Wer wir sind, erfahren wir am Gegenüber, und nur wenige Personen berühren unsere Persönlichkeit tiefer als gute Lehrer für die Sache, die uns am wichtigsten ist. Eine Serie in VAN sammelt Hommagen an musikalische Mentoren und Lehrerinnen. In der dritten Folge erzählt die Geigerin Veronika Eberle über ihre Lehrerin Ana Chumachenco, bei der sie 11 Jahre, von 2001 bis 2012, an der Münchner Musikhochschule studiert hat.
VAN: Du warst 12, als du zu Ana Chumachenco kamst, und bist dann bis zum Ende Deines Studiums bei ihr geblieben. Weißt du noch, wie es anfing?
Veronika Eberle: Ich war damals noch bei Olga Voitova, einer wunderbaren russischen Geigenlehrerin, am Richard-Strauss-Konservatorium in München. Der Kontrabassist Georg Hörtnagel meinte irgendwann zu mir, es gebe da eine Frau Chumachencho, es wäre vielleicht eine gute Idee, der mal vorzuspielen, aber nicht zu früh, weil man bei ihr sehr selbständig sein müsse. Er hat den Kontakt hergestellt, aber es hat dann ziemlich lange gedauert, bis ich ihr an der Hochschule vorgespielt habe. Ich erinnere mich noch, dass sie dabei gleich angefangen hat, ein bisschen zu unterrichten und auch an meiner Haltung zu arbeiten, um zu schauen, wie die Chemie ist, ob das Mädchen auch etwas annimmt oder nicht.
Und, hat die Chemie gestimmt?
Total, ich habe diese Frau gesehen und gedacht: Von ihr möchte ich lernen. Das war glasklar. Ihre Ausstrahlung fand ich umwerfend.
Woran habt ihr am Anfang gearbeitet? Wo fängt man, wenn man so jung ist?
Natürlich haben wir anfangs viel Technik und Haltung gemacht. Aber es war bei ihr nicht so, dass es einen radikalen Schnitt gab und ich aufhören musste Geige zu spielen, um erstmal für ein halbes Jahr nur leere Saiten zu streichen, wie manche Lehrer das fordern. Sie hat die Übungen und Etüden, die wir gemacht haben, Dont, Paganini, Ševčík, Ruggiero Ricci, diese ganzen Sachen, immer mit Stücken verbunden. Sie hat nie Technik um der Technik Willen unterrichtet, sondern die Musik, das Werk, seine Aussage und Geschichte standen immer im Vordergrund. So ein junges Wesen, wie ich es damals war, nimmt etwas sowieso viel schneller auf, wenn es Spaß dabei hat. Das hat sie bei mir sofort gemerkt.

Was macht ihren Unterricht aus?
Was ihn so unglaublich gut macht, ist, dass Ana nicht einer Schule oder Technik oder Lehrmeinung folgt, sondern einfach sehr experimentell und unkonventionell arbeitet. Die Übungen, die sie einem gibt, hat sie, glaube ich, alle selber erfunden. Sie sieht ein Problem, und überlegt sich dann, wie man es lösen könnte. Irgendwann hat sie mir mal erzählt, dass sie schon mit 12 Jahren angefangen hat zu unterrichten – die Schüler waren teilweise natürlich wesentlich älter als sie. Sie hat einfach verrückte Dinge ausprobiert – wenn es nicht funktioniert hat, hat sie halt was Anderes probiert. Einige ihrer Übungen sind schon echte Klassiker geworden, die kennt mittlerweile jeder, zum Beispiel sich auf den Boden zu legen, und die Geige nach oben haltend zu spielen, um das Gewicht der Schultern und der Arme zu spüren.
Sie hat auch immer selbst solistisch gespielt. Trotzdem hat sie sich immer mehr als Lehrerin verstanden, denn als Solistin, oder?
Ja, das war ihre eigene, ganz klare Entscheidung. Sie hat in dem wunderbaren Münchner Streichtrio gespielt [mit ihrem Ehemann Oscar Lysy, Bratsche, und Walter Nothas, später Wolfgang Mehlhorn, Cello], was sie geliebt und sehr gern gemacht hat. Als sie 1971 Preisträgerin beim Concours Musical Reine Elisabeth wurde, kamen natürlich viele Angebote rein. Sie hätte die Riesenkarriere haben können, aber das war nicht das, was sie wollte für ihr Leben. Eine sehr gesunde Einstellung, sehr ehrlich zu sich selbst: Ich verfolge das, was mir wichtig ist, nicht das, was von außen kommt oder vielleicht mehr Ansehen oder Ruhm bringt. Als ich ihr von dem Lulu-Projekt [von Christoph Marthaler, 2017 an der Hamburger Staatsoper] erzählte, meinte sie, ›das wäre auch etwas gewesen, was mir Spaß gemacht hätte. Aber das ständige ›die-Violinkonzerte-rauf-und-runterspielen‹ ist nicht so mein Ding.‹
Was, meinst du, hat sie am Lehrersein gereizt?
