Jede Ära endet irgendwann. Außer, so schien es, Daniel Barenboims Regentschaft an der Berliner Staatsoper. Sein Vermächtnis für die Musikstadt Berlin ist gerade deshalb so monumental, weil es über das Musikalische weit hinausgeht. Statt sein Erbe bloß zu verwalten, braucht es nun einen echten Neuanfang. 

Als Daniel Barenboim am 30. Dezember 1991 seinen Vertrag als neuer Generalmusikdirektor der Berliner Lindenoper unterzeichnete, war Helmut Kohl Bundeskanzler, Wind of Change der Hit des Jahres, und im World Wide Web gerade die erste Website veröffentlicht worden. In Berlin gab es noch das Schillertheater, erst seit kurzem den Tresor, und Frank Castorf war noch nicht Intendant der Volksbühne. 

Zu den Lieblingsbeschäftigungen in der neuen Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands gehörte die Selbstbefragung, ob man denn jetzt schon Metropole sei oder nicht eigentlich noch Pusemuckel, die piefigste Hauptstadt Europas. Einigen schwante, dass die Antwort schon in der Frage lag. »Die Atmosphäre in der Stadt ähnelt der eines Wartezimmers«, umschrieb es der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom im September 1991 bei einer Veranstaltung in der Humboldt-Universität. »Man wartet auf bessere Straßen. Auf einen ausgeglichenen Etat. Auf die Bebauung des Potsdamer Platzes. Auf den Prozess gegen Mielke. Auf neue Zuwanderer. Auf Arbeit und auf Enthüllungen. Investitionen und Konkurse. Die Wartezeit wird mit Reden, Klagen, Beschuldigungen, Erinnerungen verkürzt.« Mit seinen Brachflächen, verlassenen Industriegebäuden und billigen Mieten bot die Stadt ein ideales Biotop für die Subkultur. Aber wenn sich die Kulturbürger Berlins mit anderen Hauptstädten, mit London, Paris oder New York verglich, dann fehlten das Kosmopolitische, die Leuchttürme, die Grandezza. Es gab zwar drei Opernhäuser, aber keines von Weltrang. Die 250 Jahre alte Lindenoper, das zu DDR-Zeiten runtergewirtschaftete Opernhaus Ost-Berlins, sollte daher zu einer »repräsentativen Hofoper« aufgebaut werden, so das damalige Fazit eines Gutachtens des Theaterkritikers und Intendanten Ivan Nagel. 

Der Weltbürger und Weltstar Daniel Barenboim, der zwei Jahre zuvor an der neuen Pariser Bastille-Oper geschasst worden war, bevor er überhaupt seine erste Vorstellung dirigiert hatte, wurde geholt, um aus der Staatsoper Unter den Linden einen neuen Leuchtturm zu machen – und er lieferte. Unter seiner Leitung wurde die Staatskapelle in den letzen 30 Jahren wieder zu einem der renommiertesten Opern- und Konzertorchester der Welt, und einem der bestbezahlten Deutschlands. Er bewahrte den dunklen Klang der Kapelle, machte ihn aber gleichzeitig agiler und erweiterte – zumindest anfänglich – das Repertoire. 


In Berlin wurde aus dem musikalischen Wunderkind Barenboim mehr und mehr auch der Kulturpolitiker. Dem eigenen Selbstverständnis nach fand er die passende Augenhöhe dabei stets eher auf Bundes- als auf Landesebene. Wer vor dem Papst oder der UN auftritt und mit der Gründung des West-Eastern Divan Orchestra Musikgeschichte schreibt, der muss sich nicht mit den Niederungen deutscher Kommunalpolitik rumschlagen. »Er hat sich in die Landespolitik nie groß eingemischt, er versucht auf Bundesebene, wo das Geld ist, das Beste rauszuschlagen, was auch legitim ist. Das machen andere auch, nur bei ihm trägt es Früchte«, sagte eine Berliner Kulturpolitikerin vor einigen Jahren gegenüber VAN. »Seine Persönlichkeit und sein Charisma sind auf politischer Ebene sehr effektiv.« 

