Seit dem Euromaidan florierte die zeitgenössische Musik in Kyiv und anderen ukrainischen Städten, bis zum Beginn des russischen Angriffs im Februar 2022, berichtet der Komponist und Pianist Albert Saprykin, der 2015 mit drei befreundeten Musikern die Konzert- und Bildungsplattform Kyiv Contemporary Music Days (KCMD) ins Leben rief. In Berlin, wo Saprykin seit einigen Monaten lebt, veranstaltet KCMD jetzt zusammen mit dem Ensemble KNM und dem ensemble mosaik ein Festival mit Werken ukrainischer wie internationaler Komponist:innen vom Soloinstrument bis zur größeren Besetzung, interpretiert von einflussreichen ukrainischen Musiker:innen wie Nazarii Stets (Kontrabass), Vladyslav Indyk (Gitarre) und Viktor Rekalo (Cello) und Mitgliedern der beiden Ensembles. Für die Konzertprogramme und die Organisation zeichnen ebenfalls beide Ensembles in Zusammenarbeit mit KCMD verantwortlich. Am 1. Juli 2023 ist in der Berliner Villa Elisabeth der zweite Teil des Festivals zu erleben: das Multimediaprojekt listening cities : kyiv mit Interviews, Liveperformances und Aufnahmen sowie das Konzert “…So They Grow Like Sunflowers” mit Music von Anna Korsun, Anna Arkushyna, Rebecca Saunders, Clemens Gadenstätter, Anton Koshelev, Adrian Mocanu und Kaija Saariaho.

Ich treffe Albert Saprykin, der in Graz und Kyiv Klavier und Komposition studierte, in einem Café in einer ruhigen Seitenstraße in Berlin-Friedrichshain. Er ist müde, schläft seit langem schlecht, auch weil ihn nachts neben Nachrichten aus der Ukraine noch immer die Smartphone-Warnungen vor Luftangriffen auf Kyiv wach halten – er hat sie nicht ausgeschaltet, als er nach Berlin kam. Dennoch nimmt er sich Zeit, ausführlich über Neue Musik in und aus der Ukraine zu sprechen.

Wir steigen chronologisch ein, mit der Gründung der Kyiv Contemporary Music Days. Eigentlich wollte Saprykin 2015 zunächst nur ein Konzert in Kyiv spielen, mit seinen Studienfreunden Francisco Morais Franco (Gitarre), Darko Horvatic (Klarinette) und Junya Makino (Geige) – und damit mit einer Besetzung, für die die vier erstmal (ohne jedes Budget) einen Kompositionsauftrag ausschreiben mussten. Die Resonanz war groß, auch die sechs für das Konzert ausgewählten Komponisten wollten nach Kyiv kommen, und so wuchs das Projekt schnell …

Alber Saprykin bei UpToThree mit ukrainischen Komponist:innen und Musiker:innen und dem ensemble mosaik am 10. und 11. Juni 2023 in Berlin • Foto © Ksenia Yanko

VAN: Wie ist aus der Idee, in Kyiv ein Konzert zu geben, ein ganzes Festival entstanden?

Albert Saprykin: Wir hatten damals, 2015, das Gefühl, dass in Kyiv die Nachfrage nach Neuer Musik viel größer war als das Angebot – obwohl man sagen muss, dass da nach der Revolution der Würde schon langsam etwas in Gang gekommen war. Wir fanden, dass es an der Zeit war, ein richtiges Orchesterkonzert mit zeitgenössischer Musik zu machen, Kammermusikkonzerte, Vorträge und so weiter. Wir haben mit Musiker:innen aus der Ukraine und dem Ausland gesprochen, einige Ensembles aus Kyiv sind auf uns zugekommen, und am Ende waren aus dem einen Konzert 17 Veranstaltungen an 10 Tagen und an 10 Orten in Kyiv und Lviv geworden. Die Basis war dabei ehrenamtliche Arbeit, sowohl was die Organisation als auch die Musiker:innen anging. Das erste Festival haben wir mit einem Orchesterkonzert mit Murail, Takemitsu, Dalbavie und Scelsi eröffnet. 450 Tickets haben wir dafür verkauft. Das lag definitiv auch an der Welle der kulturellen Renaissance, die nach der Revolution der Würde im Winter 2014 ins Rollen gekommen war.