Das kann sie natürlich besser selbst beantworten. Wenn ich aber von mir aus projiziere – ich habe so viel von ihr mitbekommen, ich sehe es als ein Riesengeschenk an, und verstehe auch mehr und mehr, wie schön es ist, so etwas weiterzugeben, wie wertvoll und fruchtbar diese Arbeit mit jungen Menschen ist, wieviel man da bewegen kann. Und sie hatte einfach ein extremes Talent dafür. Man braucht schon auch eine Gabe, eine Lehrerin auf so einem Niveau zu sein.
Beziehungen verlaufen ja immer in Phasen. Welche Krisen habt ihr durchlebt?
Es gibt viele Lehrer-Schüler-Beziehungen, in denen es immer mal wieder kriselt, aber sie hat so ein Riesenherz, umfängt einen mit so viel Liebe und ist so offen gegenüber allen Veränderungen, durch die man hindurchgeht, dass es das bei uns eigentlich nie gab. Es war immer extrem nah, das empfinde ich bis heute so. Man wächst vom Kind zum Teenager und letztlich zu einem eigenständigen Musiker heran, aber sie kann einen gut begleiten und auch loslassen. Vor einigen Jahren haben einige Schülerinnen und Schüler von ihr in Kronberg alle Sechs Solosonaten und Partiten von Bach gespielt. Es war wahnsinnig spannend zu sehen, dass jeder eine komplett andere Herangehensweise und Spielweise hatte. Danach meinte sie zu mir, ›weißt du, mir gefällt alles, so lange es ehrlich ist.‹ Für sie ist es wichtig, zu sehen, dass die Schüler weitergehen, weitersuchen. Sie macht sich dann Sorgen, wenn jemand stagniert.
Hattest du während deiner Zeit bei ihr mal eine Phase, in der du keine Lust mehr hattest zu spielen oder in der du grundlegend gezweifelt hast?
Ich hatte eine große Phase des Zweifelns Anfang 20. Ich habe ja sehr früh angefangen mit dem Spielen in der Öffentlichkeit und dem Konzertieren. Irgendwann fragte ich mich, ob ich mich überhaupt jemals wirklich mit dem ganzen Kopf, mit dem ganzen Sein dafür entschieden hatte, diesen Weg zu gehen? Oder ob ich da so reingeschlittert war. In der Zeit musste ich meinen Verstand hinterherholen. Ich habe in den Jahren viel gezweifelt an der Sache an sich, auch an meinem eigenen Können, habe viel gesucht in anderen Richtungen, bin viel gereist, auch ohne die Geige. Da war sie schon eine große Stütze, weil sie alle Wege, für die ich mich entschieden hätte, komplett akzeptiert hätte. Sie hat mich nie in irgendeine Richtung gedrängt. Das ist eigentlich das Wertvollste, was man in einem Lehrer finden kann.

Hat sie dir jemals so etwas wie Karrieretipps gegeben?
So etwas wie Verbindungen zu Dirigenten oder Orchestern eigentlich gar nicht. Natürlich habe ich sie um Rat gefragt, wenn große Entscheidungen anstanden. Einmal hat sie zu mir gesagt, ›du fragst immer um Rat, und am Ende machst du es doch so, wie du es meinst, und das ist auch gut so.‹ Klar hat ihre Art, ihre Bodenständigkeit, das Nicht-Abgehobene, sondern sehr im Leben Stehende, auch spätere Entscheidungen von mir beeinflusst. Ich kann mich erinnern, dass sie, als ich Simon Rattle mit 15 vorgespielt habe, gesagt hat, ›oh, das ist aber sehr früh, meinst du, das ist gut?‹ Schlussendlich hat sie es dann auch als gut empfunden, weil Simon mich ebenso sehr behutsam und weise beraten hat. Ich glaube schon, dass ihre Kindheit in Südamerika ihre Persönlichkeit stark geprägt hat, diese Wärme und Offenheit, sie lacht viel, hat einen total guten Humor, ist immer positiv. Auch wenn ein Stück noch ganz am Anfang war, kam kein Kommentar wie ›oh Gott, geh mal in deine Zelle und üb‹, sondern eher ›das ist noch etwas grün, aber es wird ganz wunderbar werden.‹
Welche Stücke verbindest du mit ihr?
Das erste Mal habe ich sie solistisch gehört mit Beethovens Violinkonzert mit dem Hochschulorchester, in dem viele ihrer Schüler saßen, Lisa Batiashvili oder Rudens Turku. Ich glaube schon, dass das eines ihrer großen Werke ist. Schubert ist wunderbar mit ihr. Andererseits fand ich es interessant zu sehen, dass sie in den letzten Jahren ein paar Mal in Japan mit Orchestern gespielt hat, und ihre Wahl war Khatschaturjan, Schumann und Mendelssohn, nicht Brahms, Tchaikovsky oder Beethoven.