In seiner persönlichen Erklärung zum Rücktritt dankte der 80-jährige Barenboim Angela Merkel und Wolfgang Schäuble dafür, ihn während seiner GMD-Zeit »so angenehm begleitet« zu haben. Hätte Gerhard Schröder sich nicht mittlerweile zur persona non grata entwickelt, wäre vielleicht auch er genannt worden. Schließlich verhalf Schröder Barenboims Staatskapelle 2000 zur sogenannten »Kanzlerzulage«: jährlich 1,8 Millionen Euro aus Bundesmitteln, damals ein Novum in der Kulturförderung. 

Zur Singularität Barenboims gehört, dass sich kein klassischer Musiker vor ihm – und wahrscheinlich auch keiner nach ihm – so sehr in der baulichen und institutionellen Infrastruktur einer Stadt verewigt hat: die Barenboim-Said Akademie, der von Frank Gehry entworfene Pierre-Boulez-Saal, der Musikkindergarten. Auch die überfällige Sanierung der Staatsoper wäre vermutlich ohne ihn nicht möglich gewesen: Dem Land Berlin fehlte das Geld, also organisierte Barenboim kurzerhand 200 Millionen aus dem Bundeshaushalt. »Ohne das persönliche Werben von Herrn Barenboim auf Bundesebene wäre das sicherlich nicht so passiert«, sagte der ehemalige Bürgermeister Klaus Wowereit 2015 im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, der sich mit den explodierenden Kosten der Sanierung befasste. 


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Die Entscheidung, Barenboim an die Lindenoper zu holen, war eine der besten in der an Fehlentscheidungen nicht gerade armen Geschichte des wiedervereinigten Berlins. Als am Freitag die Nachricht von seinem Rücktritt über die Nachrichtenticker lief, erreichten einen plötzlich Nachrichten von Leuten, deren Interesse für die klassische Musikwelt sonst eher gen Null geht. Barenboim ist einer der ganz wenigen klassischen Musiker:innen, die außerhalb der Nische nicht nur Schulterzucken erzeugen. »Er ist der einzige Weltstar, den Berlin hat«, soll Wowereit schon in den Nullerjahren gesagt haben.

Allerdings wurde sein Status in Berlin irgendwann auch so unantastbar und überlebensgroß, dass niemand sich mehr traute, über das Ende der Lichtgestalt auch nur nachzudenken. Spätestens als Kultursenator Klaus Lederer 2019 Barenboims Vertrag, trotz der öffentlichen Diskussion um dessen Führungsstil, bis 2027 verlängerte, war klar, dass Barenboim sich eigentlich nur selbst aus dem Spiel nehmen konnte. Kein Politiker, so schien es, wollte als Denkmalstürmer in die Geschichte eingehen. 

Und so drohte die Ära Barenboim in den letzten zwei Jahren immer mehr ein dissonantes Ende zu nehmen. Man musste dabei zusehen, wie dieser scheinbar nimmermüde Mann, der berühmt berüchtigt dafür war, sich und andere nicht zu schonen und alles kontrollieren zu wollen, körperlich an seine Grenzen stieß. Die Tragik, zwar mehr als alle anderen erreicht zu haben, es aber trotzdem immer noch allen beweisen zu wollen, begleitete Barenboim schon länger. Nun erlebte man, wie er immer öfter am eigenen Anspruch scheiterte. Die abgesagten, abgebrochenen oder schlicht verhauenen Konzerte häuften sich. Erst waren es die Augen, dann der Rücken, zuletzt setzte ihm eine Vaskulitis zu. An der Staatsoper hatte er 2022 nicht einmal zehn Auftritte. Sein Verhältnis zum Orchestervorstand, der mehr Mitsprache bei künstlerischen Zukunftsentscheidungen wünschte, hat sich derweil immer weiter zerrüttet.

