Ob mit Julius Eastmans Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc, Beethovens Missa Solemnis oder Anthony Davis’ X: The Life and Times of Malcolm X – Davóne Tines beim Singen zuzuhören, ist, als würde man dem Extremkletterer Alex Honnold beim ungesicherten Besteigen von El Capitan zusehen: Man ist beeindruckt von der rohen Kraft und Spannung von Tines’ kräftigem Bariton, der Ernst und Schwere der Werke unterstreicht. Vor Kurzem ließ der Sänger Eastmans sich rosenkranzartig wiederholendes Prelude eindrucksvoll von den Wänden der achteckigen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin widerhallen.

Abseits der Bühne ist Tines eher wortkarg. Nach jeder Frage hält er einen Moment inne, bevor er eher philosophische Antworten gibt, häufig ergänzt durch Perspektiven aus der Soziologie (einem Fach, das Tines in Harvard studierte, vor seinem Master an der Juilliard School). Ich treffe ihn in der Nähe der Kaiser-Wilhelm-Kirche, wo er mit der Berliner Singakademie ein Programm probt, das mehrere Eastman-Werke mit drei Sätzen aus Beethovens Missa Solemnis verknüpft. Beim Mittagessen erzählt Tines, dass er von den vergangenen 365 Tagen 300 auf Konzertreisen verbracht hat. 


VAN: 300 Tage, wirklich?

Davóne Tines: Ja, ich glaube, in der letzten Woche war ich in fünf verschiedenen Hotels. Ich arbeite mit an einer Ausstellung für das Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum; sie ist Teil der Home-Triennale. Ich hätte eigentlich schon einen Essay dazu fertig geschrieben haben sollen, aber heute hatte ich eine neue Idee für den Text: Ich beschreibe, wie mein Leben in Hotels so war in der letzten Woche, und wie wichtig bei all dem das Konzept von ›Zuhause‹ ist.

Ich kenne es von vielen Musiker:innen, dass sie Fotos von ihren Zimmertüren machen, um nicht zu vergessen, welche Nummer ihr Raum hat. Machen Sie das auch?

Vielleicht sollte ich damit mal anfangen. Ich bin schon seit fast zehn Jahren so unterwegs, und ich hab mich immer gut zurechtgefunden. Aber in letzter Zeit, in Wochen wie dieser, wenn ich in vier Tagen in drei verschiedenen Hotels bin, dann vergesse ich auch die Zimmernummer. Man kommt sich an der Rezeption wie ein Verrückter vor, wenn man sagt: ›Ich weiß es wirklich nicht.‹ Heute schlafe ich in Zimmer Nummer 605. [Lacht.]

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Im New Yorker haben Sie erklärt, wie Sie an der Juilliard School gelernt haben, ein Konzertprogramm zu basteln – und wie Sie das Format in Frage gestellt haben. Wie entwickeln Sie heute Programme?

In der klassischen Musik scheint es eine Menge fester Strukturen zu geben. Und diese Strukturen wurden nicht hinterfragt oder kritisiert. Ich habe festgestellt: Wenn man eine Frage äußert, denken die Leute oft, dass man etwas komplett abschaffen will – und nicht, dass man dieses Etwas ernsthaft untersuchen will, um zu verstehen, warum und wie es existiert.

Ich habe die Strukturen, mit denen ich konfrontiert war, immer in Frage gestellt. Ich wollte sie verstehen, gar nicht unbedingt für sinnlos erklären oder zerschlagen oder umgestalten. Aber es liegt in der Natur der Sache: Wenn man verstehen will, wie etwas beschaffen ist, dann muss man es auseinandernehmen. Und ich denke, dass die Auseinandersetzung mit bestehenden Strukturen in der klassischen Musik uns dazu einlädt, zu verstehen, was ihr Zweck oder ihr Ziel ist. Wenn man sich also das Recital ansieht, erkennt man, dass diese Struktur als eine Art Destillation aus einem eher sozialen oder offenen musikalischen Ereignis entstanden ist – einem Salonkonzert oder einer Zusammenkunft, bei der jemand dann einige Lieder für die anderen singt. Im Laufe der Zeit wurde daraus diese Struktur, durch die klassische Instrumental- oder Vokalmusik in den ganz großen Institutionen präsentiert wird..

