Am 22. April dirigierte Kent Nagano »sein« Philharmonisches Staatsorchester Hamburg in der Carnegie Hall mit Beethoven, Brahms und einem neuen Werk des Komponisten Sean Shepherd, On a Clear Day (mit dem Cellisten Jan Vogler und internationalem Jugendchor zu einem Text von Schriftstellerin Ulla Hahn). Ich erreiche ihn über Zoom, trotz Verbindungsproblemen erklärt er gelassen, warum die Elbphilharmonie in Hamburg ihr Geld wert ist und wie man Qualität in der Musik erkennt. 

VAN: Am 22. April haben Sie in der Carnegie Hall die Uraufführung von Sean Shepherds On a Clear Day dirigiert, mit demselben Stück wird in Hamburg diese Woche das Musikfest eröffnet. Nächsten Monat folgt dann Salvatore Sciarrinos Venere e Adone an der Hamburger Staatsoper. Bei Neuer Musik kann es manchmal schwierig sein, das Orchester mit ins Boot zu holen, wenn es um erweiterte Spieltechniken geht, wie zum Beispiel Multiphonics. Haben Sie Strategien, um Orchester dazu zu bringen, zeitgenössische Musik genauso energiegeladen, aufmerksam und detailverliebt zu musizieren wie anderes Repertoire? 

Kent Nagano: Die kurze Antwort lautet: Nein, ich habe da keine bestimmten Strategien. Aber: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Musikerinnen und Musiker wirklich für die Musik brennen und sehr gut darin sind, die Qualität der Musik, die sie spielen, zu erkennen. Es kommt also ganz darauf an, wie zum Beispiel Multiphonics eingesetzt werden. Wenn sie auf sehr raffinierte Weise komponiert sind, so dass sie eine tiefe ästhetische und künstlerische Bedeutung haben – meiner Erfahrung nach gibt es dann kein Orchester, das das nicht versteht und nicht alles daran setzt, diese Schönheit zur Geltung zu bringen.

Wenn ein Stück Multiphonics nicht zielgerichtet oder – was vielleicht noch schlimmer ist – einfach nur als Effekthascherei verwendet, ist es andererseits ziemlich schwierig, ein Ensemble dazu zu bringen, sich Mühe zu geben, diesen Klang zu erzeugen, der sehr technisch und unnatürlich wirken kann. Wie so oft kommt es darauf an, was und wie bei erweiterten Techniken gespielt werden soll und vor allem welche Qualität das im Stück hat. 

Davon abgesehen ist es sehr interessant, dass wir jetzt, 23 Jahre nach Beginn des 21. Jahrhunderts, davon profitieren können, dass das, was sich früher in Bezug auf die Klangerzeugung fremd angefühlt hat, heute völlig akzeptiert ist. Diese Techniken sind Teil unseres Klangraums. Sul tasto oder sul ponticello, ein Instrument zu spielen, indem man durch es hindurch atmet … das ist überhaupt nicht nichts Ungewöhnliches mehr. Früher waren das recht provokante Effekte, aber wirklich viele haben das auf sehr raffinierte Weise eingesetzt, darum sind diese Techniken mittlerweile akzeptiert. Meiner Erfahrung nach hängt das mit der Qualität zusammen. Wenn es eine Strategie gibt, dann die: Mach einfach die bestmögliche Musik.

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Ich habe auch schon erlebt, dass ich bei einem Stück der Meinung war, dass es ziemlich gut ist und die darin enthaltenen Techniken absolut passen, aber die Musiker:innen waren völlig anderer Meinung. Wie definieren Sie Qualität?

Das kommt darauf an. Normalerweise gibt es ja eine Art von Konsens darüber, dass ein Stück ein Meisterwerk ist – unter Interpreten, Kritikern und dem Publikum, die sich über eine längere Zeitspanne darüber einig sind, dass ein Stück von außergewöhnlicher Qualität ist – bis zu dem Punkt, an dem es auch nicht mehr um Mode oder einen bestimmten zeitlichen Kontext geht, sondern an dem das einfach so ist. Es wird universell. So definieren wir ein Meisterwerk.

Auf eine etwas komische Art ist es immer unsere Aufgabe als Interpreten, zu versuchen zu vermitteln, warum ein Werk ein Meisterwerk ist, selbst 200 oder 300 Jahre nach seiner Entstehung. Das Phänomen, das Sie beschreiben, gibt es tatsächlich. Es gibt viele Kollegen, die Meisterwerke einfach nicht zu schätzen wissen. Auf der anderen Seite weiß man, wenn man ein neues Werk zum ersten Mal spielt, nicht, ob es die Beständigkeit und die Tiefe hat, die ein Meisterwerk braucht. Ein intensives Studium kann Gefühle wecken – einen Instinkt, das ist mir schon oft passiert. Nicht nur als Künstler, sondern auch als Zuschauer hatte ich nach einer Aufführung oder dem Studium eines Werkes das Gefühl, dass dieses Stück nicht in der Versenkung verschwinden wird, sondern dass es zu uns sprechen wird, nicht nur in der heutigen Zeit, sondern auch zu zukünftigen Generationen.

