Mit 16 Jahren trat Veronika Eberle mit Simon Rattle, den Berliner Philharmonikern und Beethovens Violinkonzert bei den Salzburger Osterfestspielen auf. Das Angebot eines Plattenvertrags bei Sony lehnte sie damals ab. Sie vertraue darauf, dass die erste Aufnahme zum richtigen Zeitpunkt komme, sagte sie in einem VAN-Gespräch vor acht Jahren. Im Februar ist nun ihr Solo-Debütalbum erschienen – wieder Beethoven, wieder Simon Rattle. »Ich habe ihn gefragt, er fand die Idee auch wunderbar, und wir waren uns ziemlich schnell einig, dass es das Beethoven-Konzert sein soll, weil es uns sehr verbindet«, erzählt sie mir, als wir uns am Morgen nach einem Konzert mit der Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker in einer Hotellobby treffen. »Es war das erste Werk, das ich mit ihm auf der Bühne aufgeführt habe und das auch für meine musikalische Karriere sehr wegweisend war.«

VAN: Fällt es dir leicht, in diesen Tagen Musik zu machen?

Veronika Eberle: Die Nachrichten lassen einen schon schlaflos. Es ist klar, dass der Mensch etwas Dämonisches in sich hat, aber wie das rausbricht, das geht mir extrem nah. Ich finde es umso wichtiger, dass wir weiter Musik machen, noch besser Musik machen, noch mehr Musik machen, weil Musik die Kraft hat, das Gute im Menschen herauszubringen.

Wo spürst du das?

In jedem guten Konzert, in dem man eine Verbindung zum Publikum aufbauen kann, wenn Leute nach einem Konzert kommen und sagen, dass es etwas mit ihnen gemacht hat, oder wie gestern hier, wenn man mit jungen Leuten musiziert, die das mit einer solchen Freude und Hingabe tun, dass man merkt: Ja, dafür mache ich das. Das ist die Kraft der Musik.

In der Sendung Klassik-Pop-et cetera im Deutschlandfunk hast du von einer Phase in deinem Leben erzählt, in der du mit Anfang 20 ›etwas bewusster überlegen‹ wolltest, was du mit deinem Leben machen möchtest. Was war das für eine Phase?

Ich habe ja sehr früh angefangen, Geige zu spielen, dann hat sich das eine aus dem anderen ergeben. Es war kein kognitiver Prozess, sondern eher das, was das Leben mir gegeben hat, eine Welle, auf der ich mitgeschwommen bin. Mit 20 hat dann auf einmal der Kopf angefangen einzusetzen: ›Will ich dieses Leben wirklich führen, ist Musik das Größte, wofür ich brenne, was mich am meisten erfüllt?‹ Da gab es einen Moment, in dem ich das alles hinterfragt habe – was, glaube ich, auch sehr gesund ist. Ich bin dann in verschiedene Richtungen gegangen, bin viel gereist, war unter anderem sechs Wochen mit dem Rucksack in Indien unterwegs. Ich habe dann aber gemerkt, wie sehr ich das Geigespielen liebe, und wie sehr ich es vermisse, wenn ich länger nicht gespielt habe.

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Glaubst du, Geigespielen war dein größtes Talent?

Ich denke schon, Musik an sich. Es war das, wo ich gemerkt habe, dass ich mich am besten ausdrücken kann. Mit Worten stolpere ich zum Beispiel viel mehr über mich selbst als in der Musik. 

Du hast vor sechs Jahren in Christoph Marthalers Lulu-Inszenierung an der Hamburger Staatsoper mitgespielt. Wie war die Zusammenarbeit?

Er ist jemand, der einen erstmal beobachtet und machen lässt und dann die Stärken aus der Person herauszieht. Er stülpt dir keine Rolle über, sondern schaut, was jemand anbietet. Das kann dann sehr reduziert sein, oder auch überbordend, je nachdem, was man als Typ mitbringt. Das war eine sehr bereichernde Zeit, auch mit diesen beiden großen und starken Persönlichkeiten Barbara Hannigan und Anne Sofie von Otter zu arbeiten, die richtige Operntiere sind – auf der Bühne zu stehen und zu beobachten, wie man sich in diesen sechs Wochen Proben in den Prozess einfindet und selbst zu einer Figur wird. 