Zu diesem Themenkomplex gehört auch die Art und Weise, wie junge Leute lernen, aber ohne ein wirkliches Verständnis innerhalb der modernen Pädagogik, warum Menschen nach diesen Strukturen unterrichtet werden. Wenn ich eine bestehende Struktur in Frage stelle, möchte ich verstehen, warum sie existiert und wo in dieser Struktur Platz für mich ist. Und was ich immer häufiger festgestellt habe, ist, dass die Strukturen, in denen klassische Musik präsentiert wird, und auch die Kategorien, nach denen ich innerhalb dieser Strukturen unterrichtet wurde, meinen Kontext nicht berücksichtigten und auch kein Repertoire, mit dem ich durch Herkunft und auch Musikalität oder musikwissenschaftliche Forschung besonders verbunden war. Und noch einmal: Es geht nicht darum, die Struktur zu verurteilen. Es geht darum, zu sehen: ›Es scheint, als ob das Konzert in seiner grundlegendsten Form als persönliche Einladung, etwas mit anderen zu teilen, gedacht war, aber es ist über die Jahre etwas verkalkt und bestimmte Teile der menschlichen Identität sind heute außen vor‹, was meiner Meinung nach nicht die ursprüngliche Idee war. Vielleicht macht es aber auch gar keinen Sinn, über die ursprüngliche Idee zu spekulieren.

Vielleicht kann man es auch einfacher ausdrücken: Mein Leben besteht aus einer komplexen Verflechtung von Ästhetiken und Realitäten, so wie bei allen anderen auch, und deshalb muss meine Programmgestaltung das widerspiegeln.

Tines in The Black Clown, einem Werk, das er zusammen mit Michael Schachter nach Gedichten von Langston Hughes entwickelt hat, beim Mostly Mozart Festival • Foto © Richard Termine

Da spielt mit rein, dass Sie nicht nur Gesang, sondern auch Soziologie studiert haben, oder?

Ja, Menschen sind wirklich kompliziert. [Lacht] Da gibt es so viele Nuancen, so viele verschiedene Ausgangspunkte, und wenn wir versuchen, das in Strukturen zu fassen – wie es die Soziologie macht – dann machen wir das, um zu versuchen, die Nuancen eines Individuums besser zu verstehen. Ich meine, heute ist es ganz normal, über Intersektionalität zu sprechen, aber bis zu meinem zweiten Studienjahr in Harvard hatte ich diesen Begriff noch nie gehört, und er war auch nicht besonders verbreitet … Zu erfahren, dass die Identität eines Menschen aus den Überschneidungen all der verschiedenen Kategorien seiner Existenz besteht, erschien mir damals revolutionär, bahnbrechend.

Und ich denke, dass in den letzten fünf, wenn nicht zehn Jahren in der Art und Weise, wie wir uns gesellschaftlich mit Kunst auseinandersetzen, das öffentliche Bewusstsein für diese einzelnen Kategorien und ihre Überschneidungen immer präsenter geworden ist. Ich finde, das ist eine sehr positive Entwicklung und auch ein Grundstein für Programme wie das jetzt mit der Singakademie, bei dem wir sagen: ›Hier ist eine Bastion einer bestimmten Richtung innerhalb der klassischen Musik, und hier ist etwas, das als Gegengewicht oder ähnlich wichtig gesehen wird‹, und dann beides in Verbindung setzen, miteinander kommunizieren lassen. So sollten wir vorgehen, um zu überdenken, wie Ausdrucksformen aus verschiedenen Kontexten ihr jeweiliger Wert zugeschrieben wird und wie diese Werte sich gegenseitig unterstützen können, indem man sie miteinander kommunizieren lässt. Nicht unbedingt, um miteinander zu konkurrieren, sondern um sich gegenseitig auszugleichen. So in etwa kann Gleichberechtigung funktionieren.

