Vor einer Vorstellung vom ›Goldenen Handschuh‹ im Theater sitzen die Schauspieler Charly Hübner und Rocko Schamoni in der Maske: »Ich war schon ganz zugekleistert, Rocko wurde gerade zugekleistert – da habe ich ihn gefragt: ›Rocko, die von Ensemble Resonanz wollen, dass ich über Mahler rede, mit einem Gesprächspartner. Könntest du dir das vorstellen?‹ ›Was sollen wir da genau machen?‹ ›Wir reden da über Mahlers Neunte irgendwie … über Tod und so.‹ ›Ah ja, gut, machen wir das mal.‹« Gesagt, getan. Jetzt sitzen die beiden auf der Bühne des Bunkersalons auf St. Pauli. Tim-Erik Winzer vom Ensemble Resonanz sorgt für die passenden Musikeinspielungen.
Rocko Schamoni: Das Interessante finde ich bei dieser Musik – bei klassischer Musik sowieso: dass die Gefühle, die erzeugt werden, bei allen anders sein können. Und vor allem haben wir hier bei Mahler auch noch einen Zeitsprung von über hundert Jahren. Gefühle ändern sich ja über die Zeit. Damals sind die Leute wegen anderer Dinge an die Decke gegangen als heute. Vor zweihundert Jahren hat man sich noch wegen jedem Scheiß duelliert, da brauchte es nur einen kleinen Anlass und die Leute haben sich totgeschossen. Fühlen wir also das, was Mahler gemeint hat? Fühlen wir das, was er in uns auslösen wollte? Können wir das noch fühlen? Ich hab zum Beispiel gerade gespürt: Hoffnung, Sehnsucht, irgendjemand geht, irgendetwas ist in Gefahr, er oder sie möchte es nicht loslassen. Es steht etwas auf dem Spiel, aber es ist noch nichts passiert.

Charly Hübner: Zwei Jahre vorher ist Mahlers Kind gestorben, Mahler ist klar, dass seine Frau einen Geliebten, Walter Gropius, hat. Ich sehe in dem Stück eher ein Gehen. Und einen hoffnungsvollen Blick nach oben. Da fährt aber immer irgendwas rein – ein Gedanke, eine Angst, eine Tatsache. Vielleicht ist auch nur die Butter schlecht. In einem Brief regt Mahler sich tierisch über die schlechte Butter von einem Bauern auf. Das Tolle an dem ersten Satz ist ja, dass das jetzt noch eine Viertelstunde so weitergeht. Und es bleibt bei diesem Versuch, diesem Thema, diesem ›dö-dö-dö‹ – eigentlich nur zwei Tönen und dann bricht es schon immer wieder weg. Das war für mich als Laie ein totales Phänomen, immer wieder zu merken: Es ist wie eine Aufeinanderhäufung von Versuchen, dieses eine Thema – das vielleicht das Leben ist, oder die Liebe oder was auch immer – überhaupt in eine Form zu kriegen.

Charly Hübner: Den Brief habe ich ausgewählt wegen der Formulierung ›vis à vis de rien‹: dass jemand vor sich steht und auf einmal das Gefühl hat, dass alles zerbröselt ist, neudeutsch Burnout oder Midlifecrisis vielleicht. Alles, was da später reininterpretiert wurde, dass er da schon die Schrecken des 20. Jahrhunderts vorausahnt, kann ich nicht so richtig ernstnehmen in Bezug auf die Emotionalität im Komponieren.
Rocko Schamoni: Warum nicht?
Charly Hübner: Der konnte ja nicht ahnen, dass Hitler …
Rocko Schamoni: Ja, aber er war Jude und ist als Jude angefeindet worden in Österreich und hat darin schon ganz viel von dem spüren müssen, was auf alle anderen auch zukommt.
Charly Hübner: Ich hab das Gefühl, dass es bei ihm diesen Rahmen erstmal gar nicht gab. Diese ersten sieben Minuten, die wir gehört haben, sind ein fragiles Sich-Herantasten über verschiedene Instrumente, eine musikalische Übersetzung der Vielfältigkeit der inneren Suche. Für mich war der Schlüssel zu dieser Sinfonie: Mahler beherrscht die Kunst des Komponierens, hat das innere Ohr für so eine Orchestrierung und hat schon acht Sinfonien geschrieben, die letzte war ein Riesenknaller, ein Feuilleton- und Publikumserfolg. Und jetzt ist er durch Erschütterung plötzlich so fragil, dass er wieder von vorne anfangen muss, mit 49 Jahren.