Als er zum Jahreswechsel nach mehrmonatiger krankheitsbedingter Pause Beethovens Neunte dirigierte, bejubelten einige die fast anderthalbstündige Interpretation als altersweises Meisterwerk und hofften auf ein wundersames Comeback. In ihm selbst mag währenddessen – und auch beim Blick auf die Verpflichtungen an der Staatsoper in den nächsten Monaten – die Entscheidung gereift sein, dass die reine Willenskraft nicht mehr ausreicht, die körperlichen Grenzen zu kompensieren. 

Obwohl sein Rücktritt keinesfalls aus dem Nichts kam, war er für viele überraschend. Er selbst hatte zwar in der Vergangenheit darüber gesprochen, aufhören zu wollen, wenn die Kräfte nachließen. Trotzdem waren viele überzeugt, dass er bis zum Ende weitermacht, koste es was es wolle. Sosehr die Entscheidung auch von seiner Krankheit fremdbestimmt gewesen sein mag: Mit ihr ist es Barenboim gelungen, zu einer selbstbestimmten Zukunft zurückzufinden, statt sich von Amt und Terminkalender treiben zu lassen. 


Eine Mehrheit im Orchester wünscht sich dem Vernehmen nach nun Christian Thielemann als Nachfolger. Als Einspringer hatte der in den letzten Monaten einiges gerettet, was wegen Barenboims Absagen auf der Kippe stand. Der Ring und die anschließende Asientournee waren musikalisch – und auch menschlich, wie man hört – ein Erfolg. Das Orchester wünscht sich Kontinuität, nationale wie internationale Strahlkraft und ausverkaufte Häuser. Es gibt nicht viele Dirigenten, die das garantieren. Thielemanns Kernrepertoire ist auch das bevorzugte der Staatskapelle und er passt gut zur (spätromantischen) Klangtradition des Orchesters. 

Auch bei einigen Kommentator:innen wird Thielemann als logischer und legitimer Thronfolger gehandelt. Schließlich habe Barenboim selbst ihm in einem Telefonat die Ring-Produktion übertragen und ihn damit vom Krankenbett aus zum neuen Gralshüter Unter den Linden gesalbt. Dahinter steckt der Wunsch nach bruchloser Fortsetzung eines quasi dynastischen Erbes. Aber Thielemann wäre nur auf den ersten Blick ein Kontinuum. Barenboim, der an der Staatsoper gerade in den Anfangsjahren auch Elliott Carter, Pierre Boulez, russisches und französisches Opernrepertoire dirigiert hat, war immer ein neugierigerer Musiker als Thielemann. Dessen Programme werden jedes Jahr einfallsloser und vorhersehbarer. Ein:e Generalmusikdirektor:in muss nicht alles können und wollen, aber vielleicht dann doch ein bisschen mehr als Beethoven, Bruckner, Strauss und Wagner. Erst recht an einem symbolisch und kulturpolitisch so aufgeladenen und repräsentativen Ort wie der Berliner Staatsoper.

Überhaupt weiß niemand, ob Thielemann will. Vielleicht reizt den Preußen-Fan ja die Aura der Wirkungsstätte gleich neben dem Stadtschloss, dessen Wiederaufbau er vor zwei Jahren als »epochale Leistung« begrüßte: »Die Linden haben wieder einen Abschluss. Das gehört ja dahin, das Schloss.« Und war das Orchester der Lindenoper, die Königliche Hofkapelle zu Berlin, nicht einst die Nummer eins unter den preußischen Orchestern? 

Während die Kulturstaatsministerin Claudia Roth »Preußen« aus dem Namen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz streichen möchte, im Außenministerium das »Bismarck-Zimmer« umbenannt wird und Kultursenator Klaus Lederer lieber den Palast der Republik behalten hätte als das Stadtschloss wiederaufzubauen, würde am ehemals preußisch-königlichen Opernhaus ein selbsterklärter »Beutepreuße« regieren, einer, der in seiner wilhelminischen Villa Gemälde und Möbel aus Preußen um 1800 sammelt und sich mehr preußische Tugenden und weniger Zeitgeist wünscht – diese Vorstellung hat allerdings schon eine gewisse reizvolle Komik.

