Von »Wiedergutmachung« kann sowieso keine Rede sein. Das Wort wird automatisch zum Euphemismus, wenn man es anwendet auf die im »Tausendjährigen Reich« angerichteten Verheerungen. Zu viele Dichter, Musiker, Maler, Film- und Theaterleute wurden in der nur zwölf Jahre andauernden nationalsozialistisch kontrollierten Regierungszeit mundtot gemacht. Ins Exil oder in den Tod getrieben, die Karrieren gekappt und gebrochen, die Stücke unterdrückt und verboten. Ungezählt die Kunstwerke, die gar nicht mehr entstanden sind. Ganze Genres verschwanden von der Bildfläche. Und, auch das gehört zu der Zeitenwende, die das vorige Jahrhundert in zwei Hälften teilte: Das Denken wurde vergiftet. Nachhaltig.

Auch das Wort »Wiederentdeckung« wirkt im Opernbetrieb immer noch irgendwie fehl am Platz. Wie oft sollte denn ein Werk der darstellenden Künste, das nur leben kann, wenn es aufgeführt wird, wiederentdeckt werden? Was muss passieren, damit es ins Repertoire aufgenommen wird und überlebt? Exemplarisch der Fall der einzigen Oper von Erwin Schulhoff, die 1932 in Brünn zur Uraufführung kam. Flammen wurde damals freundlich begrüßt nur von der Fachpresse und den Kollegen. Dem Publikum schien das avantgardistische Stück mit seinen Jazzeinlagen, der nihilistischen Botschaft und der dem Film abgeschauten Montagetechnik nicht zumutbar. Selbst der Musikverlag des Komponisten, die Universal Edition, zierte sich und winkte ab. Schulhoff war damals 28 Jahre alt.

Geboren in Prag, in eine nichtorthodox-jüdische Kaufmannsfamilie hinein, hatte er seine musikalische Laufbahn als Pianistenwunderkind begonnen. Schulhoff studierte in Leipzig und Köln, bei Max Reger und Fritz Steinbach. Eingezogen als Soldat im Ersten Weltkrieg – in dem aus den Böhmen am Ende Tschechen werden sollten – kämpfte er unter anderem für die habsburgische Monarchie an der Front in der Ukraine, was ihn politisch prägte. Mitte der dreißiger Jahre wandte er sich dem Sozialismus zu, er vertonte unter anderem Das Kommunistische Manifest als Oratorium: ein gewaltiger, neoromantischer Schinken, für vier Solisten und zwei Chöre plus Knabenchor. 1942 starb Schulhoff im Lager Wülzburg an Unterernährung, Typhus, Nierenversagen. Auch Karel Josef Beneš, der Textdichter von Flammen (im Original, auf tschechisch: Plameny) landete in einem Konzentrationslager, aber er hat überlebt. Schulhoffs Freund Max Brod, der die deutsche Übersetzung des laut Brod »nach musikalischer Vertonung geradezu schreienden« Librettos besorgte, verließ Prag 1939 am Vorabend der deutschen Besetzung mit dem letzten Flüchtlingszug.

Erwin Schulhoff

Kurz vor der Jahrtausendwende, 1995, wurde die Oper Flammen erstmals »wiederentdeckt«, von Udo Zimmermann, für das Leipziger Opernhaus. Die zweite Wiederentdeckung besorgte zehn Jahre später in Amsterdam der Dirigent Edo de Waart, konzertant. Am Theater an der Wien folgte 2006 die dritte Wiederentdeckung, inszeniert von Keith Warner, dirigiert von Bertrand de Billy. Und die vierte fand 2008 statt, am Theater in Kaiserslautern. Das war’s. Genug des guten Willens. Zu schwer zu vermitteln. Zu schwierig zu besetzen. Ein wüstes Stück. Und überhaupt: Wo findet man dafür einen Tenor? So oder ähnlich reagierten Dramaturgen und Intendanten, wenn man sie auf Flammen  ansprach.

Dabei wurden die schönen Anstrengungen in Leipzig, Kaiserslautern etc. quittiert mit Staunen über die Wucht dieses Stücks und über den Sog, den es ausübt: Bühnentauglichkeitsprüfung bestanden. Und es gibt, ungewöhnlich für ein komplett durchs Rost gefallenes Opernwerk, sogar zwei recht passable Gesamteinspielungen, bewerkstelligt von den fürs Repertoire so unverzichtbaren Rundfunkorchestern: dem DSO Berlin (Decca, 1995) sowie dem Sinfonieorchester des ORF, als Livemitschnitt aus Wien (Naxos, 2006/2021).