Welche Auswirkungen hatte die Revolution auf die Neue-Musik-Szene in Kyiv? 

Es entstanden ziemlich viele Graswurzel-Initiativen im Kulturbereich: in der Bildung, der darstellenden Kunst, im Theater, in der Musik, im Kino … Mit der Zeit sind die an dieser Bewegung Beteiligten dann auch mehr und mehr in Regierungsorganisationen gegangen. Graswurzel-Initiativen an der Basis sind zwar extrem wichtig, aber ein echter systemischer Wandel passiert nur durch die Arbeit innerhalb der Strukturen, die den größten Einfluss haben.

Sehr wichtig war die Gründung der Ukrainian Cultural Foundation 2017. Das war ein wirklicher Meilenstein, denn davor wurden Fördermittel vor allem von ausländischen Institutionen wie dem Goethe-Institut bereitgestellt. Mit der Ukrainian Cultural Foundation hatten wir unsere eigene Institution und haben so Zugang bekommen zu finanzieller Unterstützung, die von einem unabhängigen Expert:innengremium vergeben wurde. So haben beispielsweise Komponist:innen mehr Aufträge für neue Werke bekommen und Interpret:innen konnten regelmäßiger Neue Musik spielen. Wir haben auch immer mehr mit Musiker:innen aus anderen europäischen Ländern kooperiert und sie in die Ukraine eingeladen oder sie für Konzerte im Ausland besucht.

Du meintest eben, die Nachfrage nach Neuer Musik war groß in Kyiv – wie viele Leute sind zu euren Veranstaltungen gekommen? 

Bei den Orchesterkonzerten von KCMD in Kyiv waren in der Regel zwischen 450 und 650 Menschen im Publikum. Und die meisten von denen waren keine Musiker:innen. Nach den Konzerten sind oft Leute zu uns gekommen und meinten: ›Wir haben zwar nichts verstanden, aber es war sehr interessant! Wann ist euer nächstes Konzert?‹ Wenn wir gute PR gemacht haben, konnten wir 200 Zuhörer:innen für ein Kammermusikkonzert gewinnen. 

Bei der ersten Ausgabe unseres Festivals haben 70 Freiwillige mitgearbeitet, alle so etwa im gleichen Alter wie ich damals, also um die 25, oder sogar noch jünger. Die hatten eigentlich alle nichts mit Musik am Hut, sondern haben Journalismus, Politik, Philosophie, Medizin oder sonst irgendwas studiert. Das hatte viel mit der Post-Maidan-Welle zu tun: Menschen haben sich Zeit genommen, um sich zu engagieren, um ehrenamtlich etwas voranzubringen. Vor der Revolution habe ich als Komponist keinen Platz in meinem Land finden können. Das Fortbestehen des sowjetischen Erbes war da ein großes Hindernis. 

Was meinst du damit?

Unsere kulturelle Identität wurde von Russland überschattet, dieses Gefühl teilen auch Künstler:innen aus Litauen, Qazaqstan, Georgien und anderen Ländern. 2014 haben wir dann gespürt, dass es möglich ist, den Status quo zu verändern.

Bei der 2. Ausgabe des KCMD Festivals 2016 kamen 650 Zuhörer:innen, um György Ligetis Violinkonzert und Werken von Yan Maresz, Helena Tulve und Adrian Mocanu zu lauschen. 

Ich habe gehört, dass es in der Ukraine lange schwierig war, staatliche Unterstützung für Projekte im Bereich der Neuen Musik zu bekommen. Entspricht das auch deinen Erfahrungen?

Vor der Revolution der Würde war das so. Nach der Revolution hat sich das geändert, aus mehreren Gründen: Einer der wichtigsten Katalysatoren war die Gründung der Ukrainian Cultural Foundation im Jahr 2017. Vorher konnten wir von Kulturinstitutionen anderer Länder für Musikprojekte mit 3.000 bis 4.000 Euro gefördert werden. Jetzt kann man, wenn man einen überzeugenden Antrag schreibt, von der Ukrainian Cultural Foundation bis zu 40.000 Euro bekommen für Kulturprojekte. Bis heute hat die UCF schon über 2.000 Projekte unterstützt. Und das ist nur ein Beispiel, es gibt noch andere neue Institutionen auf staatlicher Seite, die die Neue Musik in der Ukraine voranbringen: das Ukrainian Institute, das mit dem Goethe-Institut in Deutschland vergleichbar ist, oder die Staatliche Agentur der Ukraine für Kunst und künstlerische Bildung – das sind beides Institutionen, denen ich und auch noch andere Mitglieder des KCMD-Teams kurz nach ihrer Gründung beigetreten sind. Insgesamt gab es nach der Revolution viele deutliche Verbesserungen in der Kulturlandschaft, und die Entwicklung blieb positiv, bis zum 24. Februar letzten Jahres.