Dieses Programm mit der Berliner Singakademie haben ja nicht Sie entwickelt. Aber die Kombination von Kyrie, Credo und Agnus Dei aus Beethovens Missa Solemnis mit Julius Eastman und die Art, wie diese beiden Komponisten miteinander ins Gespräch kommen, könnte auch von Ihnen sein.

Sowohl einen alten deutschen weißen Komponisten als auch einen ›relativ‹ jungen schwarzen Komponisten zu programmieren, sollte eigentlich nicht mehr so ›revolutionär‹ sein. Vor allem sind beide Werke unglaublich, aus beiden Werken spricht … Genialität, wenn wir so weit gehen wollen. Aber das ist es eben. Man könnte es als einen Versuch sehen, die psychologische Gleichheit innerhalb der Kultur zu erhöhen; sie denen näher zu bringen, die diese beiden Menschen niemals auf dieselbe Stufe gestellt hätten. Und das in einem solchen Ausmaß.

Das ist zum Teil auch der Grund, warum ich so aufgeregt bin; es ist wirklich ein Statement. Beethovens Missa Solemnis ist ein so riesiges Werk. In gewisser Hinsicht könnte man fast von absurden Ausmaßen sprechen: die Anzahl der Musiker:innen, die Länge der musikalischen Phrasen … Es ist riesig und es ist wirklich reizvoll. Die Werke von Julius Eastman, die im Wesentlichen Solo-A-cappella-Werke sind, abgesehen von The Holy Presence of Joan d’Arc, bilden dazu ein gutes Gegengewicht. Heraus kommt eine gewagte Aussage. Es ist gewagt, zu suggerieren, dass so Gleichgewicht aussieht.


Im Sommer 2020 kuratierte Tines die Videoperformance Eastman Homage für das Rockport Music Festival in Massachusetts. In dem Video singt Tines Eastmans Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc, mit dem auch das Programm der Singakademie eröffnet wurde, unterlegt mit Zwischentiteln (ebenfalls von Tines), die Hintergrundinformationen zu Eastmans Leben und künstlerischen Ideen liefern.

»Eastman verband seine genialen Kompositionen mit gewagten Titeln, die die Realität von queeren Schwarzen verdeutlichten: Evil Nigger, Crazy Nigger, Nigger Faggot, Gay Guerilla, If You’re So Smart, Why Aren’t You Rich?«, so Tines in den Zwischentiteln. »Die Sprache war so hart, dass sie das Universum des Konzertsaals zerschlug, und so vielleicht eine passende Geste für jemanden, der innerhalb des Konzertsaals ebenso viel Heuchelei wie Möglichkeiten vorfand. Seine starke Integration seiner Identität in sein Werk, insbesondere seine ›radical Blackness‹, wurde als ›zu politisch‹ und letztlich sogar als nicht vertretbar für die Avantgarde empfunden.«

Die Veranstalter des Festivals baten Tines, die Namen der Werke anzupassen, aber Tines lehnte ab mit Hinweis, dass Eastman selbst ausdrücklich eine Bearbeitung untersagt hatte, zog das Video aus dem Festivalprogramm zurück und stellte es stattdessen auf seinen YouTube-Kanal.


Während der Pandemie sind Sie auch mal wegen der Erwähnung einiger anderer Titel von Eastman-Werken mit Konzertveranstaltern aneinandergeraten, oder?

Ich denke, es ist wichtig, dass man im Hinterkopf behält, dass der Begriff der Angst nuanciert ist. Nur weil sich etwas unangenehm anfühlt, bedeutet das nicht, dass es gefährlich ist. Ich präsentiere etwas, das für das Publikum scheinbar außerhalb der eigenen Identität liegt, und keine unmittelbare physische oder persönliche Bedrohung darstellt … Es ist wichtig, dass wir die Auseinandersetzung mit etwas nicht ausschließen, nur weil es uns unangenehm ist. Ungemütlich sein ist nicht dasselbe wie gefährlich sein. 

YouTube Video

Da sind wir wieder bei der alten Frage, ob Kunst politisch sein soll oder ein politikfreier Raum. 

Ich wünschte, die Menschen würden erkennen, dass das ein Trugschluss ist.

