Vielfalt der parallelen Sonntagnachmittagsbeschäftigungen einer normalen Berliner Familie: Unsere Kinder schauen im Zoopalast den »Mighty Kinofilm« Paw Patrol, während meine Frau und ich uns fünf Kilometer weiter östlich das Mighty Barockwerk Rosenkranz-Sonaten reinziehen, Geigenfingerpatrouille der Sonderklasse. Der herzige Welpenreißer dauert 95 Minuten, der herzinnige Biberschlager satte 210. Allerdings inklusive Pausen und Nachstimmen. Letzteres nimmt bei Darmsaiten bekanntlich etliche Minuten in Anspruch, die sich auf Dauer zu geschlagenen Viertelstunden summieren. Spätestens vor dem auferstehenden Surrexit Christus hodie oder der himmelfahrenden Aria Tubicinum wird die sich wiederholende Stimmerei selbst zu Andacht und Meditation, zu purem Musikhören. Zumal bei Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704), dessen Exzess- und Experimentierlust rege und findige Gegenwartskomponisten erstmal nachmachen müssen.
Dem Pierre Boulez Saal mag ekklesialer Charme abgehen. Aber er hat gerade noch die richtige Dimension für Bibers Rosenkranz-Sonaten. Darin liegt ein Wert dieses Raums im Berliner Saalangebot; der Kammermusiksaal der Philharmonie etwa wäre um Weiten zu groß. Und zu den BVG-lookalike-Sitzbezügen und überhaupt zu der ganzen pragmatischen Bauweise (so kostendiszipliniert können Meisterarchitekten bauen) passt es auch, dass in den zweisprachigen Saaldurchsagen vor Konzertbeginn der Name »Boulez« gutberlinerisch ausgesprochen wird: ungefähr »Búlles«, wie Bulette. Und dass bei der Darstellung im Tempel dann trotzdem ein Handy bimmelt, wie in der U-Bahn.

Zudem hat der Boulezsaal gegenüber einem Kirchenraum zwar ein auratisches Minus, aber ein audiophiles Plus. Selbst wenn hier natürlich der Dauerschimmer des längeren Nachhalls fehlt, was mancher spirituelle Mensch bedauern mag. Aber die Absenz von Schimmer rückt uns intimer ans und ins physische Geigenerlebnis. Der Klang des Hauptinstruments ist nicht so exponiert wie in abgemischten Einspielungen, sondern stärker eingebettet, als Teil eines erlesenen Quartetts mit den Mitspielenden Hille Perl (Gambe), Lee Santana (Theorbe) und Michael Behringer (Cembalo und Orgel). Der Geiger Daniel Sepec steht dennoch jederzeit im Mittelpunkt, oft quasi nackt, da es eben so erbarmungslos reinquietschen kann, dass ein Menuhin-Perlman-Freund gelind die Öhrchen rümpfte.
It’s Barock, stupid! Süddeutscher Barock. Das muss so. Sepec ist der kompetenteste, intensivste, innigste Sachwalter, den Herr Biber sich hätte wünschen können, jener katholische Vogel, der der beste Geiger seiner Zeit gewesen sein soll und dessen Soli der Sekundärliteratur zufolge »die schwersten und wunderlichsten« seien. Nur in einer einzigen Handschrift sind seine Rosenkreuz-Sonaten erhalten, erst 1905 erschienen sie im Druck. Man male sich einmal aus, eine so ordnungsliebende Frau wie die meine hätte in den 200 dazwischenliegenden Jahren ordentlich Papier entsorgt! Da hätte sie glatt eins ihrer liebsten Werke über die ewige Wupper geschickt, obwohl sie doch nun im Boulezsaal sitzt und verzückt, beglückt, entrückt Sepec zuhört. Fünfzehn Sonaten lang, von Mariä Verkündigung über Passion Christi bis zur Himmelskrönung der Muttergottes nach erfolgreicher Assumptio, und eine abschließende vertrackte Passacaglia obendrein.
Eine bemerkenswerte Sonderlichkeit der Rosenkranz-Sonaten besteht im Wechsel des jeweils anders gestimmten Instruments zwischen allen Sonaten. Die – bei genauem Hinsehen – augenfälligste Krux ist dabei die Überkreuzung der Saiten unterhalb des Stegs in der elften Sonate Auferstehung. In diesem Stück baut sich dann eine wahrhaft überwältigende Erwartung auf, in der Hille Perls Gambe einen ergreifenden Resonanzboden bildet, um schließlich im Adagio-Teil zu paralleler Einheit mit der Geige zu finden. Die ohrenfälligste Krux hingegen zeigt sich schon im Einstimmen auf die sechste Sonate, Christus am Ölberg, wenn bereits vor dem Lamento die Dissonanz zwischen den nackten Saiten zu hören ist. In dieser Ölbergszene selbst wird dann trotz Sepecs meisterlicher Technik jederzeit eine seelenverstörende Instabilität des Tons zu hören sein, die den Hörer alle Sicherheiten verlieren lässt. Wir alle sind Gethsemane.
Meditativ und erzählerisch zugleich sind Bibers Rosenkranz-Sonaten. So beginnt die Kreuztragung mit lastend schweren Schritten, um alsbald in eine Gegenbewegung abzubiegen, wo der Ton sich vollkommen von der Erde zu lösen scheint, luftleicht flatternd. Die geigerischen Attraktionen des Zyklus scheinen unbegrenzt. Veritable Rockmusik und veritablen Paganini gibt es am Schluss der Kreuzigungs-Sonate. Und während sonstewo in der sakralen Kunst (sei sie nun bildend oder tönend) fast immer eine problematische Unwucht zwischen ergreifender Passion und der abflauend folgenden frohen Zentralbotschaft des Christentums besteht, ist bei Biber der finale »glorreiche Rosenkranz« eben auch musikalisch mindestens gleichrangig. Zum Atemanhalten, wenn in der Sonate Nr. 13 der Heilige Geist zunächst wie ein fremdartiger Rhapsode in den Raum tritt. Oder wenn Mariä zugleich überbordende und filigrane Himmelfahrt sich schließlich gleichsam in eine offene Jamsession zu verwandeln scheint. Oder wenn Daniel Sepec in der betörenden Krönung, der fünfzehnten und letzten Sonate, durch langen Ab- und vielfach geteilten Aufstrich einen vollkommen schwebenden Klang entstehen läßt, der wahrlich einer Himmelskönigin würdig ist.
Da sind, schon vor der zugegebenen Passacaglia für Violine solo, die Stunden wie im Flug vergangen und der Hörer in einem so beseelten wie beruhigten »anderen Zustand«. Egal, wie (un)religiös er ist. Eine adäquatere Aufführung als durch die vier so virtuosen wie unprätentiösen Musiker Sepec, Perl, Santana und Behringer kann man sich schwerlich vorstellen. Da verkraftet das mittelalte Elternpaar sogar seinen cineastischen Dornenschmerz, den bestimmt ganz exquisiten Paw Patrol-Film verpasst zu haben. ¶