Das gängige Bild eines Weltklassepianisten hat mit Paul Lewis herzlich wenig zu tun. Geboren wurde er in Liverpool als Sohn eines Hafenarbeiters und einer Kommunalverwaltungsangestellten, kein Familienmitglied hatte vor ihm professionell mit Musik zu tun. Der Soundtrack seiner Kindheit waren Aufnahmen von John Denver und den Beatles. Erst mit 12 bekam er Klavierunterricht. Jetzt, mit 46, gilt er als einer der besten britischen Pianisten. Er hat mehr als ein Dutzend CD-Produktionen für Hyperion und Harmonia Mundi eingespielt, 2003 wurde er zum Royal Philharmonic Society’s Instrumentalist of the Year gewählt, 2006 gewann er den Accademia Musicale Chigiana Preis, 2010 spielte als erster bei den Proms alle fünf Beethoven-Klavierkonzerte in nur einer Saison, 2016 wurde er zum Ritter geschlagen.Die Höhepunkte seiner bisherigen Karriere bestritt er mit Orchestern wie dem Leipziger Gewandhausorchester, NHK Symphony und New York Philharmonic. Am 9. Mai wird er bei den Berliner Philharmonikern debütieren.
Sein Spiel wird oft als intensiv, raffiniert und informiert beschrieben. Nicht schlecht für ein Arbeiter*innenkind, das nur durch Zufall in der städtischen Bibliothek über klassische Musik stolperte. Das Tragische an Paul Lewis’ Geschichte ist, dass sie so einzigartig ist. Die Kings-College-Dozentin (und VAN-Autorin) Christina Scharff legte dem britischen Parlament jüngst einen Bericht vor, der zeigt, dass Schüler*innen von Privatschulen noch immer den allergrößten Teil der Lernenden an den besten Konservatorien des Landes ausmachen. Gleichzeitig werden dort nur halb so viele Studierende aus benachteiligten Vierteln aufgenommen wie in allen anderen Bereichen der höheren Bildung. Diese Situation dürfte sich angesichts der jüngsten Kürzungen bei der staatlich finanzierten Musikausbildung in Großbritannien noch verschärfen.
VAN: Was sind Ihre ersten Erinnerungen an Musik?
Paul Lewis: Als ich vier Jahre alt war, bekam ich zu Weihnachten eine kleine Spielzeugorgel mit etwas mehr als einer Oktave Tonumfang. Ich erinnere mich noch, wie ich damit Melodien, die ich kannte, heraustüftelte. Aber ich bekam erst später, mit zwölf, wirklich Klavierunterricht.
Vorher habe ich Cello gespielt, ich war acht, als ich mit dem Unterricht anfing. Mit dem Cello hängen darum einige meiner besonders starken musikalischen Erinnerungen zusammen. Ich war richtig schlecht, ein furchtbarer Cellist. Aber das Gefühl, im lokalen Jugendorchester zu spielen und im Sommer auf Orchesterfahrten zu fahren, war unglaublich.
Als ich ungefähr zehn war, haben wir bei einem Sommerkurs Brahms’ Zweite gespielt. Mein Gott, wie das geklungen haben muss! Es muss erbärmlich gewesen sein. Aber ich kann die Sinfonie bis heute nur von unten her hören, von der Cellostimme aus.
Ich erinnere mich auch ans Radio und die Musik dieser Zeit, der 70er. In Liverpool waren die Beatles unumgänglich. Mein Vater war außerdem ein großer John Denver-Fan, hatte alles von ihm. Und dann gab es, nicht weit von meinem Zuhause, die Bibliothek mit einer ziemlich guten Plattenabteilung. Dort habe ich Musik wirklich kennengelernt.

Ich schätze, Sie haben eine klare Haltung zu den Kürzungen bei der Finanzierung von Musikunterricht in der Schule, die in Großbritannien in den letzten Jahren stattgefunden haben.
Ja, absolut. Als ich 14 Jahre alt war ging ich auf die Chetham’s School of Music in Manchester. Vorher hatte ich nur den normalen Schulunterricht. Musik spielte damals eine große Rolle im Curriculum. Die Musiklehrkräfte waren häufig an mehreren Schulen tätig, aber sehr wohlwollend. Zusammen mit ein paar anderen Kindern durfte ich im Sportunterricht Spontankonzerte geben. Sie haben uns dafür Teile des Sportunterrichts überlassen! Das war schon ein großes Entgegenkommen, sie haben das einfach akzeptiert als Teil von dem, was in der Schule eben stattfindet.
Heute ist das anders. Man kann in der Schule ein Instrument lernen, aber man muss immer dafür bezahlen. Und bei den Bibliotheken wird auch gekürzt. Es war wunderbar, einfach kurz dorthin zu gehen und dann durch Reihen von LPs zu stöbern und sich bei jeder zu fragen: Was steckt da wohl drin? Natürlich gibt es heute alles online. Aber man muss wissen, was man sucht, weil es unsichtbar ist, bis man es hört. In die Bibliothek zu gehen und einfach durch die Platten zu blättern, die einem in die Hände fallen, ist etwas ganz Anderes. So habe ich Musik entdeckt. Ich habe nicht danach gesucht, sie war einfach da. Das ist der Unterschied und deswegen habe ich eine sehr klare Meinung zu diesen Kürzungen.
Wenn Sie zu einer Art Musikminister ernannt würden, der für die komplette Musikausbildung in Großbritannien zuständig wäre, was würden Sie anders machen – außer mehr Geld hineinzustecken?