Was meinen Sie damit?

Es gibt nichts, was unpolitisch ist. Abgesehen davon, dass es keine unpolitische Kunst gibt, gibt es auch das ›Unpolitische‹ gar nicht, denn in dem Moment, in dem etwas in der breiten Öffentlichkeit existiert und Menschen sich damit gesellschaftlich auseinandersetzen können, hat es das Potenzial, aufrüttelnd oder spaltend zu wirken. Ein Objekt braucht nur in der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, schon können Menschen ihm jede Art von höherer Absicht zuschreiben.

Kunst ist von Natur aus ein Spiegelbild der Welt, in der sie sich befindet … Wenn es in der Kunst um etwas geht, dann um das Leben der Menschen. Das Leben der Menschen ist aufgrund der Tatsache, dass wir in der Welt existieren, politisch. Anders ausgedrückt: Wenn es Kunst gibt, die nur der Unterhaltung dient, dann ist das nicht die Kunst, an der ich je mitgewirkt habe. Ich bin als Sänger in der Black Baptist Church aufgewachsen. Ja, das ist Musik, die als Kunst angesehen wird, aber es ist Musik mit einer bestimmten Funktion. Eine Messe wurde in einem großen religiösen Kontext geschaffen, der seit Tausenden von Jahren als ganz bestimmte Praxis existiert. Beethovens Missa Solemnis ist nicht zur Unterhaltung gedacht. Es ist ein Text für eine Messe. Es handelt sich um ein sehr klares Narrativ, das aus einem sehr klaren Kontext stammt und in einem sehr spezifischen Maßstab vorgetragen wird. Sie hat einen politischen Kontext, weil sie einen religiösen Kontext hat.

Erinnern Sie sich noch an das erste Eastman-Werk, das Sie gemacht haben?

Es war das erste Eastman-Werk, das ich selbst gesungen habe, nämlich Prelude to the Holy Presence, und das war wegen Jonathan Hepfer, dem künstlerischen Leiter der Monday Evening Concert Series in Los Angeles. Er hatte mich über Peter Sellars eingeladen, das Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc zu singen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nie von Julius Eastman gehört. Ich halte Jonathan für ein Genie, weil er im Grunde genommen der erste war, der vor dem ganzen Revival ein Eastman-Porträtkonzert programmierte. Das Konzert, das ich hier in Berlin gebe, würde es nicht geben, wenn Jonathan mich 2017 nicht hätte das Prelude singen lassen. Das war eine riesige Offenbarung für mich, denn ich wusste gar nicht, dass es mal einen Schwarzen, schwulen Minimalisten, Komponisten, Sänger und Pianisten gab, der Werke schuf, die seinen sozialen Kontext direkt hinterfragten…. Mit dem Prelude begann meine Auseinandersetzung mit Eastman.

Tines in Kaija Saariahos Only the Sound Remains, inszeniert von Peter Sellars • Foto: Ruth Walz

Dachten Sie nach dieser ersten Begegnung: ›Ich muss alles über diesen Typen herausfinden‹, oder war es ganz natürlich, dass immer mehr Einladungen kamen, um seine Werke zu singen, weil Sie ihn kannten?

Das hatte etwas von so einem Schneeballsystem. Der andere wichtige Aspekt bei der Wiedererweckung von Eastman ist, dass das Repertoire selbst sich ständig weiterentwickelt hat und transkribiert oder allgemein zugänglich wurde. Es ist nicht so, dass es einen bestehenden Katalog gab, der nur darauf wartet, aufgeführt zu werden. Viele Partituren waren weg oder befanden sich im Besitz von Einzelpersonen. Die musste man erstmal zusammentragen und aufbereiten. Sogar für das erste Stück, das ich gemacht habe, das Prelude, gab es keine Partitur. Es ist im Wesentlichen – wie viele der Stücke von Eastman – eine sehr gut organisierte Improvisation. Es gab keine Partitur, abgesehen von den Versuchen anderer Leute, das Stück in Partiturform darzustellen. Meine erste Aufführung von Eastman war also auch ein musikwissenschaftliches, fast pädagogisches Eintauchen in diese Person, um ein über 13-minütiges Solo-A-capella-Stück ohne Partitur und nur mit der Aufnahme des Komponisten zu realisieren. Ich lernte ihn auf eine sehr tiefe und intime Art und Weise kennen, und zwar aus der Not heraus, nicht einmal aus Neugier, sondern aus dem Bedürfnis heraus, etwas Aufführbares zu schaffen. Ich musste die Konturen seiner Arbeit als Komponist kennen lernen. Das hat dazu geführt, dass ich Teil einer wachsenden Gemeinschaft von Musikern, Wissenschaftlern und Kollegen geworden bin, die dieses Werk weiterentwickeln wollen. Es ist eine Art ewiger Reise und ein immer größerer Kreis von Menschen, die das Werk aufrechterhalten und vorantreiben.