Aus der Staatsoper und der Kulturverwaltung heißt es, dass die Würfel noch nicht gefallen seien. Die Entscheidung über Barenboims Nachfolge sei weder Automatismus noch Selbstläufer. Man empfinde keinen Zeitdruck und mache sich jetzt ganz entspannt auf die Suche. Eigentlich kaum denkbar, dass sich die Berliner Kulturpolitik nach Barenboim ausgerechnet Thielemann einhandeln will, mit dem es noch fast überall Streit gab, ob in Nürnberg, Berlin, München oder Salzburg, und der selbst Dresden zu »altmodisch« war. 

Langfristig vielversprechender wäre, auf Wandel, frische Impulse und einen lustvollen Neuanfang zu setzen, statt auf ein Weiter so. Denn bei der Lindenoper muss man sich eher weniger Sorge um die Bewahrung des Erbes, als um die Vermeidung des Stillstands machen. Einen wie Barenboim wird es ohnehin nie wieder geben. Mit ihm verabschiedet sich von der Staatsoper auch eine absolutistische Machtfülle und ein Führungsstil, der keinen Widerspruch duldete und für seine Mitarbeiter:innen oft toxisch war. Barenboim entstammt einer Zeit, in der autoritäres Verhalten, Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit quasi zum Anforderungsprofil eines »Maestros« gehörten. Damit wirkte er zuletzt immer öfter wie der letzte Saurier einer untergegangenen Welt. Der oder die Neue sollte neben musikalischer Neugier auch Teamplayer sein, den bereits begonnenen Kulturwandel am Haus fortsetzen und das bisweilen hermetisch wirkende Haus für neue Zielgruppen öffnen. Braucht es dafür unbedingt einen etablierten, »großen« Namen, oder traut man sich, etwas gemeinsam zu entwickeln? Als die Berliner Philharmoniker sich für Kirill Petrenko entschieden, war das auch nicht die offensichtliche Wahl, die überall ausverkaufte Säle garantiert. 


Wer auch immer Barenboims Nachfolgerin oder Nachfolger wird, sie oder er wird mit seinem Schatten leben und sich davon emanzipieren müssen, egal wie oft der Chefdirigent auf Lebenszeit im Haus selbst präsent ist. Wer in der Geschichte Anschauungsmaterial sucht, was passieren kann, wenn der Patriarch zwar abdankt, aber immer noch da ist, wird zum Beispiel im Fußball fündig. Am 8. Mai 2013 erklärte Sir Alex Ferguson nach 27 Jahren seinen Rücktritt als Cheftrainer von Manchester United. Er hatte den Verein von einer schlechtgelaunten grauen Maus der englischen Liga zu einem der erfolgreichsten und reichsten Fussballclubs der Welt gemacht: 38 Trophäen, darunter zweimal die Champions League und 13-mal die Meisterschaft. Das Motto seines Führungsstil beschrieb der Sohn eines schottischen Werftarbeiters einst mit »Macht und Kontrolle«. Sein »Hairdryer Treatment« – das Anbrüllen aus kurzer Distanz, das dem gescholtenen Spieler den Haarföhn ersetzt – ist in England zum geflügelten Wort geworden. Nach dem Rücktritt wurde Ferguson Vorstandsmitglied und Vereinsbotschafter. Ab und zu setzt er sich im Stadion Old Trafford auf seinen Platz in der Directors’ Box, Block STH223, Reihe F, Sitz 128. Er blickt von dort auf die Nordtribüne, die seit einigen Jahren »Sir Alex Ferguson Stand« heißt, mit einer überlebensgroßen Statue seiner selbst davor. Immer, wenn er reinkommt, erhebt sich das Stadion und ruft seinen Namen. Sieben Trainer hat Manchester United in den neun Jahren seit Fergusons Rücktritt verschlissen. Meister ist der Verein kein einziges Mal mehr geworden. ¶

Hartmut Welscher

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com