Der österreichische Regisseur Michael Haneke hält nichts von Steven Spielbergs Holocaust-Drama Schindlers Liste (1993), weil hier mit unzulässigen Effekten gearbeitet werde: »Sie kennen doch die Szene, wo man für ein paar Sekunden nicht weiß, ob aus den Duschköpfen Wasser oder Gas kommt. Das geht einfach nicht, das ist illegitim, eine Frage des Taktes und des Respekts. Man kann alles sagen, aber nicht auf jede Weise. Und für so ein Thema muss man einen anderen Weg finden, sonst ist man naiv, dumm oder kalkuliert.« 

In Christopher Nolans epischem Biopic Oppenheimer hält J. Robert Oppenheimer eine triumphale Rede vor seinen Mitstreitern beim Manhattan-Projekt in Los Alamos, wo die auf Hiroshima abgeworfene Atombombe entwickelt wurde. Das Bild beginnt zu wackeln, und in den Jubel der Menge mischt sich der Schrei eines Mädchens, man sieht eine Frau, der sich die Haut aus dem Gesicht schält, und unter Oppenheimers Fuß wird eine aschfahle Leiche in den Staub getreten. Die Darstellung ist hier scheinbar abstrakt, denn die eigentlichen Bombenangriffe werden nicht gezeigt, aber Nolans Botschaft ist eindeutig: Die Entwicklung von Atomwaffen war eine schlechte Idee.

Nolan scheint in Oppenheimer davon auszugehen, dass sein Publikum nicht in der Lage ist, eigenständig moralische Urteile zu fällen, wenn der Film es dabei nicht fest an die Hand nimmt, und verkauft damit alle Kinogänger:innen für dumm. Er reduziert die Erfindung der Atombombe auf eine Geschichte von Gut und Böse, ein übergroßer moralischer Kompass hängt omnipräsent über dem Geschehen. 

Auch John Adams’ Oper Doctor Atomic (2005) erzählt die Geschichte des Manhattan-Projekts. Das Werk geht dabei aber ganz anders vor als Oppenheimer: Es verzichtet auf die visuelle Überfrachtung der Kinoversion und erlaubt dem Publikum, durch Abstraktion eigene Schlüsse zu ziehen. 

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Als Parallele zur Gaskammersequenz in Schindlers Liste könnte in Oppenheimer der Countdown für den Trinity-Test gelten. Das mittlere Drittel des Films erzählt die Geschichte von Los Alamos im Tempo und Stil eines Blockbuster-Trailers. Die Nacht der Detonation wird als spektakuläres Finale des zweiten Akts auf etwa acht Minuten komprimiert. Hier findet auch der Soundtrack des schwedischen Filmmusikkomponisten Ludwig Göransson seinen Höhepunkt. Göransson, ein Anhänger der »bigger-is-better«-Schule Hans Zimmers, ist Nolans wichtigster Mitstreiter in Sachen Publikumsführung. Mehrfach ist in der besagten Sequenz ein stark dissonantes, abwärts gerichtetes Quietschen in den Streichern zu hören, das an den Soundtrack am Beginn von Ingmar Bergmans Persona (1966) erinnert. Die wummernde Spannung, die bereits im Fortissimo beginnt und dennoch immer lauter wird, steigert sich unaufhaltsam bis hin zu einem Moment völliger Stille, in dem die Explosion den kompletten Kinosaal auszufüllen scheint. Diese Szene würde sich auch gut in einem Marvel-Franchise machen.

Bei Doctor Atomic dauert die Auseinandersetzung mit dem Trinity-Test demgegenüber mehr als drei Stunden – und damit die gesamte Oper. Die Detonationssequenz selbst wird stark abstrahiert und ihre eigentliche Dauer von fünf auf ganze fünfzehn Minuten gestreckt. Der Gesang verschwindet und die rhythmischen Figuren im Orchester geraten aus den Fugen, werden zu einer Art weißem Rauschen. Adams bezieht sich damit auf John Hersheys Hiroshima-Reportage, deren erstes Kapitel mit »A Noiseless Flash« überschrieben ist. Als die Musik verklingt, bleiben die von Hershey zitierten Worte einer japanischen Frau zurück: Sie bittet um Wasser. Musik gibt es hier nicht, die Verheerung wird nicht ästhetisiert.

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Oppenheimer gleicht der Geschichte eines amerikanischen Prometheus, der das Feuer auf die Erde gebracht hat, Doctor Atomic dagegen zeigt seinen Protagonisten als amerikanischen Faust, der im Tausch gegen Wissen seine Seele veräußert. Adam nähert sich Oppenheimers Seelenleben durch die Vertonungen von Gedichten und Literatur, die der Wissenschaftler schätzte, darunter Werke von Charles Baudelaire und die Holy Sonnets von John Donne. Auf dem Holy Sonnet XIV (das Oppenheimer wahrscheinlich zum Name ›Trinity-Test‹ inspirierte) basiert Oppenheimers zentrale Arie Batter My Heart am Ende des ersten Akts. Jede Strophe wird von wirbelnden Holzbläsern, Blechbläser-Crescendi und Paukenschlägen, die in seinem Kopf hämmern, unterbrochen. Im Gegensatz dazu scheint Nolan nur ein einziges Zitat aus Oppenheimers Bibliothek zu kennen, welches er auf allzu offensichtliche Weise in den Film integriert. Nolan baut die Worte des Hindu-Gottes Vishnu aus der Bhagavad Gita, »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten«, in eine unfreiwillig komische Sexszene ein; Sellars, der Librettist von Doctor Atomic, spart sie aus.