Wie gehen Sie als Sänger vor, wenn Sie für ein Werk keine Partitur haben? 

Ich musste mir das Stück so oft anhören, dass ich es nicht mehr zählen kann, nur um zu versuchen, überhaupt damit zu beginnen, zu verstehen, was es ist und wie ich es darstellen kann. Das hat mich an meine Zeit als Pianist und Geiger erinnert. Ich habe Musiktheorie studiert, um das erstens theoretisch zu erfassen und zweitens so zu transkribieren, dass ich es drittens reproduzierbar aufführen kann.

Ich habe das Stück also rauf und runter gehört und dann angefangen zu verstehen, dass es in einer bestimmten Taktart und einem bestimmten Grundton gehalten ist und wie die Gesamtstruktur aussehen könnte. Und dann war die Flexibilität innerhalb dieser Struktur ein wirklich wichtiger Punkt. Am Anfang habe ich so viele Mikrodetails wie möglich transkribiert, bis hin zu Vierteltönen. Aber dann merkt man, dass er nicht so denkt. Er ist einfach ein Mensch, der ein Lied singt, das eigentlich Mikrovariationen hat. Ich musste also aufhören, das Ganze mit dieser Art von Objektiv zu betrachten, und die Struktur auf einer anderen Ebene sehen.

Ich stelle mir das so vor, wie wenn man Autofahren lernt und am Anfang selbst das Lenkrad genauso hält, wie es im Theorieunterricht im Piktogramm dargestellt war, und man erst später anfängt, sich da ein kleines bisschen zu entspannen …

Ja, wenn Sie Fahranfänger sind, sehen Sie vielleicht jedes herabfallende Blatt als etwas an, das Sie vermeiden sollten oder das Sie im Blick behalten sollten. Und genau das habe ich getan. Später wurde mir klar, dass ich eigentlich nur darauf achten muss, wo die Bäume sind, nicht auf die einzelnen Blätter. Denn die einzelnen Blätter ergeben sich nur zufällig, wenn man sich durch die größere Struktur des Stücks bewegt, nämlich die musikalischen Phrasen in Viertelnoten, in Halbtonschritten, und versucht zu erahnen, was ein Live-Performer da macht. Das heißt, es ist auch kein Zuhören. Ich meine, man kann sich ja auch nicht anhören, wie jemand ›O mio babbino caro‹ singt, und dann eine saubere Transkription davon machen, die so aussieht, wie sie in der Partitur steht, oder? Es ist eine Interpretation von etwas, das mehr in die Tiefe geht.