Rocko Schamoni: Dazu kommt noch, dass die Klaviatur der Emotionen damals noch gar nicht fertiggeschrieben war. Es gab natürlich eine klassische Klaviatur der Emotionen, die lesbar war, aber er hat sie zu seiner Zeit umdefiniert und neu eingestellt. Da muss man erstmal neu fühlen lernen. Und er hat vielleicht als Erster Gefühle in so einer Komplexität auf den Punkt gebracht. Je älter er wurde, desto besser, wahrscheinlich.
Charly Hübner: Nach 23 Minuten scheitert es dann ja auch – und dann kommt der 2. Satz. Und das finde ich total interessant:
Ich denk da immer an Schifferklavier, Volkstänze. Da hat jemand eine Depression oder Krise und geht jetzt da in Süddeutschland raus und trifft Leute, die feiern Sommerfeste, Hochzeit … als ob er versucht, sich aus dieser Krise rauszureißen. Mahler wurde attestiert, dass er bewegungssüchtig war. Der Bühnenbildner Alfred Roller beschreibt an einer Stelle, wie er mal total erstaunt war, wie durchtrainiert Mahler war. Der wirkte ja so klein und zierlich, er war eigentlich so ein Erik Zabel. Mahler hat all das gemacht, für das ich ein bisschen faul bin: viel schwimmen, den Berg hochrennen, lange wandern. Und das alles durfte er in diesem Sommer nicht. Er hat einen Herzfehler diagnostiziert bekommen, deswegen war für ihn all das, was für andere gesund ist, nicht richtig. Aber spazieren gehen konnte er.

Rocko Schamoni: Er will hier einen Gang von sich heraus in die Welt zeigen. Wenn du heute aus dir rausgehst, würdest du vielleicht Geräusche von der Umgehungsstraße bringen. Die Intention dieser Stelle ist ja: Ich zeige einen Sommertag, mit leicht satirischem Unterton, bevor es ganz schlimm wird.
Tim-Erik Winzer: Ich frag mich immer, ob Gustav Mahler nicht einfach nur viel schamloser war als alle seine Vorgänger. Die in Frankreich zum Beispiel fanden das total scheiße, dass der einfach alles so vor sich hergetragen hat, jede Emotion. Der hat was Ungelenkes.
Charly Hübner: Spielst du das gerne, Tim? Ist das schwierig?

Tim-Erik Winzer: Das gehört tatsächlich mit zum Schwersten für Orchester. Deswegen spielen Orchester das mittlerweile auch gerne, weil jeder zeigen kann, was er drauf hat. Das macht auch den Charme älterer Aufnahmen aus, dass die Orchester damals noch nicht so vertraut waren mit den Schwierigkeiten. Da klingt dann vieles noch risikobeladener, als es heute bei den Berliner Philharmonikern klingt, die das einfach so gut spielen können, wie Mahler sich das nie hätte vorstellen können. Die haben eine Wärme, die da vielleicht gar nicht hingehört.
Charly Hübner: War es wohl wichtig für Mahler, wie das ankam? Wollte er nicht vielleicht einfach da musikalisch für sich begreifen, was er sieht und empfindet? Und dafür einen Klangraum bauen?
Charly Hübner: Hart, ne? Ich meine: Der Mann war gerade ein Jahr tot! Da denkt man: Alter, reiß dich doch mal zusammen! Das Trauerjahr ist noch nicht mal rum und da wird schon nachgetreten. Rocko, du machst ja Pop, denkst du auch schon immer über die Wirkung nach? Oder verschwindest du irgendwann so im Song oder in der Melodie, dass dir die Wirkung erstmal egal ist?
Rocko Schamoni: Manchmal hat man Probleme privater Natur und es drängt derart im Herzen, dass man das umsetzen muss: diese Gefühle irgendwie aus sich rauskriegen und ihnen ein angemessenes Kleid geben. Ein Problem zu benennen heißt in gewisser Weise ja auch, Herr des Problems zu sein. Und das ist vielleicht auch ein Versuch, den Mahler immer wieder unternimmt, mit all den krassen Methoden, die er anwendet. Da kommt dieser junge Gropius und erobert seine Frau im Sturm und Mahler zerbricht daran fast. Wohin dann mit der ganzen Verzweiflung? Walter Gropius hat ja einen Liebesbrief an Alma geschrieben und den fälschlicherweise an Mahler adressiert und der öffnet den Brief und liest das – hammerhart!
Charly Hübner: Alma ist da ja gerade mit dem anderen Kind auf Kur in Italien. Und Mahler weiß ja nicht: Hat der Gropius vielleicht ein Interrailticket? Und er, Mahler, ist allein in Toblach.

