Ich bin hier nicht fremd eingezogen, ganz im Gegenteil: Eigentlich ging ich lange Jahre davon aus, mit der Winterreise recht vertraut zu sein. Dann hörte ich kurz nacheinander 75 Aufnahmen des Zyklus und wagte es nach jeder Einspielung weniger, zu behaupten, das Werk zu kennen. 

Die Wintersonnenwende liegt zwar hinter uns und die Tage werden nun offiziell wieder länger, aber wir haben trotzdem noch mehr als zwei Monate Winter vor uns. Um diese Zeit zu überbrücken, habe ich versucht, eine »ultimative« Playlist zusammenzustellen, die dem roten Faden des Schubert’schen Liederzyklus folgt, bei der aber alle 24 Lieder von anderen herausragenden Interpret:innen dargeboten werden. Einige von Ihnen werden vielleicht einwenden, dass der Sinn der Winterreise gerade darin besteht, einen Sänger auf seinem Weg von von Gute Nacht bis zum Leiermann zu begleiten. Macht man ja nicht umsonst für gewöhnlich so im Konzert. Bei der Zusammenstellung dieser Playlist habe ich aber auch festgestellt, wie gerade die Gegenüberstellung der Interpretationen neue Aspekte von Schuberts Musik und den Texten Wilhelm Müllers hervorbringt.

Wie auch immer: Ich denke, es ist an der Zeit, der Winterreise wieder fremd zu werden. Zumindest bis zur nächsten Sonnenwende.


Mark Padmore, Paul Lewis: Gute Nacht (2009)

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Der Beginn dieser Guten Nacht kommt so leise daher, als würde Paul Lewis das Lied erst nur vorsichtig anspielen, um den Flügel zu testen, bevor er sich dann im gleichmäßigen Schritt des Wanderers wiederfindet. Der Tenor Mark Padmore spiegelt diesen stillen Blick nach innen voll honigsüßer Reue. Wir hören einen Mann, der sich mitten in der Nacht schnell und unbemerkt aus dem Staub macht. Dann jedoch gibt er sich ganz dem Gefühlsausbruch hin – als er Gott die Schuld dafür gibt, dass die Liebe ebenfalls eine Wandergesellin ist, bevor er sich wieder in Schweigen hüllt. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für lauten Groll. Es liegt noch eine lange Nacht vor ihm.


Roman Trekel, Oliver Pohl: Die Wetterfahne (2008)

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Trekel klingt, als wäre er drauf und dran, seiner Geliebten aufs Dach zu steigen, die Wetterfahne herunter zu reißen und sie als Abschiedsgruß ins Bett der Angebeteten zu werfen – Jack Woltz Style


Benjamin Appl, James Baillieu: Gefrorne Tränen (2022)

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Vielleicht haben Pandemie und Isolation einen Teil dazu beigetragen, dass in den letzten Jahren eine ganze Reihe von neuen Winterreise-Aufnahmen veröffentlicht wurde. Dabei sticht die des deutsch-britischen Baritons Benjamin Appl mit dem Pianisten James Baillieu heraus, die Anfang dieses Jahres bei Alpha erschienen ist. Seine Beschreibung der kochenden Tränen, die auf den Wangen des namenlosen Erzählers gefrieren, ist klamm vor vergangener feuchter Schwüle, vor Intimität, von der er einst Teil war. Dieser Zustand gerät so klaustrophobisch, dass Appl die Luft wegbleibt und er die Zeile »meine Träne« stimmlos raunt.


Olaf Bär, Geoffrey Parsons: Erstarrung (1988)

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Bärs eher stoischer Zugang zu selbst den leidenschaftlichsten Passagen von Schuberts Zyklus bringt das Gefühl der Erstarrung besonders gut zur Geltung. Bärs Erzähler ist bereits in der Kälte der Landschaft festgefroren und beginnt mit ihr zu verschwimmen. Im Kontrast dazu steht die eindringliche Klavierbegleitung Geoffrey Parsons’.

Und doch hat Bär nicht alles Gefühl verloren. Seine letzte Strophe wird bissiger, nicht zuletzt dank des konsonantenlastigen Textes, der sich für eine härtere Artikulation anbietet.  


