Leif Ove Andsnes ist ein stiller Mensch. Wenn er die Bühne betritt, ist sein Blick in sich gekehrt und leicht gesenkt, so, als höre er hin. Auf das rauschende Theater rundherum, die leiser werdenden Stimmen, den beginnenden Applaus. In der Kölner Philharmonie Mitte November ging er den Weg zum Flügel nicht allein, sondern gemeinsam mit dem 91-jährigen Dirigenten Herbert von Blomstedt – ein wirklich besonderes Duo. Wie Blomstedt beim Taktieren machte auch Andsnes am Flügel gar nicht viel. Keine ausladenden Pianistenbewegungen, keine effektheischenden Rubati, keine großen Fortissimos. Er spielte einfach, Johannes Brahms’ 1. Klavierkonzert – mit einer Wachsamkeit, die sich wie ein Schirm immer größer werdend über das Geschehen spannte. Extrem bewusst, magisch fließend. Das Publikum forderte ihn wieder und wieder auf die Bühne, auch nachdem er schon längst seine Blumen bekommen hatte. Eine Zugabe spielte er dennoch nicht. Enttäuschtes Raunen – über das er, ganz kurz nur, zu lächeln schien.In seiner Garderobe rückt sich Andsnes für das anstehende Interview einen Stuhl zurecht: mit der Rückenlehne zur Tür, den Blick aufs Klavier vor der Wand. Er ist konzentriert, hat sich Gedanken gemacht. Wie auf der Bühne lässt er sie scheinbar aus dem Hinhören, aus der Stille heraus neu entstehen. Manchmal, nachdem er einen Satz gesagt hat, legt er beide Handflächen aneinander und die Zeigefinger an die Lippen und bleibt so ein paar Sekunden sitzen. Den Blick in sich gekehrt und leicht gesenkt. Dieses Schweigen hat etwas Besonderes, es ist wie ein kurzes Zeitanhalten. Jedes Mal setzt Andsnes nämlich wieder an – und scheint seinen Gedanken dann ein ganzes Stück näher gekommen zu sein.

VAN: Dein letztes großes Projekt war das Beethoven-Projekt. Wie spielt sich jetzt Brahms, sozusagen mit Beethoven in den Knochen?

Andsnes: Es gibt eigentlich keinen ehrlicheren Komponisten als Beethoven. Sein Ausdruck ist so direkt, du musst wirklich klar sein in dem, was du tust. Beethoven ist nie vage, selbst im Pianissimo und in ruhigen Momenten weiß er immer genau, was er will. Für dich als Pianist ist das eine echte Lektion. In anderer Musik – Chopin oder Schubert oder Mozart – kannst du deine eigene Intention immer ein bisschen verstecken, weil alles mehrdeutiger, doppelbödiger ist und manchmal sogar etwas vager gespielt werden muss. Bei Beethoven geht das nicht, er ist klar in seiner Intention und unglaublich ernst. Da gibt es kein Theater wie bei Mozart beispielsweise, wo man immer das Gefühl hat, einer Konversation zuzuhören. Bei Beethoven sind die Noten an sich wichtig, und das hat etwas mit mir gemacht – mit dieser Ernsthaftigkeit und Direktheit des Ausdrucks zu arbeiten. Ich habe gelernt, klar zu sein.

Was bedeutet das für ›deinen‹ Brahms?

Es hat meinen Zugang zu Brahms verändert. Vieles bei ihm geht, wie auch bei Beethoven, vom Bass aus, ist im Grunde sinfonisch gedacht, und ganz anders zu spielen als Klaviermusik von Chopin, Debussy, Mozart oder Schubert, die irgendwie transparenter ist. Da geht mehr von der leitenden rechten Hand aus. Eine zu starke Linke kann im schlimmsten Fall sogar zerstörerisch sein. Bei Brahms und Beethoven aber spürt man, dass diese Musik aus dem Bass heraus geboren ist, alles an ihr. Der Klang kommt aus dem Boden, aus der Erde, und das hat im Grunde etwas sehr Menschliches. Mozart beispielsweise scheint immer vom Himmel herabzublicken. Gerade in großen Hallen ist mir bei Brahms vor allem wichtig, mit starker linker Hand zu spielen, und das vergisst man oft als Pianist. Wenn ich irgendwann einmal unterrichte, werde ich, denke ich, genau darüber sprechen – dass der größte Fehler häufig der ist, die linke Hand zu vernachlässigen.

Man könnte sagen, du lebst momentan mit Brahms’ 1. Klavierkonzert. Wie ist denn das ›Leben‹ mit diesem Werk?