Ab einem bestimmten Punkt muss man also durch die Interpretation des Stücks hindurchhören, um wirklich an die Basis zu kommen. Ich habe so eine Art Vier-Wochen-Crashkurs gemacht, um zu verstehen, wer diese Person psychologisch und methodisch war, und dann auch auf eine tiefere und emotionale Weise. Ein elementarer Teil der Aufführungspraxis von Eastman ist, dass er organisch oder für die organische Natur des Interpreten schreibt. Das heißt, das Präludium beginnt sehr gleichmäßig, wenn nicht sogar energisch, und am Ende, nach mehr als zehn Minuten, wird es in der Tonlage viel tiefer und langsamer. Es klingt, als ob der Interpret müde geworden ist. Das Stück ist so konzipiert, dass es das tut. Der eigentliche Bogen des Stücks ist so angelegt, dass er die Energie widerspiegelt. Der Interpret muss das Stück durchhalten, und das ist Teil der Genialität. Nicht im Sinne von: hier, bitte sehr, ein langes Stück, ich hoffe, Sie halten durch. Es ist mit dem klaren Ziel geschrieben, das natürliche Werden und Vergehen eines musikalischen Ereignisses oder eines Ereignisses im Leben eines Menschen darzustellen. Und das gilt für das Solopräludium, aber auch für größere Werke wie Gay Guerilla, das fast eine Stunde dauert. Es gibt einfach so viel zu entdecken, wenn man versteht, wie seine Stücke existieren. Sie verhalten sich dialektisch zu dem, wie er die Welt sah und sich mit ihr auseinandersetzte.

YouTube Video

Sowohl mit Ihrer Eastman-Hommage als auch mit dem Video Vigil (An Exercise in Empathy) gehen Sie über die üblichen Konzertmitschnitte auf Youtube hinaus. Bei den Zwischentiteln scheint es, als hätten Sie sich das Medium wirklich zu eigen gemacht und eine Mischung aus Essay und Programmhefttext geschaffen. Wie kam es dazu?

Die Pandemie. Gute Nacht. [Lacht.

Während der Pandemie habe ich von Beginn an immer wieder gesagt, dass der Handy- oder Laptop-Bildschirm jetzt unsere Bühne ist, und wir sollten nicht so tun, als wäre das nicht so. Ich habe sehr schnell sehr allergisch darauf reagiert, einfach nur sich selbst beim Spielen aufzunehmen, weil es eine tatsächliche Praxis und Geschichte der Inszenierung von Musik vor der Kamera gibt, und ich denke, der Großteil der Popkultur hat das auch kapiert. Man kann da also was lernen, anstatt eine ganze künstlerische Tradition zu ignorieren, indem man sagt: Ich trete jetzt auf wie sonst im Konzertsaal, nur eben in meinem Wohnzimmer… Die Sache ist die: Unsere Kunst ist extrem gut durchdacht, sie findet in Kontexten statt, die sehr etabliert und lange gepflegt sind. Wenn ich eine Bühne in einem Konzertsaal betrete, dann ist das in vielerlei Hinsicht ein extrem durchdachter Raum, von der Gestaltung über die Instandhaltung bis hin zu den Ritualen, die darin ablaufen. Das sollten wir nicht ignorieren. Wenn ich das also in einem anderen Medium reproduziere, sollte ich mir genauso viel Gedanken darüber machen, wie ich es da präsentiere.

Vigil ist aus einem Film entstanden, den ich für die Online-Preisverleihung der National Education Association gedreht habe. Dazu habe ich mich selbst mit einem professionellen Filmteam in einem Theater in Washington D.C. gefilmt, mit einer Live-Performance, die ich mit einem sehr intimen Kreis von Menschen teilen wollte. Ich habe das Rohmaterial bekommen und daraus ein Video gemacht. Was Sie also von meinem Gesicht sehen, ist professionell gefilmt. Die Überlegungen, die Dias, die Texte und das Timing… Das bin nur ich am Computer, ich bin einfach bewusst mit den Ressourcen umgegangen. Ich hatte mit Vigil (An Exercise in Empathy) die Absicht, Menschen aufzufordern, körperlich anwesend zu sein, damit sie sich emotional für etwas öffnen können, was sie normalerweise nicht empfangen würden. Und so habe ich alle mir damals zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt – Kamera und Schnitt, aber auch Überlegungen dazu, wie das Publikum psychologisch an das Lied herangeht –, um dieses mediale Werk zu schaffen. ¶


… berichtet über Musik und Kunst für Paper, die Washington Post, NPR, Gramophone und andere. Sie war Teil der Redaktion bei Time Out New York und WQXR/Q2 Music. Auf der Bühne der Brooklyn Academy of Music konnte man ihre Texte auch schon hören – beim Next Wave Festival. Seit 2020 ist sie festes Mitglied der VAN Redaktion. olivia@van-verlag.com