»Ein Juwel, einen Stern am Firmament,« nennt Veronika Eberle das G-Dur-Violinkonzert von Mozart. Mit elf hat sie es zum ersten Mal unter der Leitung ihres damaligen Lehrers Christoph Poppen, zuletzt im Februar mit dem Münchener Kammerorchester gespielt. »Klar, am Anfang geht es darum, den Notentext kennenzulernen, und als Elfjährige hat man eine andere Sicht als jetzt mit 26, und je mehr man in eine Partitur schaut, desto mehr schaut sie zurück, desto tiefer und bewusster wird das Verständnis der Musik.«
Nach Bachs Cellosuiten und Ysaÿes Solosonaten liegt in der dritten Folge des VAN-Aufnahmenvergleichs zum ersten Mal kein Stück für Soloinstrument auf dem Plattenteller. Als Referenzobjekt wählen wir den ersten Satz, Allegro. Es ist ein Sprung in den Strom, eine Momentaufnahme, eine Einladung. Insgesamt fünf Mal.

Leonidas Kavakos, Camerata Salzburg;
Sony, aufgenommen 2006

Ein unglaublich edler Geiger, oder? Das ist so eine kultivierte, feine Tongebung. Als wenn man in eine Zeit versetzt ist, wo es noch keine Autos und Bahnen gab, sondern mit einer Kutsche durch die Landschaft fährt, sich jedes Detail anschaut und sieht, welche Schönheit hinter jeder Kleinigkeit steckt. Was mir auch gerade aufgefallen ist: so wie er dieses Volksmusikalische von Mozart zeigt, spüre ich ein wenig die Sehnsucht nach seinen Wurzeln. Eine tolle Aufnahme, ein sehr intelligenter Geiger, aber trotzdem nah am Herzen.
Wie gefällt dir das Zusammenspiel mit dem Orchester und der Orchesterklang?
Es gibt keine Distanz zwischen Orchester und Solist, es ist eine Einheit, die aber stark im Dialog ist. Schon am Anfang, wenn die Sologeige einsteigt, hat sie einen Sechzehntellauf zusammen mit den ersten Geigen, und es ist großartig, wie es hier harmoniert und sich zusammenfügt. Oder später, wie der Kontrapunkt der zweiten Geigen herausgearbeitet ist. Ich denke, das hat auch viel damit zu tun, dass Kavakos Play/Direct macht (also gleichzeitig spielt und das Orchester leitet, Anm. der Redaktion), auch der Klang ist sehr von ihm geprägt, man merkt, dass er mit dem Orchester gearbeitet, es in seine Vorstellungswelt hineingezogen hat.
Arthur Grumiaux, London Symphony Orchestra, Sir Colin Davis (Dirigent);
Philips, aufgenommen 1961

Das ist eine Referenzaufnahme für eine ganze Generation, man spürt seine Liebe und Hingabe zu dieser Musik. Die Klassik war seine Epoche, das war die Musik, die ihn inspiriert und begeistert hat. Allein seine Einspielungen der ganzen Mozart- und Beethoven-Sonaten mit Clara Haskil, und wie er sich für diese Musik eingesetzt hat. Ich finde es überwältigend zu hören, wie stark er doch die Tradition eines Mozart-Spiels geprägt hat und wie viele Geiger von dieser Art Mozart zu spielen gelernt haben.
Kannst du diese Art beschreiben?
Es ist sehr geigerisch, ihm war schon damals extrem wichtig, Phrasierungen zu machen, er rundet und gestaltet die Phrasen mit sehr viel Sorgfalt und Hingabe, jeder Ton ist wichtig, bekommt seine eigene Gestalt. Legati sind oft mit Portamenti versehen, sein Geigenton ist sehr rein und hell und klar. Man merkt trotzdem, dass es aus einer anderen Generation ist, aus dem Kontext einer ganz anderen Sichtweise auf die Klassikepoche. Es ist schon sehr lebendig und spritzig, aber das Vibrato und die Tongebung stammen eher aus einer romantischen Spielweise, auch das Zusammenspiel mit dem Orchester ist weniger ein kammermusikalisches Miteinander als vielmehr das Verständnis ›hier der Solist, dort das Orchester‹. Der Dialog entsteht auf einer anderen Ebene. Ich würde selber nicht mehr so spielen, aber diese interpretatorische Tradition ist spannend nachzuverfolgen.
Du hast gesagt, dass Grumiaux für die Mozart-Interpretation einer ganzen Generation stilprägend war, gibt es solche Ikonen für deine Generation eigentlich auch noch?
Bei mir ist es sehr stark abhängig vom Komponisten und der Epoche, ich hatte nie einen Geiger den ich für alles bewundert habe.
Kannst du Beispiele nennen?
Um mal in der Grumiaux-Generation zu bleiben: Das Brahms-Violinkonzert von Ginette Neveu ist für mich zum Beispiel immer ein Juwel gewesen. Alfred Brendel hat mir vor langem einmal die späten Beethoven Streichquartette mit dem Busch-Quartett ans Herz gelegt, ein tolles Musizieren. Szigetis Tongebung ist so lebendig warm und sprechend, da öffnet sich ein ganzes Lehrbuch und natürlich vor allem das Herz. Und wenn man Ivry Gitlis in Paris trifft, wird man in eine Welt gezogen, die seinen Ursprung woanders hat, aber bis ins heutige Zeitalter währt. Es ist immer sehr unterhaltsam und sehr bereichernd mit ihm. Dadurch, dass wir heute soviel Zugriff auf verschiedene Konzerte und Aufnahmen haben, bekommt man sehr unterschiedliche Reize, und es wird immer
schwieriger, trotzdem seinen eigenen Weg zu finden. Der technische Anspruch ist extrem gestiegen, da kann man sich nicht mehr hervortun, das ist kein Markenzeichen mehr. Die musikalische Sicht hebt dich heraus, oder eben auch nicht.
Gidon Kremer, Wiener Philharmoniker, Nikolaus Harnoncourt (Dirigent);
Deutsche Grammophon, aufgenommen 1984