Es ist sehr speziell, ein sehr einzigartiges Konzert. Wir denken bei Brahms ja nicht gerade an einen radikalen Komponisten, aber dieser erste Satz ist einfach so voller Extreme, voll ungewöhnlicher Wendungen, die ganze Zeit. Er schreibt nur Maestoso – was ja keine wirkliche Tempoangabe ist –, dazu steht es in 6/4, was höchst ungewöhnlich ist, und hat wirklich abgefahrene aggressive Klänge wie diese Tremolos und Triller (singt). Das ist oft extrem unpraktisch zu spielen, zudem es fürs Klavier schon schwer genug ist, überhaupt laut genug zu sein, um mit dem Orchester mithalten zu können. Die Orchestration ist in diesem Konzert wirklich nicht perfekt.

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Nun, es war sein erster großer sinfonischer Versuch …

Ja, das Stück war für ihn keine leichte Geburt, und irgendwie scheint es mir, als reflektiere die Musik selbst diese Komplikationen. Aber was für ein wahnsinniger Ehrgeiz da drin steckt! Diese Kontraste, dieser Sturm, der da tobt, diese Weite – und dann ist es manchmal fast brutal, als fahre eine Axt durch die Musik. Das ist junge, jugendliche, große Leidenschaft, die da durchklingt. Und dann, auf der anderen Seite, finde ich es unglaublich weise, wie Brahms seiner Musik diesen Raum gibt, sich zu entwickeln. Kurz vor Ende des ersten Satzes verschwindet die Musik ja förmlich, in diesen gebrochenen Akkorden (singt), bis nur noch der Herzschlag von der Pauke übrigbleibt. Sie hört einfach vollständig auf – der Kontrast zu dem gewaltigen Sturm vorher ist gigantisch.

Brahms hat das Stück mit nur 24 Jahren komponiert.

Ja. Er war eine alte Seele in einem jungen Körper.

Und du warst nur vier Jahre älter, als du es zuletzt aufgenommen hast – 1998 mit Simon Rattle. Hast du dir die alte Aufnahme eigentlich mal angehört vor der Tour?

Nein, irgendwie nicht …

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Wieso nicht?

Ich weiß nicht. Eigentlich ist es komisch, dass ich sie mir nicht angehört habe. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir gefällt. (lacht) Im Grunde war es eine ziemliche Überraschung, dass es überhaupt zu der Aufnahme kam. Ich glaube, Martha Argerich war es, die das Konzert abgesagt hatte – und dann kam EMI auf mich zu. Wir schauten gemeinsam, wie wir die Situation, die ausstehenden Sessions bestmöglich nutzen konnten und entschieden uns für Brahms 1. Klavierkonzert, das ich zu diesem Zeitpunkt schon seit vier Jahren gespielt habe. Ich habe es als Chance betrachtet, und hatte noch ein paar Monate, um das Stück vorzubereiten. Im Grunde war es ein wirklich schönes Projekt, nur im Nachhinein betrachtet fühlt es sich an, als sei ich etwas zu sehr kopfüber in die Sache hineingesprungen.

Ich hätte die Aufnahme dabei – wir können sie uns anhören …?

Nein! (lacht) Ich höre sie mir zu Hause in Ruhe an, wenn ich neugierig bin …

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Hörst du deine Aufnahmen überhaupt manchmal?

Sehr selten. Meist liegt der Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht lang genug zurück, und dann ist mir alles einfach noch zu nah. Dann kann ich es nicht genießen, weil ich noch jede einzelne Note, jeden Akkord in mir habe. Mit etwas Abstand kann ich meine Aufnahmen objektiver hören – aber oft interessiert es mich dann nicht mehr.

Wie war dein erstes Herantasten an das 1. Brahms-Klavierkonzert? Erinnerst du dich daran?

Nicht mehr detailliert. Ich weiß nur noch, dass es mir extrem schwergefallen ist, zu warten – schließlich braucht es geschlagene drei Minuten, bis man überhaupt mal eine Note spielen darf. Und dann das Tempo: Der erste Satz wäre für einen Pianisten so viel leichter im doppelten Tempo zu spielen (singt), aber es muss ja dieser langsame Fluss sein, den Brahms da schreibt, du musst wirklich mit dem Orchester gehen, atmen, denken, es ist eigentlich nie das typische, normale virtuose Spiel, das man als Pianist kennt und beherrscht – im dritten Satz ansatzweise, aber das war’s dann auch. Für mich war wirklich die größte Herausforderung durchzuatmen und geduldig zu sein, nicht zu viel auf einmal zu wollen.

Wie ist es heute für dich?

Ich weiß nicht, warum, aber ich bin nicht mehr ungeduldig. Ich liebe jeden Akkord, vor allem des zweiten Satzes, und hinterfrage die Zeit nicht mehr, die die Musik braucht. Es hat etwas sehr Spirituelles, Tröstliches, wie sie so dahinfließt, in diesen ruhigen 6/4, das ist sehr empfindlich, zärtlich auch und fast gebetsartig, wie eine Liebeserklärung. Ich genieße diesen zweiten Satz sehr viel mehr als noch vor 20 Jahren.