Du hast das Berg-Violinkonzert, das in Hamburg Teil der Inszenierung war, danach ein paarmal mit Hannigan als Dirigentin gespielt. 

Ja, nachdem wir diese extreme Opernerfahrung gemacht haben, bei der sie als Lulu stirbt, ihre Stimme an mich weitergibt und ich sie in der sprachlosen Musikgestaltung weiterführe, war es schön zu sehen, wie Opernproduktion und die psychologische Arbeit im Hintergrund uns wahnsinnig verbunden hat und das Konzert dadurch auch eine andere Dimension und Wichtigkeit bekommen hat. 

Was hast du aus der Opernerfahrung mitgenommen in dein Solistinnen-Dasein?

Ich bin als Solistin auf der Bühne in gewisser Art und Weise auch eine Schauspielerin, und es hat mich beeindruckt, wie Marthaler mit seiner menschlichen Präsenz in den Proben völlig gelassen einen Raum öffnet, in dem jeder das Kreativste und Beste aus sich herausholen kann. Das ist auch das, was ich mir als Musikerin in der Probenarbeit wünsche. 

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Gleichzeitig gibt es viel weniger Raum und Zeit in der Probenarbeit als am Theater oder der Oper.  

Ja, aber selbst in dieser kurzen Zeit kann man Leute eng machen oder weit. Ich gehe als Solistin jetzt viel offener in Proben rein. Ich habe zwar klare Vorstellungen, aber schaue gleichzeitig, was vom Gegenüber kommt und wie wir uns finden. Denn egal, ob ich das Konzert schon mit zig anderen Orchestern und Dirigenten gespielt habe, gibt es zu Beginn der Probe immer wieder den Moment, wo sich alles neu finden und zusammenkommen muss. 

Wie machst du das als Solistin konkret, gibt es da bestimmte Worte oder Gesten?

Ich hatte mal eine Probe mit Bernard Haitink und dem London Symphony Orchestra in London, es war meine erste Begegnung mit ihm und dem Orchester auf der Bühne. Wir haben Mendelssohn geprobt, das Konzert einmal durchgespielt, uns angeschaut und er meinte: ›Wonderful, we see each other tomorrow.‹ Dann sind wir nebeneinander von der Bühne, er hat mich etwas angelächelt und gesagt, dass ich mich bestimmt frage, warum wir nicht weiter geprobt hätten. ›You know, Veronika, either it works or it doesn’t work.‹ Das war für mich eine sehr interessante Erfahrung. Ich glaube schon, dass es wichtig ist, zu proben, gerade für junge Leute, ins Detail zu gehen und zu arbeiten, und es kommt auch ein bisschen aufs Werk an. Aber es ist schon auch so, dass entweder die Chemie stimmt oder gar nicht stimmt, und das merkt man ziemlich schnell. 

Auf die Frage nach der ersten Aufnahme, hast du mir vor acht Jahren erzählt: ›Ich glaube, sie wird zum richtigen Zeitpunkt kommen.‹ Warum war jetzt der richtige Zeitpunkt? 

Ich hatte lange das Gefühl, dass Musik im Moment entsteht und vergeht und das auch etwas Wertvolles ist. Aber in der Corona-Zeit habe ich auch gemerkt, dass man das Publikum auch anders erreicht und mit einer CD-Aufnahme vielleicht auch ein anderes künstlerisches Statement hinterlässt.

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Christian Tetzlaff hat einmal über den ersten Satz des Beethoven-Konzerts gesagt: ›Für mich ist das eindeutig das Bild von einer reinen Seele, von einer naiven Seele, die konfrontiert ist mit Schrecken, mit Krieg – das Militärische ist aus dem Anfang nicht wegzudenken – mit dem wirklich Gefährlichen. Das ist ein Kampf, der sich durch jede Taktgruppe zieht.‹ Bei deiner Aufnahme klingen die Gegensätze versöhnlicher, lyrischer. 