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Dieses Konzert fand im Oktober 2019 in Salzburg statt und wurde vom Ukrainischen Institut organisiert, wo Albert Saprykin und Mykhailo Chedryk (ebenfalls von KCMD) damals arbeiteten, unter anderem an der Programmierung und Organisation dieses Konzerts. 

Wie ist die Situation aktuell für Musiker:innen aus der ukrainischen Neue-Musik-Szene? 

Viele Musiker:innen sind natürlich auch davon betroffen, dass sie nicht mehr in Sicherheit leben können, dass ihre Häuser zerstört wurden oder sie ihre Heimat verlassen mussten. Die, die in Gebieten leben, die schnell von Russland besetzt wurden, haben es besonders schwer.

Vielleicht hast du von den Menschen in Cherson gehört, die protestiert haben, als die russischen Soldaten kamen, und sagten: ›Geht nach Hause!‹, aber weniger höflich. Einige dort haben sich entschieden zu bleiben, weil es ihre Heimat ist und sie die Stadt so gut wie möglich erhalten wollen. Einer dieser Chersoner, Jurij Kerpatenko, Chefdirigent des Chersoner Theaters, der Philharmonie Cherson und des Kammerorchesters Gileja, wurde von russischen Soldaten in seinem Haus erschossen, nachdem er sich geweigert hatte, an einem von den russischen Besatzern organisierten Konzert teilzunehmen – eine schlimme Geschichte. Mit sowas sind meine Kolleginnen und Kollegen plötzlich konfrontiert, ihr Leben hat sich völlig verändert.

Als Reaktion auf diese Entwicklungen haben sich einige Musiker der Armee angeschlossen, um für unsere Zukunft zu kämpfen, andere mussten fliehen, um ihre Familien schützen und versorgen zu können.

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Wie arbeitet KCMD mittlerweile?

Im März letzten Jahres haben wir einen Fonds eingerichtet, um professionelle Musiker:innen zu unterstützen, auch außerhalb der zeitgenössischen Musik. Bis heute sind über 1.000 Unterstützungsanträge bei uns eingegangen und wir haben 350 Musiker:innen unterstützt: medizinisch und finanziell, bei der Ausreise aus besetzten Gebieten oder jemanden, der bei einem Raketenangriff verletzt worden war, bei einer Operation, wir haben Geld für die Miete dazugegeben oder für den Kauf von einem Satz Geigensaiten. Durch die bei uns eingegangenen Anträge sind wir ganz gut im Bilde, was die aktuelle Lage von ukrainischen Profimusiker:innen angeht. Zwar haben einige die Ukraine verlassen, aber das ist eher eine Minderheit, und wir haben auch gesehen, dass von denen einige schon wieder zurückgekehrt sind.

Andererseits haben wir unsere Bemühungen verdoppelt, die ukrainische Kultur und die gesamte Situation, in der wir uns befinden, international bekannt zu machen, ukrainische Stimmen präsenter zu machen im Ausland. 

Teile des KCMD Teams, stehend: Orest Smovzh, Oleksandra Sauliak, Kateryna Alymova, Mykhailo Chedryk, Polina Horodyska, Daria Vdovina, sitzend: Boris Loginov, Iryna Biloborodova, Albert Saprykin. Das Bild entstand beim ersten KCMD Live-Konzert nach der Pandemie im Rahmen der Reihe Esplorazione del bianco im Dezember 2021 in der Galerie The Naked Room in Kyiv. Nazarii Stets war einer der Solist:innen. Albert Saprykin erinnert sich: »Beim zweiten Konzert habe ich versehentlich die falsche Anzahl von Plätzen in das Ticketverkaufssystem eingegeben. Das führte dazu, dass 100 Leute in einen Raum kamen, der eigentlich nur Platz für 50 hat, um Solowerke von Hartikainen, Norman, Xenakis, Kurtág, Ganassi, Stets, Loginov und noch anderen Komponist:innen zu hören. Das war die letzte Konzertreihe die KCMD zu Hause gab.« • Foto © Serhii Anischenko 

Hat sich auch die staatliche Kulturförderung verändert?