Es gibt auf Youtube ein paar Ausschnitte aus Meisterkursen mit ihr, aber ich kann mir vorstellen, dass ihre Art zu arbeiten eigentlich gar nicht in so einen Kontext passt, wo die Lehrer-Schüler-Beziehung in der Öffentlichkeit stattfindet. Ich empfinde bei solchen gefilmten Unterrichtsstunden oder Meisterkursen sowieso immer ein großes Unbehagen für die Schülerin oder den Schüler, oft sieht man denen auch an, wie unwohl sie sich fühlen.
Ja, sie mochte es auch nicht so gerne, wenn Leute zuhören. Das hat sie offen gesagt. Die schönsten und intensivsten Unterrichtsstunden, von denen ich am meisten mitgenommen habe, waren immer die, in denen ich mit ihr alleine war, bei denen niemand zugehört hat. Da hat sie sich unglaublich geöffnet, das waren die Sternstunden. Ein einziges Mal hat sie einen Gruppenunterricht gemacht, einmal und nie wieder (lacht). Andere Lehrer haben es oft gern, wenn Besuch da ist, weil es ihnen einen Push gibt. Es gibt jene Lehrer, die einfach ihren Stiefel durchziehen, ohne wirklich auf das Individuum einzugehen, das vor ihnen steht. Ana spürt immer genau, was die eine Sache ist, die einen weiterbringt, die man gerade braucht. Manchmal saß sie einfach nur da, hat nach unten geschaut und zugehört. Wenn sie hochgeschaut hat, wusste sie, was Sache ist. Nur der Klang an sich kann Bände sprechen, kann dir erzählen, was das Problem ist. Sie selbst hat übrigens einen phänomenalen rechten Bogenarm. Ich empfinde es als ein enormes Glück, das von ihr auf meinen Weg mitbekommen zu haben! Rechts liegt die ganze Sprache.
Sie hat einmal den schönen Satz gesagt, dass es bei mehrtägigen Meisterkursen passieren könne, dass man jemanden etwas auseinandernimmt. Aber es käme dann immer darauf an, denjenigen am Ende wieder zusammenzubauen und nicht so ›auseinandergenommen‹ in die Welt zu entlassen.
Ich habe keinen Unterricht erfahren, aus dem ich zerstört oder verunsichert herauskam. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mich trägt und stärkt und mit mir geht. Ich habe sie auch nie im Unterricht ausrasten sehen, auch nicht bei anderen Schülern. Ich bin auch keine Person, der das gutgetan hätte.

Viele ihrer Schülerinnen haben später sehr erfolgreiche Solokarrieren hingelegt – Julia Fischer, Lisa Batiashvili, Arabella Steinbacher, du. Gibt es – bei aller Unterschiedlichkeit – Gemeinsamkeiten zwischen euch?
Vielleicht ist es die Bescheidenheit und Demut gegenüber der Musik und dem was man macht, und der Respekt vor jedem anderen. Das Rheingau-Musik-Festival hat ihr zu Ehren einmal ein Konzert veranstaltet und dafür verschiedene ihrer Schüler angefragt. Wir haben uns in München getroffen, haben dort geprobt, und sind dann zusammen mit dem Zug nach Frankfurt gefahren. Das war so eine ungezwungene und absolut freie Atmosphäre. Sie hat die Gabe, dafür einen Raum zu schaffen. Und der ist natürlich für Entwicklung, für Lernen, für Kreativität, für Musik das Beste, was man haben kann. Das ist letztlich wahrscheinlich das Geheimnis ihres Unterrichts. Welcher Lehrer schafft es schon, dass alle Schüler so dankbar und erfüllt sind? Und sie hat auf der ganzen Welt ein Erbe hinterlassen. Ich habe gerade mit dem Atlanta Symphony Orchestra gespielt, da habe ich auch gleich jemanden kennengelernt, der bei ihr studiert hat. Letztlich hat sie als Lehrerin viel größere Spuren hinterlassen, als es eine Solokarriere vielleicht jemals könnte.
Gab es ein offizielles Ende eurer Lehrer-Schüler-Beziehung, so etwas wie ›die letzte Stunde‹?
Nein, es war so ein fließender Übergang. Man entwickelt sich weiter, ich bin nach Berlin gezogen, man sucht nach anderen Einflüssen, geht weiter, das Studium war vorbei. Es verflüchtigt sich etwas, aber ich habe immer noch viel Kontakt mit ihr. Ich denke viel an sie. Ich liebe es, sie alle paar Monate anzurufen und von mir zu erzählen. Um Weihnachten rum werde ich mich bestimmt bei ihr melden und schauen, wie es ihr geht. Sie meinte einmal zu mir, ›mit den Studenten ist es wie mit den Kindern, sie melden sich wenn sie was brauchen. Wenn sie sich nicht melden, weiß man, dass es ihnen gut geht.‹ ¶
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