Da hat Christian seinen Interpretationsansatz klar und stark in Worte gefasst. Ich finde auch, dass sich das Radikale, Extreme und Schroffe findet, aber in diesem Werk noch so viel mehr steckt. Es fasziniert mich, wie er es schafft in wenigen Noten, so radikal reduziert, alles zu sagen und auszudrücken. Wie die Reinheit der Melodien und menschliche Wärme einen zu tiefst berühren und staunen lassen und wie es in seiner manchmal fast kargen Schönheit strahlt. Für mich sind in diesem Werk die leisesten Stellen oft die magischsten.

Bist du jemand, der in Proben viel spricht und Bilder benutzt?

Kommt auf das Werk an: bei Berg sehr stark, bei Beethoven nicht unbedingt, da geht viel über Klang, Harmonien, Energien, die man entwickelt. Generell versuche ich eher, über das Musizieren zu lenken oder zu leiten. Ich glaube, wenn man da sehr klar ist, dann zieht das auch die anderen mit und bringt einen Sog. 

Du hast Simon Rattle über einen ehemaligen Cellisten der Berliner Philharmoniker kennengelernt, Rudolf Weinsheimer, der dich bei einem Auftritt in einem Altenheim gehört hatte und daraufhin den Kontakt hergestellt hat. Du hast Rattle dann mit 14 in Salzburg vorgespielt. Was genau?

Er hatte gesagt: ›Du kannst bringen, was Du möchtest.‹ Ich habe dann die Bach Solosonate a-Moll komplett gespielt und das Mozart A-Dur Konzert, bei dem er mich am Klavier mit dem Orchesterpart begleitet hat. Er hat dann seinen Assistenten darum gebeten, mit mir in die Buchhandlung zu gehen und zwei Bücher von Harnoncourt zu kaufen, Musik als Klangrede und Der musikalische Dialog. Es kamen da natürlich viele Fragen auf und ich habe schnell gemerkt, dass Simon ein echter Mentor ist. Ich hatte das Glück, dass er mir ab da immer wieder Zeit geschenkt hat. Er spielt dann meistens am Klavier die Partituren, was übrigens sehr beeindruckend ist, wie er das kann.

Wie hat sich Rattle verändert in den letzten 20 Jahren?

Für mich ist es spannend zu sehen, wie er durch verschiedene Lebensabschnitte geht und verschiedene Ehen mit verschiedenen Orchestern hatte, wie ihn das formt und vor allem was er den Orchestern mitgibt. Es ist nach wie vor eine seiner großen Stärken, dass er immer neugierig ist, neue Sachen entdecken will, weitergehen und nicht stehenbleiben möchte. Neulich haben wir zum Beispiel mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks das Violinkonzert von Miklós Rózsa gemacht, das ich gar nicht kannte, für das er aber gebrannt hat. Und er hat nach wie vor dieses große Herz und diese unendliche Seele und Wärme.

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Was bleibt aus Harnoncourt-Büchern hängen, wenn man 14 ist?

Damals waren die natürlich erst einmal überwältigend und nicht leicht zu verstehen. Aber sie haben mir gezeigt, dass es noch viel zu entdecken gibt, dass die Herangehensweise an Musik sehr unterschiedlich sein kann. Ich habe bei Ana Chumachenco studiert, die ich unglaublich liebe und schätze und die eine phänomenale Lehrerin ist. Als 13- oder 14-Jährige denkt man: Das, was die Lehrerin sagt, ist das Amen in der Kirche. Die Bücher haben mir gezeigt, dass es verschiedene Herangehensweisen und Interpretationsstile gibt, dass man weitergehen und für sich selber eine Sprache finden kann, und dass es schlussendlich, auch wenn es Aufführungspraxis gibt und man alle Informationen hat, immer eine persönliche Sicht des Ganzen ist. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com