Letztes Jahr wurde der Großteil der ursprünglich für die Kultur vorgesehenen staatlichen Mittel umgewidmet zur Unterstützung der Armee. Das ist ja auch nachvollziehbar, Sicherheit hat höchste Priorität. 

Trotzdem wurden bereits im April letzten Jahres einige Opernhäuser wiedereröffnet, zum Beispiel in Lviv und Kyiv, und es finden weiterhin Konzerte statt. Die Künstler:innen legen sich besonders ins Zeug, um neue Projekte zu schaffen und sie in der Ukraine zu präsentieren. Das ist sicherlich nicht der einzige Grund, aber wenn man sich im Krieg befindet mit einem Aggressor, der die eigene Identität verleugnet, verspürt man den Drang, eben diese Identität zu stärken. Und Kultur erinnert uns nun mal sehr eindringlich daran, wer wir sind, für welche Werte wir stehen und wofür unsere Streitkräfte kämpfen.

Welche Aspekte oder Themen wollt ihr beim den KCMD -Berlin-Konzerten vor allem transportieren?

Hier in Berlin wollen wir mit der lokalen Neue Musik Szene in Austausch treten und gemeinsam mit KNM und ensemble mosaik arbeiten, im Sinne einer sehr guten und freundschaftlichen Partnerschaft. Alle Seiten bringen etwas Wertvolles ein, sei es im künstlerischen Sinne, auf der Management-Seite oder finanziell … Wir wollen mit unseren Projekten hier nicht wie ein Radio aus Kyiv sein, das nur seine Inhalte sendet, sondern uns aktiv in die lokale Szene einbringen.

Von links nach rechts: Sarah Saviet (ensemble mosaik) und Komponist Adrian Mocanu und Viktor Rekalo aus Kyiv bei UpToThree in Berlin • Foto © Ksenia Yanko

Bei der Konzertreihe Kyiv Contemporary Music Days Berlin steht Musik zeitgenössischer Komponist:innen aus der Ukraine und von internationalen Künstler:innen auf den Programmen, gespielt von Musiker:innen aus Berlin und Kyiv. Wir erzählen so auch, was in den letzten 10 Jahren in der Ukraine passiert ist und wofür wir heute so verzweifelt kämpfen. 

Der eine Konzertabend „… So They Grow Like Sunflowers“ ist nach einem 2022 von Anna Arkushyna komponierten Stück benannt, das wir auch aufführen. Der Name bezieht sich auf eine Aussage einer ukrainischen Frau in Cherson. In den ersten Tagen der Invasion sagte sie zu einem russischen Soldaten: ›Nimm diese Sonnenblumensamen und steck sie in deine Tasche, damit, wenn ihr hier alle [leblos] liegt, wenigstens Sonnenblumen wachsen.‹ Dieses Zitat ist sehr bekannt geworden, auch weil Sonnenblumen eines der Symbole der Ukraine sind. 

Wie sieht deine Zukunftsperspektive aus, als ukrainischer Musiker hier in Berlin? 

Wir sind dankbar für die Möglichkeit, hier weiter als Musikerinnen und Musiker tätig sein zu können, aber eigentlich wünschen wir uns, nach Hause zurückzugehen und die Arbeit fortzusetzen, die wir in der Ukraine begonnen haben.

Weißt du, wie das bei Kolleg:innen von dir ist? 

Ich weiß nicht genau, wie systematisch das ist, aber es war traurig mit anzusehen, wie Ukrainer:innen – auch Musiker:innen – zu Objekten gemacht und bemitleidet wurden, aber nicht als Subjekte gesehen wurden, die wertvolle Beiträge liefern können. 

Nach den neuesten Terrorakten werden die Ukrainer:innen natürlich gefragt, wie es ihnen jetzt geht. Wenn es aber darum geht, eine fundierte Meinung einzuholen, die Situation zu analysieren oder Zukunftsszenarien zu entwerfen, scheinen die Medien, insbesondere die großen Medien, noch immer Expert:innen aus Russland zu bevorzugen oder solche, die sich auf Russland spezialisiert haben. Damit wird eine postimperialistische Denkweise aufrechterhalten: Russland als Akteur mit international anerkannten Traditionen und die Ukraine als passives Objekt. Man nimmt dann einen ukrainischen Geiger in das Orchester auf, als symbolische Geste der Unterstützung, dann ist das Thema abgehakt, ohne dass die tieferen Probleme angesprochen werden. 

