Von Bruckner als einem Komponisten der Brüche zu sprechen, liebe er nicht – das erklärt Christian Thielemann mitten im Gespräch über seine Interpretation des ersten Satzes der Fünften. Und wenn es sie denn gäbe, dann sei es die Aufgabe des Dirigenten, solche Brüche zwar nicht zu glätten, aber sie in einen inneren, logischen Zusammenhang zu bringen. Bruch, durch Logik versöhnt: Wie soll das gehen? Schließt das eine nicht das andere aus? Und was heißt hier (und nicht nur hier) überhaupt »Logik«? Für die Bruckner-Gegner der ersten Stunde bedeutete sie »organische« Entwicklung und allseitige motivische Vermittlung des Materials. Die Habitusform von Bruckners Musik aber ist – bei aller auch ihr eigenen Konstruktivität – eine andere. 

Auf dem Weg zu einem neuen Brucknerbild, das wir uns für das Jubiläumsjahr 2024 doch erhoffen, habe ich vorgeschlagen, statt von Brüchen von Krisen zu sprechen, in die der Komponist sein Material hineintreibt und aus denen nur ein rettender Sprung oder eine von außen herbeigerufene Formel der Versöhnung heraushilft: eine kleine, ländlich-kirchenmusikalische Kadenzwendung oder eine ganze Choralzeile. Dazwischen bleibt ein unaufgelöstes Spannungsfeld, eine nie vollständig überbrückbare Kluft. Prototypisch steht hierfür in der Ersten die Schlussgruppe der Exposition des Kopfsatzes: 

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Aus einer Einspielung der Wiener Symphoniker und Volkmar Andreae, 1953

In großem Maßstab geschieht das dann in der Durchführung des ersten Satzes der Fünften, die das gesamte bisher exponierte Themenmaterial in kühner kontrapunktischer Konstruktion in den Extremzustand einer Fast-Implosion treibt, bis dann der »rettende« Choral von außen hereintönt.

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Aus einer Einspielung der Sächsischen Staatskapelle Dresden mit Eugen Jochum, 1978

Thielemann lässt es bei der Fünften langsam angehen. In der Exposition bringt er die zweite Themengruppe, besonders ihren Mittelteil, schon fast zum Erliegen. Und vollends driften die Schlussgruppe und der Beginn der Durchführung ins Nirwana ab: eine besondere Spezialität des Dirigenten, an dieser Nahtstelle, die Bruckner stets durch einen Doppelstrich markiert, eine Art Meditationszone zu zelebrieren, die den Beginn der »zweiten Hauptabtheilung« (so Bruckners Terminologie) planmäßig verwischt. Die Kontrapunktik der Durchführung gelingt Thielemann dann zwar meisterlich transparent, aber dort, wo die chaotischen Kräfte der freigelassenen Themenfragmente in eine letzte aggressive Phase der Verdichtung eintreten (Takt 315), schaltet er einen Gang zurück: Alles soll doch schön gebändigt bleiben. Charakteristisch dafür ist eine häufige, nur ihm gehörende Dirigiergeste, wenn es gilt, eine Kraftstelle aus repetierenden Gliedern zu realisieren. Er beugt sich dann gerne herunter, als würde er mit dem rechten Arm in einem Eimer Kleister anrühren.

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Ein harmonistisches Brucknerbild ist Thielemanns Leitidee. An die Stelle scharfer thematischer und klarer tektonischer Kontraste setzt er auf eine subtile Kunst der Übergänge, der (gelegentlich selbstverliebten) Feinziselierungen und vor allem der dynamischen Finessen, die vom kaum noch hörbaren dreifachen piano bis zum üppigsten Brucknerklang reichen, an dem sich die Brucknergemeinde doch stets so gern berauschte. Differenzierung weniger in der Faktur als in der Hülle. Ein Lehrstück dafür ist sein erster Satz der Siebten, der gleich das Hauptthema im ppp plus ritardando verdämmern lässt (nichts davon in der Partitur) und der im gewaltigen Gedröhn der Koda endet, für deren E-Orgelpunkt Thielemann den beschäftigungslos dasitzenden Beckenschläger als zweiten Pauker heranzieht. Die bizarren Kontraste dieses so spielerisch mit Form- und Funktionsvertauschungen arbeitenden Satzes werden dagegen geglättet. Wie verblüffend ist doch der Eintritt des eintaktigen, tänzerisch-scherzohaften dritten Themas nach einer harmonisch extrem aufgeladenen monumentalen Steigerung über 20 Takte: Die Berge kreißen – und gebären eine Maus. Bruckner in bester Laune. Nichts davon bei Thielemann. Aber seien wir gerecht: Meisterhaft transparent gelingt ihm der Beginn des Finales mit seiner luftigen, rhythmisch präzise artikulierten Variante des Hauptthemas.

Und seltsam: Im Gespräch mit dem alten Wiener Bruckner-Kämpen Johannes-Leopold Mayer, das jeder Symphonie beigegeben ist, äußert er besonders zu diesem Finale interessante Einsichten. Von einem »Kehraus-Finale« ist da die Rede, von Spiel und Fröhlichkeit. Aber aus dem spritzigen Anfang folgt weiter nichts: am Beginn der Durchführung wieder Stillstand, Zerfall in Episoden, schließlich eine gewaltig zelebrierte Koda, wieder mit dem zweiten Pauker.