Ich würde versuchen, ein Programm mit lokalen professionellen Musiker*innen zu starten. Ich denke, wir haben die Verantwortung in Schulen zu gehen und zu spielen. Ich glaube, damit ermöglicht man den Kindern besondere Erlebnisse. Live-Musik ist so anders als das Musikhören von CD oder online. Dieses Level an Intensität erreicht man nicht, wenn man blind hört. Natürlich müsste auch die Finanzierung besser werden, weil ich zum Beispiel auch Streichinstrumente an die Schulen bringen würde und solche Dinge. Aber ich denke, das wichtigste ist, mit professionellen Musiker*innen zusammenzuarbeiten, mit Leuten, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, in die Schulen zu gehen und den Kindern zu zeigen, um was es geht, die ihnen solche Erfahrungen ermöglichen, die keine Angst haben mit anzupacken.
Sie haben später, nach der Schule und Ihrem Abschluss an der Guildhall School of Music and Drama bei Alfred Brendel studiert. Wie hat er Ihr Spiel und Ihren Zugang zur Musik beeinflusst?
Er ist ein wunderbares Beispiel für jemanden, der in erster Linie Musiker ist. Dass er Klavier spielt, ist eigentlich zweitrangig. So jemanden zum Vorbild zu haben, bei dem die Musik immer an erster Stelle steht und bei dem alles, was er tut, der Musik zugutekommen muss, ist sehr inspirierend. Und natürlich auch zu sehen, was er pianistisch gemacht hat, denn sein Klang war immer individuell, einzigartig. Bei einer Aufnahme hört man nach zwei Minuten, ob es Brendel ist oder nicht. Und zu sehen, wie er das gemacht hat, wie er aus dem Klavier so unterschiedliche Klänge und Farben herausgeholt hat, war wirklich faszinierend und unglaublich lehrreich.
Das ist eine der Sachen, die ich mitgenommen habe: immer zu fragen, was der Komponist oder die Komponistin für Farben schaffen wollten, weil sich das Klavier fantastisch dazu eignet, Illusionen zu kreieren. Ich denke, das Klavier ist dann besonders uninteressant, wenn es einfach nach Klavier klingt. Ein Klavier kann wie hundert unterschiedliche Sachen klingen und ich glaube, das ist so interessant an diesem Instrument. Und das ist auch, was Alfred immer gemacht hat. Er hat das Klavier nie einfach nur als Klavier gesehen. Als ich 20 Jahre alt war, hat mir das viele Türen geöffnet. Es eröffnete mir viele Möglichkeiten, an das Instrument heranzugehen.
Am 9. Mai spielen Sie Mozarts Klavierkonzert No. 27, ein Stück, das Sie schon öfter im Programm hatten. Was denken Sie über das Werk?
Ist es in vielerlei Hinsicht ziemlich ungewöhnlich, wenn man es mit den anderen Mozart-Konzerten vergleicht. Es klingt zum Teil fast nach Schubert, dieses Nostalgische, Sehnsuchtsvolle, was man in den anderen Konzerten nicht so sehr findet. Es hat außerdem dieses Akzeptierende, Hinnehmende – ich will nicht sagen, dass es ein Abschied ist. Ich weiß, dass viele Leute das so sehen, weil es sein letztes Stück ist. Aber ich glaube nicht, dass Mozart selbst das wusste, als er es geschrieben hat. Trotzdem ist es schon anders als die anderen Konzerte. Es ist sehr zart, das ist bei den anderen Konzerten nicht so offensichtlich.
Gibt es in dem Stück bestimmte Fallstricke, auf die Sie beim Spielen besonders achten müssen?
Jedes Stück hat solche Fallen! Man entkommt ihnen nicht. In diesem Stück ist das Tempo der Schlüssel, besonders im letzten Satz. Der letzte Satz wird manchmal etwas schneller gespielt als es eigentlich sein sollte, das beschwingte Thema kann dann fast banal klingen. Ich denke, es muss stattdessen dieses etwas nostalgische Gefühl haben.
Das ist jetzt Ihr Debüt mit den Berliner Philharmonikern. Mit Haitink haben Sie schon öfter gespielt. Wie würden Sie Ihre Beziehung, wenn Sie auf der Bühne sind, beschreiben?
Er ist ein wunderbares Beispiel für einen Musiker, der sich nicht in den Vordergrund spielt, der dem, was wir alle versuchen zu erschaffen, nicht im Wege steht. Er interveniert nicht, er zwingt dem Orchester seinen Willen nicht auf. Er macht es möglich, dass wir alle unser Bestes geben, aber auf unsere Art. Das ist wunderbar. Er ist fast wie ein Dirigier-Zen-Meister. Er macht alles möglich.
Haben Sie je darüber nachgedacht selbst zu dirigieren?
Dafür wäre ich nicht selbstbewusst genug! Am nächsten bin ich dem bisher gekommen, wenn ich bei Konzerten gleichzeitig gespielt und das Orchester geleitete habe, das werde ich nächstes Jahr, im Beethoven-Jahr, etwas mehr machen. Aber – ich weiß nicht. Ich würde mir wie ein Betrüger vorkommen, wenn ich da stehe würde und mit den Armen wedle. Ich wüsste überhaupt nicht, was ich tun oder sagen soll. Es gibt ziemlich viele Orchesterstücke, die ich gerne in der Hand hätte. Stellen Sie sich das vor, Brahms Sinfonien in Ihrer Hand! Aber ich muss sagen: verglichen mit den Jobs anderer Musiker*innen ist Dirigieren die Aufgabe, die man am leichtesten schlecht und am schwierigsten gut abliefert. Ich würde da nicht stehen wollen und es nicht gut machen! Wirklich nicht. ¶