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es schaffen können, die besetzten ukrainischen Gebiete zu befreien, denn nur so können wir Russland aufhalten. Auf lange Sicht denke ich, dass das wahrscheinlich nicht das letzte Mal im 21. Jahrhundert sein wird, dass Russland so vorgeht. Ich hoffe, dass wir uns beim nächsten Mal unseren rechtmäßigen Platz als Akteur verdient haben, auch im Bereich der Kultur. Dass wir in der Lage sind, Russland vom ersten Tag an wieder zurückzudrängen, nicht so wie jetzt, und dass wir schneller Unterstützung bekommen, damit nicht so viele Menschen sterben.

Ich denke, wir sollten auch darüber sprechen, wie wir in diese Situation gekommen sind: durch die totale Dominanz Russlands im Bereich der Kultur. Die estnische Kultur, die kasachische, georgische, litauische … alle stehen im Schatten der russischen. Russland hat den Westen getäuscht, es hat ziemlich viel Geld in die Hand genommen, um sich als Alleinerbe der sowjetischen Kultur darzustellen und so seine Machtposition auszubauen und enge Verbindungen zu europäischen Staaten zu knüpfen. 

Wie sah das konkret aus?

Im Juni 2015 zum Beispiel hat Gergiev im Berliner Konzerthaus ein Konzert mit jungen Musiker:innen aus Deutschland und Russland gegeben, zum 70. Jahrestag des Endes des ›Großen Vaterländischen Krieges‹, wie man ihn in Russland nennt, da sagt man nicht ›Zweiter Weltkrieg‹. Bis heute stellt man es in Russland so dar, als hätte der Krieg 1941 mit dem deutschen Angriff auf Russland begonnen und verschweigt, dass auch Russland 1939 involviert war [als Verbündeter Deutschlands]. Dieses Konzert in Berlin hat also das Narrativ der Sowjetunion als ›die Guten‹ bedient. Und genau zeitgleich im Juni 2015 gab es im Donbass schwere Angriffe und krasse Grausamkeit und verantwortlich dafür waren Männer, die von Russland aus in ukrainisches Territorium eingedrungen waren.

Ukrainische Musiker:innen hatten so eine Plattform 2015 nicht. Russland hat ziemlich viel Zeit und Geld investiert, um in der Kulturszene präsent zu sein, und Deutschland hat Russland, auch  getrieben von Schuldgefühlen, herzlich willkommen geheißen. Der Ukraine gegenüber hatte man solche Schuldgefühle aus irgendeinem Grund nicht, obwohl es im Zweiten Weltkrieg die Ukraine und die Ukrainier:innen besonders hart getroffen hat. 

2015 hatte ich auch nicht die Möglichkeit, wie heute mit dir zu sprechen – und auch sonst keine Musikerin oder kein Musiker aus der Ukraine. Aber Gergiev, der sich selbst offen als informeller Außenminister dargestellt hat, der einspringt, wenn die Diplomatie versagt, um den Politikerinnen und Politikern im Ausland Putins ›gute Absichten‹ zu vermitteln, wurde mit offenen Armen empfangen. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Russland seine Ressourcen strategisch einsetzt, um Sanktionen zu umgehen und die Ukraine weiter darzustellen als ein Land, das es eigentlich gar nicht gibt, als nicht der Rede wert. 

Warum funktioniert diese ›Kulturdiplomatie‹ gerade über Musik so gut?

Gergievs Konzerte haben das hiesige Publikum sowohl intellektuell als auch emotional berührt. Die Empfindungen, die die russische Musik beim Publikum hervorgerufen hat, haben auch die Gefühle gegenüber Russland als Staat beeinflusst, denn so funktioniert unser Gehirn nun mal, wenn es der Kraft von Musik ausgesetzt ist.