Alice Coote, Julius Drake: Der Lindenbaum (2013)

Alice Coote interpretiert die Winterreise in dieser Live-Aufnahme aus der Wigmore Hall langsam und opulent und damit besonders sexy. (Wer beim Winterreise-Bingo auf den »Sapphischen Subtext« gewartet hat, kann sich jetzt freuen.) Ihre Ode an die Linde, die als lebendes Denkmal für ihre nun verlorene Liebe steht, schwelgt in der erdigen Nostalgie D.H. Lawrence’scher Sommerlandschaften. Wenn Coote in die Gegenwart zurück kippt – in kalten Wind und totes Laub – stählt sich ihre Stimme so abrupt, dass es sich wie ein Schlag in die Magengegend anfühlt.


Rosemary Standley, Ensemble Contraste: Wasserflut (2020)

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Die französische Sängerin paddelt gemächlich durch die Wasserflut und erinnert in ihrer sanft einwiegenden Melancholie an Aimee Mann und Karen Carpenter, wenn auch ein paar Tonlagen höher. Die Leichtigkeit von Standleys Stimme wird durch das leise Echo des Donners in einem ansonsten folkigen, vagabundierenden Arrangement ausgewogen. 


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Philippe Sly, Chimera Project: Auf dem Flusse (2019)

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Ähnlich wie Standley nimmt Philippe Sly das Element der Reise sehr ernst, mit einem Kammerensemble, das die Klezmer-Einflüsse in Schuberts Musik hervorhebt – neben so vielen anderen folkloristischen Anklängen, dass das Ergebnis zuweilen wie ein Gogol-Bordello-Konzert wirkt.

Besonders eindrücklich ist dieses Arrangement in Auf dem Flusse, wo der Erzähler eine Hommage an seine Liebe in das gefrorene Nass ritzt, während darunter der Fluss rauscht. Sly bewegt sich auf Zehenspitzen über die glatte Oberfläche, tastend, aber entschlossen. Das Ensemble des Chimera-Projekts vergegenwärtigt das ständige Fließen unter der gefrorenen dünnen Decke und die ständig lauernde Gefahr, dass sich ein Riss im Eis bildet.


Peter Schreier, Sviatoslav Richter: Rückblick (1985)

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Schreiers Winterreise wurde 1985 live in Dresden aufgenommen, zwischen den Stücken hört man immer wieder Husten und Rascheln aus dem Publikum – eine weitere ständig lauernde Gefahr. Trotzdem ist diese Interpretation geradezu lehrbuchhaft, von Anfang bis Ende. Die Bitterkeit, die sich durch Schreiers Aufführung zieht, erreicht in Bitterkeit einen ihrer Höhepunkte, als ob das Eis auf dem Flusse schließlich doch nachgegeben hätte und wir nun von purer, ungebremster Wucht mitgerissen werden.


Hans Hotter, Gerald Moore: Irrlicht (1954)

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»Bin gewohnt das Irregehen, ’s führt ja jeder Weg zum Ziel«, meint der Wanderer im Irrlicht, und später: »Jeder Strom wird’s Meer gewinnen, jedes Leiden auch ein Grab.« Hans Hotter geht noch einen Schritt weiter. Seine Stimme klingt, als läge er längst tief in der Gruft. 


Brigitte Fassbaender, Aribert Reimann: Rast (1988)

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Das Geniale an Schuberts und Müllers Zyklus ist, dass wir im Irrlicht den Erzähler schon auf das Grab als unausweichlichen Abschluss jeder Reise blicken hören und dann im nächsten Lied erst merken, wie müde er eigentlich ist, wenn er sich in einer Köhlerhütte zum Schlafen niederlegt. Die Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender scheut sich nicht, ihre Stimme erschöpft, manchmal sogar rau klingen zu lassen. Hier ist hörbar, dass Reise und Isolation bereits ihren Tribut gefordert haben.


Lotte Lehmann, Paul Ulanowsky: Frühlingstraum (1941)

Die Sopranistin Lotte Lehmann war die erste Frau, die die Winterreise aufnahm, in den Jahren 1940 und 1941 zur Hälfte für RCA, zur Hälfte für Columbia. Erst 1938 war sie als Reaktion auf Hitlers Annexion ihrer Wahlheimat Österreich in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Lehmanns Darstellung dieser Periode stellt sie in einem etwas besseren Licht dar als die Fakten, wie wir sie heute kennen. Trotzdem stelle ich mir vor, wie die heitere Sehnsucht des Frühlingstraums in dieser Anfangszeit in den USA bei ihr nachhallte – entweder als Ausdruck ihres Wunsches nach Freiheit und Frieden oder als Sehnsucht, einfach wieder ein Wiener Opernstar zu sein, der sich nicht um Politik scheren muss.


Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore: Einsamkeit (1955)

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Es gibt wahrscheinlich fast so viele Fischer-Dieskau-Versionen der Winterreise, wie es Lieder in dem Zyklus gibt. Seine erste Einsamkeit ist jedoch die hypnotischste und verstörendste. Das liegt auch am Pianisten Gerald Moore, der spielt, als würde ein Geist durch ihn hindurchgehen.


Pavol Breslik, Amir Katz: Die Post (2019)

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Die romantischen Helden, die Breslik sonst auf der Opernbühne spielt (Gounods Faust oder Tschaikowskis Lensky), kommen auch in seiner Winterreise – auf manchmal fast verstörende Art – durch. Aber dieses Temperament und der sonnenverwöhnte Tenor passen gut zu den Sprüngen und dem Schwung der Post und sind vor allem effektvoll mit dem Wissen, dass die Hoffnung des Erzählers letztlich verpuffen wird.


Matthias Goerne, Christoph Eschenbach: Der greise Kopf (2014)

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Apropos Hoffnungslosigkeit… Matthias Goerne hat ein einzigartiges Talent, den Kern der Verzweiflung zu treffen, nicht mit einem Knall, sondern mit leerem Blick.


Richard Tauber, Mischa Spoliansky: Die Krähe (1927)

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Richard Tauber war besser bekannt für seine Party in spritzigen Operetten wie Léhars Das Land des Lächelns und sein Vermächtnis als der Sänger, der jeder heute arbeitende Tenor gerne sein würde. Seine vor fast einem Jahrhundert aufgenommenen Ausschnitte aus der Winterreise sind gerade dadurch faszinierend, dass sie zuweilen vom typischen Tauber-Klang abweichen.

Am beeindruckendsten ist seine Krähe, die er in einem fast absurd langsamen Tempo, aber mit völliger Kontrolle über jede Zeile vorträgt. Wie eine Flasche Champagner, die schal geworden ist, deren Geschmack sich aber noch weiter entfaltet, während sie atmet. Er ist mehr als bereit für Krähen, die über seinen Körper herfallen.


Ian Bostridge, Leif Ove Andsnes: Letzte Hoffnung (2005)

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Manches in Bostridges Aufnahme mit Thomas Adès von 2019 funktioniert besser als in dieser Version von 2005 mit Leif Ove Andsnes. Wenn er seiner Stimme erlaubt, hässlich zu werden, kommt das unglaublich gut. Aber die jugendliche Verliebtheit seiner früheren Aufnahme verbindet stimmliche Schönheit mit musikwissenschaftlichem Scharfsinn. Bostridge wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Hoffnung und Verzweiflung, wobei die Dramaturgie besonders in den einzelnen »wein«-Ausrufen deutlich wird. Manchmal klingt er sogar wie ein Tauber: als ob die Hoffnung, die sein Erzähler in diesem Lied fühlt, am Ende wahr werden könnte in einer Art von aufgeräumten Schluss, den Léhar im Schlaf schreiben würde.


Martti Talvela, Ralf Gothóni: Im Dorfe (1984)

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»Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde«, meint der Wanderer zu den wachenden Tieren im schlafenden Dorf. »Lasst mich nicht ruh’n in der Schlummerstunde! Ich bin zu Ende mit allen Träumen!« Dennoch hat Talvelas Interpretation etwas Schlafwandlerisches. Er wacht, und gleichzeitig schläft er. Das ist unglaublich zart und unglaublich traurig.


Peter Pears, Benjamin Britten: Der stürmische Morgen (1963)

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Ich kann mir keinen wirklichen Reim auf die erste Hälfte der Winterreise von Peter Pears mit Benjamin Britten am Klavier machen. Der stürmische Morgen dann ist zwar das kürzeste Lied des Zyklus (in dieser Aufnahme weniger als eine Minute lang), aber auch ein Wendepunkt. Er wechselt von vornehm zu zornig, als der Erzähler sein Herz als Winterlandschaft sieht: kalt und wild. Dieses Lied wirkt noch erschütternder, wenn man Pears und Brittens kompletten Zyklus hört, aber auch für sich stehend kommt diese Energie durch.