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Wie sich behaupten in einem hoch kompetitiven Umfeld, kurz vor dem 200. Geburtstag des Komponisten, zu dem mehrere Großprojekte schon abgeschlossen bzw. auf dem Weg sind: Valery Gergievs Zyklus mit den Münchner Philharmonikern, der von der Aura der Stiftskirche von St. Florian, allen akustischen Tücken zum Trotz, zu profitieren suchte; François-Xavier Roths inzwischen mit der Siebten begonnener Kölner Zyklus mit dem Gürzenich-Orchester; Markus Poschners alle Fassungen einspielendes Projekt mit dem Linzer Bruckner– und dem Wiener RSO-Orchester; schließlich das noch weiter gehende, auch »Zwischenfassungen« einbeziehende monomanische Vorhaben von Gerd Schaller. Letzteres dürfte ein Bärendienst an Bruckner werden, denn Verwirrung auch der gutwilligsten Rezipienten wird das Resultat dieses Ansatzes sein, den Schaller selbstgewiss so formuliert hat: »Es gibt weder gültig noch echt, noch richtig, noch falsch, es gibt nur interessant oder uninteressant oder zu Herzen gehend und nicht zu Herzen gehend.« Roth und Poschner dagegen befinden sich zweifellos auf dem Weg zu einem schlanken, rhetorisch geprägten und klar konturierten Brucknerbild. Doch Thielemann kann und wird das in seinem ästhetischen Kokon nicht berühren.

Markttechnische Berührungen aber gibt es durchaus mit Gergiev, hat der doch erstmals in einer Nobelkassette seine vorab schon veröffentlichten CDs mit den gleichzeitigen Filmaufnahmen aus St. Florian vereinigt. Da konnten die Wiener Philharmoniker nicht nachstehen, und sie überbieten das leicht: Hochprofessionelle Videos aus dem Goldenen Saal des Wiener Musikvereins und aus Salzburg verdeutlichen durch präzise Kameradramaturgie exakt die kompositorische Faktur. Visuell ist man bei jedem wichtigen Einsatz dabei, was der Doppelfuge der Fünften zu ungeahnter Durchschaubarkeit und damit -hörbarkeit verhilft. Und da ist auch Thielemann in seiner allerbesten Form. Geschickt lassen Sony und Unitel nach vier ersten CDs (2, 3, 4, 8) jetzt mit der Ersten, Fünften, Siebten, der ganz frühen f-moll-Symphonie und der »Nullten« überkreuz die Video- (und Bluray-)Serie beginnen. Statt des Bonus eines weitschweifigen, gelegentlich fehlerhaften und alte Klischees bedienenden Bruckner-Films von Rainer E. Moritz (in dem Gergiev zu jeder Symphonie drei meist unerhebliche Sätze sagen darf), spricht im Wiener Zyklus Thielemann direkt und ausführlich zur Sache, ohne jedes Bruckner-Brimborium, von seinem Gesprächspartner geschickt immer wieder auf Problemstellen der Werke gelenkt. Man erfährt viel Gründliches und Bedenkenswertes über seine Arbeit am Werk (so über diffizile Tempo-Fragen oder das schon erwähnte Finale der Siebten), respektgebietend auch da, wo man seine Sicht nicht teilt. 

Aber er ist wie immer auch sehr von sich überzeugt – und schlägt gleich einen neuen »Kanon« der Bruckner-Symphonien vor, den er mit seiner Gesamtaufnahme etablieren will. Irgendeine Innovation, ein Alleinstellungsmerkmal brauchts ja auch hier für den Markt. Die f-moll-Symphonie von 1863, die er, wie er bekennt, gerade erst kennengelernt hat, erscheint ihm in sympathischer Entdeckerfreude als ein wahres »verkanntes Meisterwerk«, mit dem er über die Erste von 1865/66, die 1869 folgende annullierte d-moll-Symphonie, die Zweite und Dritte einen Fünferbogen kontinuierlicher Entwicklung schlagen will, an dessen Ende Bruckner mit der Vierten voll bei sich ankomme. Eine bloße »Studienarbeit« hat Bruckner später seinen ersten symphonischen Versuch von 1863 genannt – sympathisch vor allem das Schumanneske Finale, und die Brucknerforschung hat zu Recht in der Annullierten den Versuch eines anderen symphonischen Weges erkannt, der stärker auf die Integration des kirchenmusikalischen Tons der großen Messen zielte und der zugunsten einer dezidiert säkularen Symphonik wieder aufgegeben wurde. Von aufsteigender Kontinuität keine Spur, stattdessen eine genuin künstlerische Suchbewegung. Und mit seinem Vorschlag, die f-moll-Symphonie künftig »Annullierte Erste« zu nennen, richtet Thielemann fast noch mehr Verwirrung an, als sie Schaller produzieren wird. Aber lassen wir hier das künstlerische Statement neben dem der Musikwissenschaft stehen. 

»Wir haben Glück, wir haben Anton«, hat Thielemann laut Bericht der Wiener Zeitung vom 29. März 2021 in einer Pressekonferenz anlässlich der Präsentation seines Bruckner-Projekts gesagt. Das bezog sich auf seinen Streit in Dresden, wo er bekanntlich zeitweise aus Corona-Gründen nicht arbeiten durfte. Die Wiener waren da etwas flexibler, und so kamen die Einspielungen im leeren Saal nach luxuriösen Probezeiten zustande, in den offiziellen Verlautbarungen für beide Seiten beglückend. Anton dagegen hat nur bedingt Glück gehabt. ¶

… ist als promovierter Musikwissenschaftler vor allem Bruckner- und Berlioz-Spezialist, hat aber auch zur Musik des frühen Mittelalters und zur aktuellen Bildenden Kunst publiziert. Er arbeitete außerdem für verschiedene Stiftungen wie die Studienstiftung des deutschen Volkes, wo er sowohl das wissenschaftliche Programm als auch die Kunst- und Komponistenförderung leitete, und kuratierte Ausstellungen für Häuser wie die Kunsthalle Düsseldorf.

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