Und das versucht man eben zu machen. Wenn Sie aufrichtig sind und es ernst meinen, wenn Sie ein Stück erforscht, die Partitur auswendig gelernt und verstanden haben, warum und inwiefern das Stück das Potenzial hat, universell zu sein, dann, so ist meine Erfahrung, werden Ihre Kollegen Ihrer Aufrichtigkeit und Ihrem Ernst folgen. Nur wenn man sich da nicht ganz sicher ist, wenn das noch zur Debatte steht oder – was noch schlimmer ist – wenn man sehenden Auges ein Stück von zweifelhafter Qualität aufs Programm setzt, dann geht das große Diskutieren los. 

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Wo finden Sie diese Qualität in Sean Shepherds Musik?

Ich kenne die Musik von Sean Shepherd nun schon seit vielen Jahren. Schon seit er ein Kind ist, verfolge ich seine Arbeit. Ich bin wirklich ein Verfechter von Seans Musik, weil man bei ihm wie bei allen großen Komponisten die Tradition der Vergangenheit hört, aber auch die Zukunft. Gleichzeitig hört man dieses Einzigartige, man hört ein Individuum. Das ist wirklich eines der wichtigsten Merkmale eines außergewöhnlichen Komponisten: Wenn man sich der Traditionen bewusst ist, es aber nicht abgeguckt klingt, dann ist es originell.

Sean hat in seiner Komponistenkarriere schon verschiedene Phasen durchlaufen, und die jetzige ist interessant, weil er seit längerem nicht komponiert hat, schon seit einer ganzen Weile. Das kann für kreative Künstler ganz Unterschiedliches bedeuten. Aber wenn andere Komponisten solche Momente hatten – in denen der kreative Output nicht mehr ganz so hoch war wie vorher –, dann sehen wir manchmal, dass auf so ein Zurücknehmen ein plötzlicher kreativer Ausbruch folgt. Genau wie ein Acker ertragreicher wird, wenn man ihn eine Zeit lang brachliegen lässt. Nicht ständig ernten, sondern den Boden fruchtbar werden lassen. 

Was On a Clear Day angeht – Sean hat schon immer eine ziemlich starke Verbindung zu Europa gehabt. Er ist aber auch durch und durch Amerikaner. Deshalb dachte ich, dass es ein interessanter Impuls sein könnte, zu sehen, was er von Ulla Hahns Lyrik hält. Nun gehört Ulla Hahn zu einer ganz anderen Generation als Sean, sie ist eine etablierte Ikone der deutschen Literatur. Für sie ist Sean immer noch ein junger Komponist. Ich dachte, es wäre interessant, die beiden zusammenzubringen mit der durch die Einwanderung in die Staaten bestehenden historischen Verbindung zwischen Hamburg und New York.

Ulla zu bitten, zusammen mit Sean Shepherd, einem jungen amerikanischen Komponisten, einen Text zu schreiben, basierte auf der Idee, diese Themen zusammenzubringen: Hamburg – New York, unsere Erde, unsere Zukunft. Ulla reagierte auf eine Art und Weise, die, so scheint es mir, Seans Fantasie wirklich angeregt hat. Ich nenne das Stück Das Lied von der Erde des  21. Jahrhunderts. Aber statt sechs Sätzen gibt es 12. Und 12 ist eine wichtige Zahl: 12 Töne, 12 Monate. Durch Seans Darstellung dieser verschiedenen Texte gibt es einen tatsächlichen Kontakt mit der Erde, unserer Umwelt. Er erkundet, wie wichtig es ist, beim Voranschreiten die richtigen Schritte zu gehen.

Ein anderes Thema ist Hoffnung. Durch die Pandemie haben wir gesehen, was so etwas Überwältigendes mit der kollektiven Psyche macht. Ich habe ein Gedicht von Friedrich Hölderlin gewählt, das von Brahms vertont wurde, das Schicksalslied. Es handelt von der Hoffnung auf die Zukunft angesichts dessen, was möglich sein könnte. Das ist wirklich eine sehr vereinfachte Beschreibung des Inhalts von Hölderlin, aber in gewisser Weise verbindet es die beiden Themen miteinander. Zeit meint auch Zukunft. Darum haben wir das Werk auch mit Beethovens achter Symphonie kombiniert, die auch auf eine abstrakte Art die verschiedenen Bedeutungen von Zeit und Zeitlichkeit verhandelt.