Die Leute hatten damals natürlich nicht die Möglichkeit, Musik von ukrainischen Zeitgenoss:innen von Prokofjew und Schostakowitsch zu hören, zum Beispiel von Boris Lyatoshinsky, der lieber in Kyiv geblieben ist, anstatt in Moskau zum russischen Komponisten zu werden, weshalb er international immer noch ziemlich unbekannt ist. Wenn die Menschen mit russischer, nicht aber mit ukrainischer Kultur vertraut sind, wird es schwierig, Interesse für die Ukraine zu wecken und die Leute zur Unterstützung zu bewegen.

Wir bemühen uns ständig um Möglichkeiten, uns musikalisch und politisch Gehör zu verschaffen, damit die deutschen Bürger:innen in Zukunft nicht nur gerne Prokofjew hören, sondern auch die Musik von Lyatoshinsky entdecken. Es ist wichtig, dass wir sicherstellen, dass kulturelle Beiträge aus der Ukraine gesehen und angenommen werden.

Wie sollten russische Musiker:innen in Deutschland deiner Meinung nach jetzt reagieren?

Wie ich schon sagte, Kunst wird von Russland benutzt, im Interesse des Staates. Vor diesem Hintergrund habe ich einem russischen Kollegen gesagt: ›Ich erwarte von dir, dass du dich deiner Verantwortung stellst und dich nicht einfach nur distanzierst von dem, was vor sich geht. Ich erwarte von dir, dass du öffentlich sagst: ›Ich habe nicht gewollt, dass das passiert, ich habe nicht direkt dazu beigetragen. Aber auch wenn ich 15 Jahre oder so im Ausland gelebt habe, habe ich immer noch meine russische Staatsbürgerschaft. Ich fühle mich immer noch mit meinem Land verbunden. Deshalb bin ich nicht schuldig, aber auch ich trage Verantwortung für das, was geschieht. Und ich habe davon profitiert: Ich habe diese Umstände nicht herbeigeführt, aber weil ich aus Russland stamme, hatte ich hier [in Westeuropa] einen recht guten Stand. Man hat mir eine Stimme gegeben, viel mehr als meinen ukrainischen Kolleg:innen. Ich trete darum zurück, für den Zeitraum, den dieser Krieg noch andauert. Es ist an der Zeit, dass ich Verantwortung übernehme. Obwohl ich jetzt ein Dissident bin und nicht nach Russland zurückgehen kann, habe ich die Position, in der ich jetzt bin, bekommen, weil ich aus Russland komme. Meine Kultur ist nicht in Gefahr, auch jetzt nicht. Aber die ukrainische Kultur ist in Gefahr.‹‹ Ich habe ihm gesagt: ›Wenn dir wirklich etwas an uns liegt, dann tritt zurück. Überlasse möglichst viel Raum den Ukrainer:innen.‹

Es werden nie alle Stimmen gehört, und jetzt muss man eben entscheiden, welche Stimmen verstärkt werden sollen. Und ich würde sagen: die von litauischen Komponist:innen, die von kasachischen Komponist:innen. Macht euch schlau. Findet heraus, was in Georgien, was in Moldawien vor sich geht. Ein Teil der Republik Moldau wurde 1990 von Russland besetzt. Spricht darüber irgendwer? Interessiert sich dafür irgendwer? Findet raus, wer so lange im Schatten der russischen Komponisten stand. Macht eure Hausaufgaben! 

Sind auch Musiker:innen aus der Neuen Musik Szene in Kyiv geblieben und dort weiterhin aktiv? 

Die Szene ist nicht mehr so aktiv wie früher, weil einfach viele Musiker:innen physisch abwesend sind, aber es entwickelt sich trotzdem immer wieder Neues. Gerade heute hat die Ukho Agency, eine Kurator:innengruppe, die 2012 mit Veranstaltungen im Bereich Neue Musik anfangen hat, ein Konzert organisiert im Rahmen der Kyiver Kunstausstellung How Are You? Außerdem veranstaltet eine neue Initiative namens The Center of Youth Music, die vor zwei Monaten ins Leben gerufen wurde, ehrenamtlich Konzerte mit zeitgenössischer Musik. Und es gibt Musiker:innen, die sich entschieden haben, in der Ukraine zu bleiben, wie zum Beispiel Nazarii Stets. Er tritt weltweit auf, kehrt aber immer wieder nach Kyiv zurück, weil er sagt: ›Jemand muss hier weitermachen. Ich leiste meinen Beitrag in Kyiv.‹ ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com