Rocko Schamoni: Dann verblutet er auch noch fast an seinen Hämorrhoiden – mehrfach! Das muss man sich mal vorstellen, dass Menschen damals an Hämorrhoiden verblutet sind…
Charly Hübner: Da stapelt sich einiges. Das lässt sich dann fast direkt übersetzen auf die Notenberge in der Partitur. Es ist also nicht nur eine Krise, eine Komposition, bei der man nicht weiterkommt, bei der man im ersten Satz versucht, das Ganze zu benennen, das Problem von innen heraus zu lösen und, als das nicht klappt, im zweiten Satz von außen draufzugucken: Wie machen’s denn die einfachen Leute? Da kommt Mahler aber mit seinen Problemen auch nicht weiter – es ist eigentlich zum Verzweifeln.
Charly Hübner: Das ist jetzt das Ende vom dritten Satz. Das ist wirklich sportlich. Heidewitzka, was da alles gleichzeitig passiert! Aber Mahler hat’s gedacht, komponiert und es den Musikerinnen und Musikern sozusagen anvertraut. Heute mach ich ja Film, da redet man immer ganz viel über Schnitt – harte Schnitte, oder, wenn man mit Castorf arbeitet: Kontraste in den Übergängen. Die hat man ja am Ende des 3. Satzes auch extrem. Wie er das nebeneinanderstellt, war damals, glaube ich, extrem neu.

Tim-Erik Winzer: Man hat wirklich keine Chance, das Gesamtkonzept zu verstehen. Hier sieht man auch Mahler als Dirigent in der Partitur. Bei Brahms oder Wagner konnte man das Ganze immer noch irgendwie fassen aus einer beteiligten Perspektive, als Mitmusizierender. Hier brauchst du den übergeordneten Blick.
Rocko Schamoni: Das ist mein Problem mit dem dritten Satz: die Komprimierungsmethode, mit der Mahler arbeitet – dass keiner Herr der Situation ist, weil man keinen Überblick mehr hat über die Ereignisse. Was für euch so kompliziert zu spielen ist, ist für mich genauso kompliziert zu verstehen, emotional. An diesen Stellen will er so viel zeigen, hat so viel erlebt, mit so einer Tiefe. Er hat die Mittel, das aufzufangen und zu zeigen, aber er macht das in sehr kurzer Zeit und mit allen Mitteln gleichzeitig. Das haut mich vollkommen um, aber nicht nur im positiven Sinne. Ich verliere die Kontrolle, kann ihm nicht folgen und müsste die Stelle dreißig Mal hören, um zu begreifen, was er eigentlich meint – vom Herzen her, um mich überhaupt davon durchdringen zu lassen. Das ist mein Problem. Das Adagio danach entzerrt sich wieder, da verstehe ich, was gemeint ist, da ist die Gefühlsklaviatur wieder da. Und das ist manchmal der Vorteil an Popmusik, dass Popmusik sich ein Thema aussucht und dieses Thema meditiert, bis es gelöst ist, während Mahler hier gleichzeitig fünfzig Probleme meditiert, und zwar auf Highspeed.

Charly Hübner: Mich emotionalisiert das total – wie Schauer. Kalt-heiß. Gerade dieser Schluss des dritten Satzes. Vielleicht bin ich durch meine Metal-Affinität darauf trainiert, emotionale Schlüssel im Highspeed zu finden. Die Frage ist: Komponiert er im dritten Satz seinen Tod? Eine Imagination davon, wie das Sterben ablaufen könnte? Oder ist es erstmal nur ein cholerischer Ausbruch des Problems, das er im ersten Satz zu formulieren versucht? Hätte es damals schon LSD gegeben, hätte er das vielleicht genommen. So muss er zu seinem Handwerk greifen, um das in einen Trip überzusetzen. Wie am Ende von 2001 [Odysse im Weltraum], wenn Bowman mit dem Raumschiff zu dem anderen Planeten durchfliegt und ich nur noch diese Farbteppiche habe, wo permanent was passiert, was aber alles bei mir eine Andockstation hat. Bin ich danach tot? Bin ich geistig verwirrt? Bin ich für den Rest meines Lebens verrückt? Und ist dann das Adagio die Reise in den Himmel? Ist es das, sich in Toblach erstmal wieder auf die Couch zu legen und zu sagen: ›Es hat doch alles keinen Sinn, warum bin ich nicht auch in Italien, bei Alma?‹ Ist es einfach die Liebe? Oder das sich einer transzendenten Finalstation Anvertrauen? Und ist der vierte Satz dann schon das Im-Tode-Sein?
Rocko Schamoni: Er ist dann ja auch an einer Infektion am Herzen gestorben, aber er hat ja vorher schon einen Herzklappenfehler gehabt und mit der Möglichkeit seines Todes lange gerungen. Ist denn das in Stein gemeißelt, weiß man das von ihm, dass das eine Todesmusik ist?
Charly Hübner: Überhaupt nicht!
Rocko Schamoni: Aber das Stück wird doch so gehandelt.