Eindeutig Kremer, oder? Ganz glasklar, man hört die ersten Takte und weiß, dass er es ist. Ich finde es immer spannend, wenn zwei so große Künstlerpersönlichkeiten, die aus anderen Welten kommen, zusammengeworfen werden. Das Spiel von Gidon Kremer hat unglaublich viele Ideen auf engem Raum; es ist ein einzigartiger, ein wenig verrückter Mozart. Und daneben Harnoncourt, sehr nah an der Partitur, allein wenn man hört, dass er punktierte Noten fast legato spielt, also nicht wie heute der common sense kurz, worin ihm einige Musikwissenschaftler ja recht geben, dass es ursprünglich auch so gemeint war. Das bringt eine Weichheit, einen Fluss, hinein, und die Violine übernimmt es. Das ändert sehr den Charakter, wenn man es zum Beispiel mit Grumiaux vergleicht, der eher sportlich daran geht. Das hier ist ein ganz anderes Universum, losgelöst von jeder Tradition.
Hast du Gidon Kremer mal kennengelernt?
Leider nur einmal kurz in Lockenhaus (beim von Gidon Kremer 1981 gegründeten Kammermusikfest, das seit 2011 von Nicolas Altstaedt geleitet wird, Anm. der Redaktion). Ich erlebte ihn als wunderbare Person, wissend, intelligent, belesen. Er hat damals Tschaikowskis Klaviertrio gespielt, da waren Momente, wo es mir kalt über den Rücken lief, weil er solche Welten öffnen kann und dabei immer zu erkennen ist.
Gidon Kremer beschäftigt sich ja auch viel mit der Frage, was es heißt, heute ein/e junge/r Musiker/in im Klassikbetrieb zu sein. Kriegst du davon viel mit?
Ja, und ich finde das, was er jungen Leuten empfiehlt, absolut relevant. Ich glaube das Wichtigste ist, nicht zu vergessen, warum man das Ganze macht. Man darf nicht den Kern verlieren, man macht die Musik nicht, um ein Superstar zu werden. Ich glaube daran, dass Musik die Kraft besitzt, zu verändern, und die darf man nicht verlieren und verschenken.
Wie schwierig ist das heutzutage, den Versuchungen des Klassikbetriebs zu widerstehen?
Die Versuchungen sind natürlich da, aber letztlich liegt es in deiner eigenen Hand, es ist schon möglich, dem zu widerstehen. Ich habe auch mit 16 von Sony einen Plattenvertrag angeboten bekommen und dachte: es passt noch nicht. Es hat mich nicht gereizt. Natürlich ist es auch wichtig, gerade wenn man sehr jung ist, das richtige Umfeld zu haben, die richtigen Berater. Wenn man einmal schwimmt, wenn man einmal verloren hat, worum es geht, ist es schwierig, zurückzukommen.
Gibt es denn mittlerweile ein CD-Projekt bei dir?
Noch habe ich nichts aufgenommen, aber mittlerweile reizt es mich, ich glaube, es wird zum richtigen Zeitpunkt kommen.
Andrew Manze, The English Concert;
Harmonia Mundi, aufgenommen 2005