Das Brüten im Orchester, das Batter My Heart wie auch den Rest von Doctor Atomic durchdringt, weiß, was Oppenheimer selbst damals nur ahnen konnte: dass die Atombombe tatsächlich eingesetzt werden würde. Hiroshima wird im Libretto nur ein einziges Mal namentlich erwähnt, und zwar in der ersten Szene als mögliches Angriffsziel während einer Mitarbeiterversammlung – begleitet von einem Akkord in den Streichern, Posaunen und Hörnern, aus dem die böse Vorahnung spricht und der erst am Ende wieder erklingt. Stärker will Adam sein Publikum nicht leiten und zeigt so, dass es möglich ist, diese Geschichte zu erzählen, ohne dass einem in jedem Moment vorgekaut wird, was man denken soll.

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Adams setzt den abstrakten Ton seiner Oper gleich zu Beginn. In der musique concrète-Ouvertüre prallen die Klänge von Industrieanlagen, Flugzeugen und menschlichen Stimmen aufeinander, bis sie im 1946 populären Song The Things We Did Last Summer von Jo Stafford gipfeln: »How could a love that seemed so right go wrong? The things we did last summer I’ll remember all winter long.« Die Musik blickt zurück auf Edgard Varèse, dessen Ionisation offenbar auch von Physikern in Los Alamos gehört wurde und dessen Musik wiederum von der Physik inspiriert ist. Ein Großteil des Librettos von Doctor Atomic ist wissenschaftlichen Berichten entnommen, einschließlich eines ätherischen Chors, der kurz nach der Ouvertüre singt: »We surround the plutonium core…« Adams bettet die Oper so ein in die echte Dokumentation der Arbeit am Manhattan-Projekt. 


Auch der achte Teil von David Lynchs Twin Peaks, The Return (2017), erzählt die Geschichte des Trinity-Tests vom 16. Juli 1945. Man sieht einen Countdown in Echtzeit, gefolgt von einem Blitz, dann erklingt Krzysztof Pendereckis Threnody to the Victims of Hiroshima zu einem aufsteigenden Atompilz und abstrakteren Aufnahmen, die die Ausbreitung der Strahlung nicht nur über New Mexico, sondern über das ganze Universum darstellen sollen. Die Verbindung solch präziser Bilder mit Pendereckis Musik schmälert deren Kraft. Ursprünglich nach seiner ungefähren Laufzeit mit 8’37“ betitelt, erzeugt der dieses Werk mit seinen 52 Streichern, deren Glissandi in unbestimmten Tonhöhen aneinander kratzen, eine Wand aus zutiefst beunruhigendem Klang. Penderecki änderte den Titel erst, nachdem er eine Live-Aufführung des Stücks gehört hatte, und schon diese Entscheidung untergräbt den abstrakten Schrecken der Musik. Lynch wird hier noch sehr viel deutlicher. 

Andere musikalische Werke über die Atombombenabwürfe basieren auf japanischen Quellen, so das 1958 von Alfred Schnittke verfasste Oratorium Nagasaki auf Texte von Eisaku Yoneda, Shimazaki Tōson und dem sowjetischen Dichter Anatoli Sofronow. Die Fünfte Sinfonie des japanischen Komponisten Masao Ohki aus dem Jahr 1953 trägt den Beinamen Hiroshima und ist von den sogenannten »Hiroshima-Tafeln« von Iri und Toshi Maruki inspiriert. Sowohl Schnittke als auch Ohki konzentrieren sich dabei auf die Opfer, Schnittke durch einen schreienden Chor und Ohki durch ein hohes Heulen in den Streichern und Holzbläsern.

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Die Frage, wie mit der Darstellung menschlicher Gräueltaten umzugehen ist, stellt sich nicht nur mit Blick auf die Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki. In ihrer letzten Oper Innocence(2018) erzählt Kaija Saariaho die Geschichte eines Amoklaufs an einer internationalen Schule in Helsinki, genau wie die Filme Elephant (Gus Van Sant, 2003) und 22. Juli (Paul Greengrass, 2018), die immer wieder auch den Schützen mit seiner Waffe zeigen, um Spannung zu erzeugen. Innocence dagegen verwendet neun Sprachen, gesprochenes Wort und finno-ugrische Volksmusik, um Zeit und Ort der Handlung weniger spezifisch zu machen. Unklar bleibt auch, ob die Figuren miteinander oder mit sich selbst sprechen. Saariaho gibt vor, dass die älteren Figuren, die sich an die Gewalttat erinnern, durch Kinderschauspieler verkörpert werden können, der Schütze auf keinen Fall auf der Bühne dargestellt werden soll.

Regisseur Simon Stone scheint diese Anweisung in seiner Inszenierung von Innocence (uraufgeführt 2021 in Aix-en-Provence) ignoriert zu haben, indem er an einer Stelle sowohl den Schützen als auch das Blutvergießen zeigt. In Saariahos Musik ist die Gewalt nur als Erinnerung präsent, aber damit nicht nur prägend für ihre Figuren, sondern für das Bewusstsein ganzer Gemeinschaften und Nationen. Saariaho stellt sich der Verantwortung, die mit der künstlerischen Darstellung des Bösen einhergeht, und versucht, das Publikum in seinen Assoziationen und Urteilen unabhängig bleiben zu lassen. Christopher Nolan könnte sich davon eine Scheibe abschneiden. ¶

… schreibt als Filmkritikerin und Kulturjournalistin für Medien wie Little White Lies, Sight & Sound, The Guardian und BBC Culture.