An der englischen Südostküste liegt der schöne Ort Hastings. Etwas weiter im Landesinneren findet man Brede (Sussex). In Hastings und Umgebung war in den 1890er Jahren die Nachfrage nach sicherem Trinkwasser rasant angestiegen. Also machte man sich Gedanken um den Bau von Pumpstationen. Schon in den Jahrzehnten davor waren entsprechende Maschinen hier in dieser Region entwickelt und gebaut worden. Die »Brede Steam Giants« sind heute ein beliebter Ausflugsort, an dem diverse historische Maschinen besichtigt werden können.

Kurz vor dieser Pionierzeit der hochindustriellen Epoche wurde eben dort – in Brede, Sussex – am 10. März 1862 Florence Aylward geboren. Aylward verbrachte ihre Kindheit mit ihren Eltern und ihren vielen Geschwistern in einem offenbar wirtschaftlich sehr abgesicherten Umfeld. Man leistete sich eine Gouvernante für die Betreuung und Mit-Erziehung der Kinder – und schickte auch die kleine Florence mit neun Jahren zum Orgelunterricht. Das hatte den Vorteil, dass Aylwards Vater Augustus (1817– ca. 1863) bald eine veritable Organistin zur Hand hatte, fungierte Augustus doch als Pfarrer in Brede. Es blieb allerdings nicht bei »dörflichem« Orgelspiel. Schon mit 14 Jahren schickte man Florence Aylward zur renommierten Guildhall School of Music nach London, wo sie auch – wohl schon kompositorisch bedingt – in Orchestrierung unterrichtet wurde. Aylwards Neigung zum Orgelspiel sowie zum Komponieren kommt nicht von ungefähr, wie man ganz nebenbei von einem Nachfahren Aylwards in einem Kommentar auf einer Internetseite erfährt. Florence Aylward soll demnach die Urururururgroßtochter von Richard Aylward gewesen sein, der von 1626–1669 lebte und unter anderem für niemand Geringerem als King Charles II. (1630–1685) – sozusagen dem direkten Namensvorgänger »unseres« King Charles III. – die Musik zu dessen Krönung komponiert haben.

ANZEIGE

Mit 19 Jahren heiratete Florence Aylward einen Architekten mit dem schönen Namen Harold Arthur Kinder, 1886 wurde Sohn Harold Frewen geboren. Trotz Ehe und Mutterschaft arbeitete Aylward weiter als Pianistin und Organistin. Ihre umfassende musikalische Kompetenz führte auch zu der Komposition einer ganzen Reihe von Liedern. Daneben engagierte sie sich für die Förderung junger Musikerinnen und Musiker und veranstaltete regelmäßig Wohltätigkeitskonzerte. Florence Aylward avancierte zu einer bedeutenden Musikerin, Pädagogin und Organisatorin im Südosten Englands.

Sie starb hochbetagt, mit 88 Jahren, am 14. Oktober 1950 in St. Leonards (Sussex).


Florence Aylward (1862–1950)
The Window

YouTube Video

Eines von Florence Aylwards Liedern heißt schlicht The Window. Der Text des Liedes stammt von einem Walter Grogan, über den rein gar nichts bekannt zu sein scheint. Herbeizitiert wird die ikonische Volksliedsituation, in der ein junger Mann an das Fenster einer jungen Frau klopft. Die Attribute der Schönen werden beschrieben, am Ende verschenkt der Jüngling eine Rose – und sein ganzes Herz (»Sweet maid, fair maid, open the window. See here the rose newborn from sleep. Look down and see our gifts to thee. A rose to wear, a heart to keep.«) Mit einer warm umspielten, umsurrten Melodie im Klavier hebt das Lied an. Eine wunderschöne Linie, die da der Sängerin in Form eines Mini-Vorspiels offeriert wird. Agil, angetan, attraktiv komponiert Aylward die Worte des (fast) unbekannten Dichters auf ihre schönen Noten. Das ist schon fast eingängig und herrlich strukturiert. Kleine Moll-Schleifen deuten die Grund-Melancholie der geschilderten »Situation« an. Doch schwingt auch eine gelassene Mütterlichkeit mit. Und im Zeichen des zitierten Text-Abschnittes verändert sich nun – ebenfalls agil – die Klavierbegleitung. Das »Schumannsche Fließen«, das vielleicht angenehm an manches Kleinod aus dessen Dichterliebe op. 48 (1840) erinnert (und dabei doch so herrlich englisch tönt), »stockt« und bebildert nun in arpeggierten Akkorden musikalisch gewissermaßen das »nachdrückliche« Klopfen des lyrischen Ichs ans Fenster der Sehnsucht. Aber, ganz »klar«, in der Rückschau. Bei einem Tässchen Tee. Wie eine mit leichtem Erröten im intimen Kreis vorgetragene »Liebesbeichte« der von Maggie Smith gespielten Violet Crawley in der Serie Dowton Abbey. Wunderbar. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.