Jetzt sind wir komplett in der historischen Welt gelandet. Klar, das Cover sagt auch schon alles: historische Instrumente, klassischer Bogen, Darmsaiten. Gerade diese Darmsaiten, unglaublich, welche Farben die hervorbringen können. Teilweise hat man das Gefühl: das ist gar keine Geige mehr, man hört alle möglichen Instrumente und Farben. Flöte, Cembalo, Horn, Zymbal klagen und jauchzen und trauern und singen, wunderschöne zarte, innigste Stimmen. Das ist so bunt und reich. Auch sein Vibrato ist keine Konstante, wie man das aus der Romantik kennt, sondern wie eine Verzierung, eine Farbe, ein Ornament, das konkret eingesetzt wird. Es ist lustig, weil wir eben Grumiaux hatten und wie man oft lernt, Mozart zu spielen. Er macht hier Sachen, die eigentlich No-Gos sind: dieses Nachziehen, dieses extreme Diminuieren, aber gerade das macht es spannend und reich. Auch das Orchester finde ich ganz außergewöhnlich, das ist bestimmt eine Referenzaufnahme aus dieser Ecke der historischen Aufführungspraxis.
Kann man sich heute noch nicht mit historischer Spielweise auseinandersetzen?
Wenn man es nicht tut, hat man Scheuklappen auf, man muss sich damit beschäftigen, egal ob man es nun selbst macht oder nicht.
Wie ist es bei dir?
Für mich ist es extrem wichtig, diese Welt mehr kennenzulernen, nicht nur hörend, sondern auch, indem ich auf Darmsaiten und mit Klassikbogen spiele, und entdecke: ›Oh wow, so kann es klingen‹. Ich glaube die ›moderne‹ Spielweise ist deswegen nicht unberechtigt. Man kann sich dieser Art extrem nähern, die Sachen herausziehen, im Sinne von: ›ich höre hier die unglaublichsten Instrumente und so wenig Geige, ich will das mit meinem modernen Bogen genau so hervorzaubern.‹ Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass nur weil man eine Barockgeige, einen Klassikbogen und Darmsaite benutzt, näher an der Sache dran wäre. Es geht nicht um das Material, auf dem du spielst, sondern was du also Musiker suchst und findest.
Trittst du damit auf?
Ich hatte jetzt im Frühjahr mit Mozarts Sinfonia concertante eine Tour, auf der ich zum ersten Mal öffentlich mit Klassikbogen und Darmsaiten aufgetreten bin. Das war ganz wunderbar, ich habe jetzt angebissen und will mehr ausprobieren. Gerade habe ich das tolle Buch Bach senza Basso von Anner Bylsma gelesen, das ist zum Beispiel so einer, mit dem ich mich auch gerne mal austauschen würde, ich habe auch schon ein wenig meine Fühler ausgestreckt.
Thomas Zehetmair, Orchestra of the Eighteenth Century, Frans Brüggen (Dirigent);
Glossa, aufgenommen 2008

Zehetmair hat diesen obertonreichen, strahlenden Ton, es ist auf jeden Fall eine Aufnahme aus diesem Jahrhundert. Ich finde es toll, dass
er sich nicht von Büchern oder so fesseln lässt, seine Herangehensweise ist manchmal quasi una fantasia. Er hat ein sehr genaues Vorstellungsvermögen, wie er etwas haben will, und setzt es haarscharf, mit einer phänomenalen Technik, um. Er sucht die Extreme, er behandelt Mozart nicht wie ein rohes Ei, weil Mozart eben auch alle Facetten hat, das Dunkle, das Schwarze, das Böse, genau wie das Himmlische. Beim Schluss vom Eingang sucht er stark die Verbindung zur Oper, eine Verbindung, die Mozart selbst wollte, und die, wie ich finde, noch stärker in seinen Klavierkonzerten zu finden ist. Ich habe Zehetmair einmal in München mit dem BR Symphonieorchester und Hartmanns Concerto funèbre gehört, das war großartig. Alles was er macht, funktioniert. Ich spiele öfter mit der Northern Sinfonia in England, wo Zehetmair bis 2014 zwölf Jahre Music Director war. Ich habe dort erst das Tschaikowski-, dann das Beethoven-Konzert gespielt, und jetzt gerade Brahms’ Doppelkonzert. Ein sehr agiles und waches Orchester, sehr intelligente Musiker, ich habe jedes Mal eine wahnsinnige Freude da zu sein. ¶
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