Florian Boesch, Malcolm Martineau: Täuschung (2011)

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Die Täuschung kann man einfach gradlinig unschuldig und skurril runterspielen. Florian Boesch und Malcolm Martineau schaffen jedoch eine Spannung zwischen der Leichtigkeit von Martineaus Klavierspiel und dem Schatten von Boeschs Bariton. Die Wirkung ist zugleich unheimlich und fantastisch.


Hans Peter Blochwitz, Ensemble Modern: Der Wegweiser (1995)

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Zu seiner »komponierten Interpretation« der Winterreise schreibt der Komponist Hans Zender: »Meine ›lecture‹ der Winterreise sucht nicht nach einer neuen expressiven Deutung, sondern macht systematisch von den Freiheiten Gebrauch, welche alle Interpreten sich normalerweise auf intuitive Weise zubilligen.« Das mag wahllos klingen, ist es aber nicht: Zender schafft hier gleichsam ein Theaterstück, bei dem er Bühnenbild, Charakterstudien und Requisiten an ein kleines Ensemble delegiert. Der Sänger steht als Außenseiter allein am Rande dieser Gesellschaft. Besonders deutlich wird dieses Setting im Wegweiser, in dem der Erzähler (hier der Tenor Hans Peter Blochwitz) sich fragt, welch ein törichtes Verlangen ihn »in die Wüsteneien« getrieben hat, obwohl er sich eigentlich nichts zu Schulden hat kommen lassen, dass ihn dazu zwingen würde, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. 


Johan Reuter, Copenhagen String Quartet: Das Wirtshaus (2006)

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Eine ähnliche Konstellation entsteht bei Bearbeitungen der Winterreise für Streichquartett, das dem Sänger rein zahlenmäßig vierfach überlegen ist. Dieses Kräfteverhältnis ist besonders bewegend beim Wirtshaus, in dem der Wanderer ein Gasthaus entdeckt, in dem alle Zimmer bereits belegt sind. (Außerdem ist das Wirtshaus in Wirklichkeit ein »Totenacker«.) Die Streicher bringen eine Wärme in Schuberts Vertonung zum Ausdruck – eine Wärme, die auch im Tod existieren kann, wenn die Toten in Gemeinschaft beieinander liegen und geliebte Menschen ruhen können.

Johan Reuter, ein bemerkenswerter fliegender Holländer, bringt viele Eigenschaften des Wagnerschen Antihelden in seine Winterreise ein: das Gefühl des ewigen Umherirrens, die völlige Isolation, selbst unter Menschen, und einer tiefen Sehnsucht nach Ruhe.


Jonas Kaufmann, Helmut Deutsch: Mut! (2014)

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Ein weiterer Wagner-Moment, gekonnt präsentiert: »Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!«


Charly Hübner, Carlos Bica, Max Andrzejewski, Ensemble Resonanz: Die Nebensonnen (2020)

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Mit einer Mischung aus Schubert und Nick Cave interpretiert das Ensemble Resonanz mit mercy seat – winterreise den Wanderer als einen Mann, der seiner Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl entgegen sieht –  wie in Caves Lied Mercy Seat. Für Cave ist der Gnadenstuhl nicht nur eine Maschine, die den Tod bringt. Er steht für ihn auch als Metapher für den Thron Gottes, der Leben schenkt. Der »Gesangspart« wird übernommen vom brüllenden und polternden Schauspieler Charly Hübner – mit Brechtscher Sprechstimme. Im vorletzten Stück Die Nebensonnen, das von einem hymnisch summenden Chor untermalt wird, sinkt Hübner in eine Gesangsstimme, die weich und unsicher, aber auch schön ist in ihrer Verletzlichkeit.


Nataša Mirković, Matthias Loibner: Der Leiermann (2011)

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Der Leiermann, gespielt auf einer Drehleier. So schließt sich der Kreis. ¶

… berichtet über Musik und Kunst für Paper, die Washington Post, NPR, Gramophone und andere. Sie war Teil der Redaktion bei Time Out New York und WQXR/Q2 Music. Auf der Bühne der Brooklyn Academy of Music konnte man ihre Texte auch schon hören – beim Next Wave Festival. Seit 2020 ist sie festes Mitglied der VAN Redaktion. olivia@van-verlag.com

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