Charly Hübner: Es gibt diese Erzählung, die wurde, glaube ich, angeregt durch dieses Erinnerungsbuch von Alma, dass schon das Lied von der Erde die eigentliche Neunte war und er sich aber wegen einer Art Aberglaube unter Komponisten scheute, die so zu nennen. Beethoven hat die Neunte gerade noch so geschafft, Bruckner auch, es gibt so diese Sorge: Wenn man die Neunte geschafft hat …
Rocko Schamoni: Viele sind an der Neunten gestorben oder haben sie gar nicht rausgebracht, wie Apple mit dem iPhone 9, das gibt es ja gar nicht!
Charly Hübner: Wenn es stimmt, was Alma schreibt, dann kann man das Thema Todesmusik da so reinspeisen. Bei mir kommt die Frage aber aus einer Empfindung heraus. Manchmal trete ich dann aber auch von meinem Interpretationswahn zurück und denke: Vielleicht ist das ganze Ding auch einfach nur ein Griff in das eigene musikalische Wesen, um mit den Mitteln der Musik Sachen durchzubuchstabieren. Wie die Mathematik bei Bach. Dass man sagt: Ich nehme jetzt mal einfach das, was ich kann, um dann, auch aus einer Eitelkeit heraus, so einen dritten Satz zu schreiben und zu sagen: ›So, Beethoven und Bruckner, Achtung Jungs, das geht auch zehnmal so schnell und mit doppelt so großem Orchester.‹

Rocko Schamoni: Das ist jetzt aber die Metal-Mentalität!
Charly Hübner: Adorno beschreibt den dritten Satz als das Virtuosenstück, er beschreibt den ersten Satz als das Meisterhafteste, was Mahler komponiert hat. Er hat mit dieser Schrift (dem Buch Mahler: Eine musikalische Physiognomik) glaube ich auch sehr dazu beigetragen, dass man, zumindest in so bürgerlich hochinteressierten Kreisen, überhaupt anfing, da nochmal genau hinzuhören, sich diesen Gustav Mahler überhaupt nochmal vorzunehmen.
Charly Hübner: Für mich ist ja immer noch die Frage: Wo geht die Reise hin? Glaubst du eigentlich an Gott?
Rocko Schamoni: Man hat es von verschiedenen Seiten aus versucht. Aber ich hab schon früh gewusst, dass es sich lohnt, zu widerstehen. Ich habe die Konfirmation wegen des Geldes mitgemacht, die hat aber nur 500 Mark gebracht. Der Deal mit dem Teufel war nicht so gut bezahlt.

Charly Hübner: Ich bin auch unkirchlich großgeworden. Wenn man jetzt Gott mal wegkloppt und sagt: Es geht nicht um Gott oder Kirche – warum kommt man doch nicht drum herum, über Transzendenz nachzudenken? Und die Reise zum Tod, ob der jetzt in dreißig Jahren oder drei Monaten kommt?
Rocko Schamoni: Viele Künstler schaffen es ja, im Angesicht des Todes nochmal konkreter und besser zu arbeiten, als sie es zu ›Lebzeiten‹ gemacht haben. Weil der sichere Tod, von dem man weiß, der kommt in 1 ½ Jahren spätestens, das Denken und das Fühlen vertieft. Und zum anderen aber auch die zeitliche Grenze so bedeutsam ist, dass man weiß: Man muss jetzt alles, was man noch sagen will, auf den Punkt bringen. Diese Konzentrationsarbeit kann Leute zu Höhenflügen beflügeln. Wir wissen von vielen Künstlern, Wolfgang Herrndorf zum Beispiel, dass sie erst richtig auf den Punkt kamen, als das Ende nahte. Plötzlich passiert alles, was du vorher nicht gefunden hast. Weil der ganze öde Scheiß wegfällt, 90 Prozent. Nur 10 Prozent sind wichtig. Die sind aber ein riesiger, tiefer Schacht und da musst du reinklettern. Ohne den ganzen öden langweiligen Scheiß – Anrufbeantworter und so… Die Menschen schlagen sich mit wahnsinnig ödem Scheiß rum, in allen Bereichen. Und das merkt man auch. Und darum geht’s. Das ist die Ironie des Schicksals. Der Tod kann ein Geburtshelfer für große Kunst und die entscheidenden Momente des Lebens sein – leider. Ich sage das als absoluter Feind des Todes. Wenn es nach mir ginge: Wenn ich könnte, würde ich jetzt die Stopptaste drücken und sagen: Von jetzt an für alle Qualitytime.
Charly Hübner: Weil du Angst hast?
Rocko Schamoni: Weil ich’s ungerecht finde. Es ist einfach eine wahnsinnige Ungerechtigkeit. Mein Deal wäre: Alle, die keine Kinder bekommen wollen, dürfen für immer leben. Und wenn du ein Kind bekommen willst, dann musst du dein eigenes Leben abgeben. Ich weiß, das ist ein harter Deal. Aber so ist das. Wir sind genug. ¶