Vor ungefähr zehn Jahren haben Sie in einem Interview mit der Welt gesagt: ›Die Frage nach den Künsten ist wichtig. Warum tun wir das, obwohl es Arbeitslose gibt, Geld für Schulen fehlt, für Straßenbau und Krankenhäuser? Schwierige Fragen. Es ist sehr, sehr mutig.‹ Haben Sie da mittlerweile eine Antwort darauf gefunden? 

Es ist immer ein bisschen schwierig, etwas so aus dem Zusammenhang zu reißen. Wie Sie wissen, ging es da um die Elbphilharmonie und ihren konfliktreichen Entstehungsprozess. Vielleicht erinnern Sie sich daran aber auch gar nicht mehr.

Natürlich erinnere ich mich.

Das ursprünglich veranschlagte Budget wurde um ein Vielfaches überzogen, was zu Diskussionen geführt hat. Die haben polarisiert, waren sehr emotional. Ich kam nach Hamburg, als das Projekt Elbphilharmonie gerade stillgelegt war; es wurde gar nicht gebaut. Ich habe mich bei meiner Aussage darauf bezogen, dass das Land Hamburg die Entscheidung getroffen hat, die Elbphilharmonie in Gänze zu realisieren und nicht eine Reihe von anderen Projekten. Dass sich das Land Hamburg für die Fertigstellung der Elbphilharmonie entschieden hat, war ein starkes Signal: Sie hat sich entschieden, dieses neue Konzerthaus trotz der Startschwierigkeiten bis zum Ende zu begleiten, weil sie meinen, dass es für die kommende Generation in Hamburg besonders wichtig ist.

Das war ein starkes Bekenntnis zur Kultur und ihrer Bedeutung für künftige Generationen. Das ist nicht selbstverständlich, denn es gibt ja viele, sehr legitime Möglichkeiten, in die Zukunft zu investieren. Aber wir haben gesehen – vor allem, wenn man es aus anthropologischer Sicht betrachtet –, dass nach einer Zeitspanne, einer Ära oder sogar nach dem Verschwinden einer Zivilisation die Überreste ihrer Kultur bleiben. Das ist es, was überlebt, was auch in Zukunft immer weitergehen wird. Deshalb hat das Land Hamburg mit der Elbphilharmonie in die Zukunft der jungen Generationen investiert.

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Sie haben jetzt aus der Rückschau also das Gefühl, dass das die richtige Entscheidung war?

Ja, und damit bin ich nicht allein. Das Gebäude ist zu einem der meistfotografierten Attraktionen der Stadt Hamburg geworden. Es war wegweisend für die Erneuerung eines ganzen Quartiers. Es ist ein enormer Erfolg. Hamburg ist inzwischen nicht nur ein beliebtes Ziel für Touristen, sondern auch für fast alle großen Sinfonieorchester der Welt. Das Bauwerk ist für uns, die wir in Hamburg leben, identitätsstiftend geworden.

In einem Interview mit VAN hat Riccardo Muti vor Kurzem kritisiert, dass Dirigenten heutzutage oft zwei oder drei Orchester gleichzeitig haben. Er argumentierte, dass sie dann nicht wirklich Chefdirigenten sind, sondern eher Gastdirigenten, weil sie nicht komplett für das Haus da sind. Sehen Sie das auch so?

Das hängt von der Person und vom Kontext ab. Wenn man genau hinschaut in der Musikgeschichte, sieht man, dass die Trennung zwischen Oper und symphonischem Repertoire in mancher Hinsicht nicht organisch ist. Das eine ist aus dem anderen entstanden, und beide repräsentieren eine wunderbare, reiche, lange und tiefe Musikgeschichte. Die beiden zu trennen, ist ein bisschen so, als würde man eine Familie trennen.

So wie die heutigen Strukturen sind, haben sich viele Symphonieorchester – ich würde sagen, seit mindestens 160 bis 180 Jahren – auf die symphonische Literatur spezialisiert, während viele Opernhäuser ihren Schwerpunkt auf Oper legen. Ich habe vollstes Verständnis dafür, und ich würde sagen, dass ich Maestro Muti zustimme, aber bei mir persönlich handelt es sich bei den Orchestern, die ich parallel geleitet habe, in der Regel um zwei Institutionen, die sich hauptsächlich auf unterschiedliche Teile der Literatur konzentrieren, so dass es nicht wirklich zu Überschneidungen kommt. Ich habe viele Jahre lang eine Stelle an einem Opernhaus und gleichzeitig bei einem Symphonieorchester gehabt. So lässt sich das gesamte Repertoire organisch verknüpfen. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.