doch das Leben der Alma Mahler nicht so eben in 90 Minuten erzählen! Damit wird man ihr nicht gerecht. Deshalb habe ich mich ja auf diesen einen Ausschnitt über ihre Geschichte mit Kokoschka konzentriert. 

Foto © Aliocha Merker / Alamode Film

Der Film zeigt auf vielfältige Weise, wie Frauen von der Männergesellschaft zum Objekt gemacht werden. Mitunter hat das gewalttätige Auswüchse: Ich denke da zum Beispiel an die Szene, wo einer Schauspielerin während einer Aufführung von Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen ein Brandzeichen in die nackte Haut gebrannt wird. Was empfinden Sie beim Schreiben solcher Szenen?

Was ich dabei empfinde, kann ich nicht beantworten, aber ich kann Ihnen sagen, woran ich dabei denke: Kokoschka hat sich intensiv mit dem Thema Mutterrecht beschäftigt. Es gibt ein gleichnamiges Buch des Schweizer Anthropologen Johann Jakob Bachofen, das sich mit matriarchalen Gesellschaftsformen auseinandersetzt und das damals sehr populär war. Das Thema des Geschlechterkampfs hat Kokoschka sehr interessiert. In Mörder, Hoffnung der Frauen, tritt ein Krieger auf, der einer fremden Frau sein Zeichen einbrennen lässt. Darauf beziehe ich mich in dieser Szene.

Musikalisch dreht sich der Film vor allem um Gustav Mahlers 9. Sinfonie. Aber auch Alma Mahlers Kompositionen kommen vor. Wir sehen sie bei der Arbeit an dem Klavierlied In meines Vaters Garten. Gibt es einen Grund, warum Sie ausgerechnet dieses Lied ausgewählt haben?

Auch da haben wir uns ein bisschen Freiheit genommen. Das Lied hat sie eigentlich schon vor ihrer Hochzeit mit Mahler geschrieben und nicht während ihrer Beziehung zu Kokoschka. Aber weil die Sängerin, die in der Szene auftritt [die Sopranistin Patricia Janečková], das besonders gut singen konnte, haben wir uns dafür entschieden.

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Kennen Sie die anderen Kompositionen von Alma Mahler? 

Klar. Vor einigen Jahren war ich sogar bei einem Kongress zu ihrer Musik. Die Musikwissenschaftler dort haben betont, wie hoch die Qualität ihrer Musik war, wie anspruchsvoll und wie modern. Sie war ja Schülerin von Alexander von Zemlinsky gewesen und hat schon als junges Mädchen komponiert. Für einen ihrer Notenbände hat sogar Oskar Kokoschka das Titelbild gestaltet. Leider sind nur einige ihrer Lieder erhalten geblieben.  

Wie viel von Almas Persönlichkeit steckt in ihrer Musik? 

Da bin ich natürlich ein bisschen überfragt, aber ich würde sagen, Almas Musik ist ein bisschen widerborstig. Ich finde sie immer noch sehr schwierig zum Zuhören, ganz anders als die Musik von Gustav Mahler. Bei ihm schwimmt man förmlich weg und möchte weinen. Das ist bei ihr nicht so. Alles ist ein bisschen kopfgesteuerter. Diese Mischung aus Bauch und Kopf war ja überhaupt sehr charakteristisch für sie. 

Gustav Mahler hatte ihr das Komponieren untersagt und auch ihr späterer Ehemann, der Architekt Walter Gropius, sah in ihrer Liebe zur Musik nur eine Freizeitbeschäftigung. Wäre Alma Mahler unter anderen Umständen zu einer großen Komponistin herangereift?

In der damaligen Zeit wäre das sicher sehr schwer gewesen. Ich glaube nicht, dass sie es als Frau geschafft hätte. Das wusste sie und das hat sie sicher auch geschmerzt. Kokoschka, dem die Musik eher fremd war, konnte das nicht nachfühlen. Das ist sicher auch mit ein Grund, warum die Beziehung zwischen beiden gescheitert ist.

Was hat die beiden miteinander verbunden? 

Der Sex. Almas erster sexueller Kontakt war ja mit Mahler – einem kranken und um zwanzig Jahre älteren Mann. Sie haben in getrennten Zimmern geschlafen und immer wenn er zu ihr kam, hat es sie regelrecht geekelt vor ihm. Dann kam Walter Gropius –  jung, schön und vornehm. Und dann eben Kokoschka, so ein richtiger Bauer vom Land. Sie war für ihn die große Liebe und es hat ihr geschmeichelt, dass er sie so gebraucht hat. Er war ja völlig besessen von ihr, hat jahrelang nur sie gemalt und konnte nicht arbeiten, wenn sie nicht in der Nähe war. 

Foto © Aliocha Merker / Alamode Film

Ist Alma Mahler eine Pionierin in Sachen sexueller Selbstbestimmung?

Eine Pionierin ist sie auf jeden Fall. Dafür wurde sie von den Männern entweder verehrt oder angefeindet. Und das ist eben auch heute noch so. ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).