Herausfordernd ist das Konzert ja aber trotzdem, nur dann auf andere Weise?

Es ist echt hart zu spielen – physisch. Das 2. Konzert beispielsweise hat mehr Noten, aber im 1. brauchst du gegen das Orchester eine extreme Kraft, um überhaupt einen Klang zu erzeugen, der führen und neben dem Orchester bestehen kann – und das ist extrem herausfordernd. Ich fühle es richtig in den Armen, in den Muskeln, jetzt, nachdem ich es sechs Mal gespielt habe und noch drei Mal spielen werde. Nach der Tour werde ich ein paar Tage brauchen, an denen ich nur wenig oder gar nicht Klavier spiele …

Dazu tragen wahrscheinlich auch diese hämmernden Oktavpassagen im ersten Satz bei.

Ja, diese Passagen sind auf eine gewisse Weise berühmt dafür, wie schwer sie zu spielen sind. Es ist, ohne Brahms zu nahe treten zu wollen, ein bisschen steif komponiert für das Klavier. Im zweiten Konzert fühlt sich alles ein bisschen geölter an, jetzt nicht wie bei Rachmaninov, aber zwischen den Händen ist viel mehr Flexibilität. Im 1. Konzert passiert so viel parallel, wie eben die Oktaven (singt), wo man mit beiden Händen exakt dasselbe macht, und das ist für einen Pianisten alles andere als angenehm.

Du sprachst vorhin von den scharfen Kontrasten, der außergewöhnlichen Dynamik des Werks. Wie gehst du damit um?

Ich liebe diese Kontraste. Durch sie entstehen die Geschichten erst, die man erzählen kann. Bei diesem Konzert hat man außergewöhnlich viel Zeit dafür. Oft sind Klavierkonzerte nach 25 Minuten vorbei, wonach man oft etwas unbefriedigt zurückbleibt, weil man das Gefühl hat noch nicht ganz fertig zu sein. Brahms gibt seiner Musik aber so viel Raum, dass sich für dich als Interpret ganz neue Möglichkeiten öffnen. Ich stelle mir manchmal vor, ich sei ein Schauspieler, der eine Rolle verkörpert oder eine Geschichte erzählt – und ich spreche in Kontrasten und Klängen.

Dabei bescheinigen gerade dir Kritiker oft eine gewisse Kühle – ›Coolness‹ – und Distanziertheit, ›Unaufgeregtheit‹ in der Interpretation …

Ich finde, ›cool‹ ist kein so schönes Wort (lacht). Vielleicht sehe ich beim Spielen ruhiger aus als andere Pianisten, aber ich hoffe natürlich trotzdem, dass die Musik nach wie vor reich ist an Schattierungen. Für mich klingen diese Bezeichnungen, ehrlich gesagt, ein bisschen nach Vorurteil: Man kriegt, wenn man aus dem Norden kommt, schnell das Image ab, man sei kühl und distanziert. Ich erinnere mich an eine Aufnahme, die ich mit Antonio Pappano vor ein paar Jahren gemacht habe – Rachmaninov-Klavierkonzerte –, und da wurde oft der Vergleich gezogen zwischen meiner nordischen Kühle und seinem italienischen Temperament. Extrem stereotyp. Ich kenne so viele Leute aus Norwegen oder Finnland, die krass emotionale Menschen sind. Trotzdem ist es natürlich schwierig zu kommentieren, wie andere mich sehen.

Was würdest du denn sagen, wie du dich in den 20 Jahren zwischen den beiden großen Brahms-Projekten entwickelt hast – als Künstler?

Als ich in meinen Zwanzigern war, war alles immer so irre wichtig, ich wollte alles richtigmachen und war wegen so vieler Dinge nervös. Ich wollte die Welt davon überzeugen, dass ich etwas zu sagen habe. Das hat am Ende dazu geführt, dass ich im Konzert wenig spontan sein konnte, weil ich mir selbst nicht genug Raum gegeben habe. Jetzt, wo ich routinierter bin, bin ich auch zufriedener mit dem, was ich tu. Natürlich hat sich mein ganzes Leben in der Zeit sehr verändert, ich bin vor acht Jahren Vater geworden. Wenn sowas passiert, wird dir klar, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als ein Konzert. In dem Moment, in dem ich spiele, ist das Konzert natürlich, hier und jetzt, das Wichtigste. Nur gibt es einfach zu vieles im Leben, das man nicht kontrollieren kann – ich habe nach und nach meine Spontaneität neu entdeckt. Ich würde sage, ich bin ein glücklicherer Pianist als noch vor 20 Jahren. Aber im Grunde ein komplett anderer Mensch. ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.