Ein Nachruf von Reinhard Goebel
Chi dura la vince, wer ausharrt siegt – auf wen könnte dieser Operntitel des Salzburger Komponisten H.I.F. Biber besser passen, als auf den gerade verstorbenen Nikolaus Harnoncourt?
Keineswegs war sein Leben jener nicht enden wollende Triumphzug durch Opernhäuser und Konzertsäle, den die Qualitätspresse in den diversen Nachrufen darzustellen versucht, sondern doch bis in die 1980er Jahre hinein von Schmähung, übler Nachrede, vor allem einer Phalanx von einflussreichen Feinden, zum Beispiel fast der gesamten deutschen Musikwissenschaft und vielen, vor allem süddeutschen Hass-Musikern und Blättern wie Musik und Kirche flankiert.
Keineswegs auch war sein Wirken international so anerkannt, wie man uns einreden möchte: Die Briten hatten immer eine eigene »alte Musik« – Aufklärung vom Kontinent äußerst unerwünscht –, die Franzosen hatten so gut wie keine, bis ihnen William Christie eine eigene präsentierte, die Lateiner in Europa und auch Südamerika hatten und haben Jordi Savall – und die Heimat Österreich erinnerte sich Harnoncourts erst, als um 1980 herum der Jubel aus dem fernen Holland und der nahen Schweiz in die Alpen-Republik kam und nicht mehr zu überhören war.
Geschlagene zwei Jahrzehnte lang musste Harnoncourt erst einmal von vielen Seiten Vieles einstecken, aber er konnte auch austeilen – mal in witzigen Formulierungen wie »wir wissen zwar nicht genau, wie es war, aber sehr genau, wie es nicht wahr«, die jede/n nicht redegewandten oder sprachlich geschickt parierenden (Mit-)Musiker/in – gab es die seinerzeit überhaupt, gibt´s die etwa heute? – von der Bühne verwies, mal auch in harschen Worten mit vornehmlich Es-Ce-Ha-Beginn. Wie es in den Harnoncourt hineingerufen hatte, so schallte es heraus – richtig so!
Mit blankem Entsetzen reagierten die »vrais partisans de la musique ancienne« auf den vermeintlichen Verrat an der Sache, als Harnoncourt sich dem mit modernem Instrumentarium spielendem Concertgebouworkest in Amsterdam, den Ensembles der Frankfurter sowie der Zürcher Oper und später dann dem Chamber Orchestra of Europe zuwandte. Er trat die Flucht nach vorne an, da das eigene Fachgebiet – Musik auf Original-Instrumenten – sich just zu jenem Zeitpunkt mit Schüler/innen und Adepten füllte, die manches doch schon hörbar besser meisterten, als die meisten Musiker der „ersten Generation“. Gar nicht nett und ziemlich ungeschickt zitierte ihn das Magazin der FAZ Ende der 70er Jahre mit dem Dictum »ich hasse Spezialisten« … die »alte Musik« rang nach Luft!

Die seinerzeit extrem liberalen und in Kunstdingen abenteuerlustigen Holländer liebten Harnoncourt und sahen ihn als Gustav Leonhardts Zwillingsbruder; vom Holland-Festival ging es schnurstracks zum Concertgebouw. Radio Bremen promotete beide Künstler, und als der ungeheuer differenziert argumentierende und deshalb enorm einflussreiche Kritiker Wolf-Eberhard von Lewinsky sozusagen als erster deutscher Pressemann auf Harnoncourt aufmerksam geworden war, rollte die grenzenlos positive Lawine los. Fürderhin wagte niemand mehr – außer Musik und Kirche – zu widersprechen. Die Presse hatte ihren Heiligen gefunden; Harnoncourt aber hatte nie darauf gewartet, vom Feuilleton zum arbiter elegantiarum stilisiert zu werden. Über Jahrzehnte trotzte er seinen Kritikern und ging unbeirrt seinen Weg. Viel zu spät fand man Worte für sein Wirken. Und schließlich avancierte jener Harnoncourt, der so vehement gegen Karajan als Kult gekämpft hatte, nun selbst zum Kultobjekt.
Jedem, dem es vergönnt war, ihm auf die eine oder andere Weise zu begegnen, wird ein anderes Bild im Gedächtnis bleiben: Die Opernfreunde erinnern sich der Monteverdi- und Mozart-Zyklen in Zürich, die Musiker/innen der großen Orchester in Berlin, Amsterdam und München eines Dirigenten, der fokussiert jene Stellen eines Werks probt, über die andere pauschal hinwegschlagen, der zu vielem viel zu sagen hatte und die Methoden der aufführungspraktischen Durchleuchtung virtuos beherrschte. Aber es gab auch Wissenschaftler unter den Praktikern, die in alldem den häufig unüberlegt und unbegründet drauflos redenden, im Wesentlichen nur pro domo sprechenden Maestro sahen und lasen.
Unbestritten ist aber, dass nicht »kaum einer«, sondern ganz einfach »keiner« das Musikmachen, ja das gesamtmusikalische Klima seit 1960 in Mitteleuropa so entscheidend beeinflusst und verändert hat wie Nikolaus Harnoncourt. Und allein dafür gebührt im Anerkennung, Dank und Memoria. ¶
Reinhard Goebel war Gründer der Musica Antiqua Köln und arbeitet seit 2006 als freischaffender Dirigent. Seit 2010 unterrichtet er daneben als Professor für Barockvioline am Mozarteum in Salzburg, im Juni 2015 wurde er Nachfolger von Nikolaus Harnoncourt am dortigen Lehrstuhl für historische Aufführungspraxis.