Was hat Elton John mit dem deutschen Kunstlied zu tun? Die Frage stellte sich Volker Hagedorn nicht, als er im Auto eine alte CD einwarf. Jetzt findet er, dass zwischen der Rezeption von Pop und Klassik eine groteske Lücke klafft – und entdeckt die Magie eines Subdominantseptnonenakkords.

Als im fernen Sommer 1993 Elton John eines der nassesten Open-Airs aller Zeiten überstand, im Sportpark Garbsen, als die »blue skies« verhangen waren, auf die sich die »eyes« reimen, blieb eines der schönsten Liebeslieder aller Zeiten ungesungen: Blue eyes. Als ich es neulich wiederentdeckte, im Auto alte CDs einwerfend, war ich überrascht: In der herzaufreißenden Weite dieser dreieinhalb Minuten sah ich auch die Liedergipfel des 19. Jahrhunderts schimmern, die besten Sachen von Robert Schumann, so etwas wie Kennst du das Land etwa oder Ich grolle nicht, ebenso Die blauen Augen von meinem Schatz in den Tönen des tragisch verknallten jungen Gustav Mahler.

Aber nicht so, dass mir nun Elton John ein musikbildungsbürgerliches »Kennen wir bereits«-Lächeln abgerungen hätte, diese Art von Platzanweiserei: »Sie kommen 140 Jahre zu spät, aber hier haben wir Gralshüter ein Eckchen für Popmusiker eingerichtet, bitte sehr…« Nein, das Schöne war, dass Blue Eyes die Gralshüter aus dem Weg räumte, sie einfach in den blauen Himmel schoss, wo sie nun, in Schwalben verwandelt, Kreise drehen. Denn natürlich kam Elton John nicht zu spät. In seiner Harmonik stecken modernere Erfahrungen und der ganze Weg, den das »Real Book« des Jazz und seiner Verwandten zeigt.  

Diese Harmonik ist sehr vital, mehrheitsfähig sowieso – aber gerade deswegen stößt sie noch immer auf eine Art stillschweigende Übereinkunft vor allem deutscher Musikbedenker. Die bröckelt zwar längst, sitzt aber tief. Für sie endet die substantielle, seriöse Diatonik nebst Tonika und Dominante kurz vor dem Ersten Weltkrieg, also mit dem »langen 19. Jahrhundert«. Danach hat sie in dieser Perspektive abgedankt und kümmert in Poulencs Ironie, Korngolds Kitsch und in Tausenden von Hits sämtlicher populärer Genres vor sich hin, die man sich nicht näher anzusehen braucht. Nicht mal Yesterday war bis heute den klassisch sozialisierten Fachnasen eine Überlegung wert, welche historischen Linien sich da treffen.

Das gilt umgekehrt auch für die Fachnasen aus der Popabteilung, die es lächerlich fänden, die Wirkung einer Subdominante als Schluss (wie in Blue Eyes) zu erwägen. Die sich nie fragen, ob fünfhundert Jahre komponierter Musik nicht mehr Einfluss auf die populären Musiksprachen haben könnten als nur den, dass alle zehn Jahre die Gregorianik als apartes Gewürz entdeckt wird. Als wäre es peinlich, eine Nähe zwischen Elton John und Robert Schumann zu konstatieren. »Selbst das scheinbar Beziehungs- und Traditionsloseste«, schrieb György Ligeti 1966, »hat eine geheime Verbindung zum Gewesenen.«

Besonders die Musik der großen Emotionen, die im 19. Jahrhundert kulminiert, hat im nächsten Jahrhundert tausende von Blüten getrieben. Ein ganzer Forschungszweig könnte erkunden, wie das 19. Jahrhundert in Jazz, Rock, Pop, Film bis heute modifiziert weiterklingt, während der Umgang mit diesem Erbe die »E-Musik« jahrzehntelang in Lager spaltete. Man könnte denen, die außer progressiver Komplexität nichts gelten lassen mögen, einen ihrer Heiligen zitieren, Elliott Carter, der kurz vor seinem hundertsten Geburtstag sagte: »Wenn jemand genug Vorstellungskraft hat, kann er tonal etwas Großartiges machen. In meiner speziellen Epoche war es unmöglich. Aber es könnte passieren… A good composer can take anything.« Er sprach für seine eigene Zunft, die Komponisten einer historisch bewussten »Neuen Musik«. Ob er Blue Eyes für »etwas Großartiges« gehalten hätte?

Man könnte viel Zeit damit verbringen, über Carters, Ligetis, Lachenmanns Beziehungen zur Tonalität nachzudenken, und andererseits über die von Penderecky, Pärt und Adams. Und auch darüber, warum ein Es-Dur-Septnonenakkord plus A uns immer noch den Boden unter den Füßen wegreißen kann. Denn das kann er nun mal, in dieser Kombination: Mit sattem E-Bass unter halligem Klavier, mit dieser körnigen, geschmeidigen, wissenden Stimme, die zuvor den Blick in die blauen Augen von Dur nach Moll vertieft hat – wie Gustav Mahler, nur anders. Man kann sich gar nicht tief genug fallen lassen in dieses Blau, in dem sich der Himmel spiegelt, in dem der Himmel ist: Man fliegt, sich fallend lassend, empor. Die Wahrheit der Liebe wird wach.

Elton John, Mahler, Schumann, blaue Augen und ein Es-Dur-Septnonenakkord plus A. Volker Hagedorn in @vanmusik.

Aber die Wahrheit kann auch schmerzhaft sein. »Für alles, was wir irgendwann zusammen taten, bezahle ich«, so endet die zutiefst enttäuschte Frau in György Kurtágs Vokalzyklus Die Botschaften der entschlafenen R.V. Trussova. Nach den Worten der Sopranistin gleiten Kontrabasstöne einsam in die schwärzeste Tiefe. 1981 wurde das in Paris uraufgeführt, ein Jahr später kam die Single mit dem neuen Stück von Elton John und Gary Osborne heraus.  Welten entfernt – und besser fürs Auto geeignet. Wahr ist aber beides. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.