Der alte Hase Calixto Bieito, spezialisiert auf Unaufführbares, hat in Prag, gemeinsam mit dem jungen Dirigenten Jiří Rožeň nun einen fünften Wiederbelebungversuch von Plameny gewagt, in vollständiger Fassung und in tschechischer Sprache. Die Premiere im Sommer geriet zu einem auch international akklamierten Erfolg, die Derniere am 26. November wurde nicht minder bejubelt. Ausverkauft war sie nicht, aber sehr gut besucht, und das Publikum auffallend jung, kritisch, diskussionslustig. Sieben Aufführungen insgesamt stemmte das Ensemble der Prager Staatsoper von Flammen, energiegeladen und brillant auf den Punkt musiziert, bis in die Nebenrollen. Es ersang und erspielte sich damit eine Nominierung zum International Opera Award, wenn auch nicht den Preis: Der ging jetzt am Montag an die Oper Frankfurt und Tatjana Gürbacas Inszenierung der Odysseus-Oper von Luigi Dallapiccola. Gehört Flammen am Ende doch in die Schublade zu all den anderen Wiederbelebungs-Ladenhütern, die sich zum Thema »Entartete Musik« seit der sogenannten Bielefelder Dramaturgie in den achtziger Jahren so angesammelt haben? 

Echtes Divenformat: die Mezzosopranistin Tone Kummervold als »La Morte«, das Ballett des Prager Nationaltheaters • Foto © Serghei Gherciu

Diese Frage ist fies, denn ihr unaussprechlicher Subtext lautet: Was tun, wenn sich herausstellt, dass es sich nicht lohnt, ein Kunstwerk wieder aufzuführen, weil es nichts taugt? Wie bestimmt sich der Wert des verlorenen Stücks? Reicht die politische Begründung aus? Und wie will man die Qualität beurteilen, woher heutzutage die Kriterien nehmen, vor einem ersten oder auch fünften Versuch? Per Boye Hansen, der vor zwei Jahren die Leitung der Opernbühnen in Prag übernahm, hat ein ganzes Programm mit vergessenen Stücken aus den goldenen Prager Jahren rund um diese Fragen herum neu aufgelegt. Er sagt: »Qualität spielt natürlich eine große Rolle. Aber man kann das nicht allein aus Noten wissen. Man muss es machen. Ich bin nur der Intendant. Mir ist es immer das Wichtigste, einen Regisseur zu finden und einen Dirigenten, die das Stück wirklich gemeinsam machen wollen. Da muss ein Feuer sein, eine Freude. Ich muss spüren, dass etwas passiert. Und dann wird man ja hinterher herausfinden, ob es taugt! Meiner Erfahrung nach kann etwas nur ein Erfolg werden, wenn das zusammenpasst.«

Staatsoper Prag

Es sind just die Jahre zwischen 1933 und 1938, als sich in Prag, am vormals Deutschen Theater, der heutigen Staatsoper, jüdische Musiker – Sänger, Dirigenten, Komponisten – aus ganz Europa einfanden. Ein Melting Pot. Alles schien möglich. Zwölftöniges, Impressionistisches, Jazz, Folklore, Wagnernachwehen, Neoklassisches, Revuen und Dramen. Eine faszinierende Fülle an Stücken und Stilen, Experimenten und Energien. Und es seien, sagt Boye Hansen, überraschenderweise vor allem positive, lebensfrohe Werke, die da entstanden: »Keiner konnte wissen, was kommt.« Sich an diese stolze, bewegliche Ära zu erinnern, die für die Tschechen so wichtig war wie für die Deutschen – Boye Hansen unterscheidet sauber zwischen den »Deutsch-Tschechen« und den »Tschechisch-Deutschen« – das sei lohnend und wohl auch nötig, fünfundsiebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwei große Bücherbände hat die Prager Oper kürzlich herausgebracht, in denen die gesamte  Operngeschichte Prags ausgeleuchtet wird. »Musica non grata« heißt das Programm, das, mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes in Berlin, für die Dauer von vier Jahren aufgelegt wurde, um den Spielplan von Staatsoper und Nationaltheater mit insgesamt sieben Wiederaufführungen von Opern und Operetten anzureichern, die auf dem Index der Nationalsozialisten standen. Dazu kommen Konzerte, Symposien, eine Sommerakademie in Theresienstadt. Schulhoffs Flammen ist das risikoreichste Projekt der Reihe. Das sei, sagt Boye Hansen, »auch für die Leute hier eine Überraschung. Es ist hier nie gespielt worden. Sogar die Opern von Janáček laufen nicht so gut in Prag, für die Tschechen ist das schon fast zu modern.« [Die Prager Oper hat die für diesen Beitrag angefallenen Reise- und Hotelkosten übernommen.]

Victoria Khoroshunova (Donna Anna), Denys Pivnickij (Don Juan) • Foto © Serghei Gherciu

Man kann es kaum glauben, dass diese Musik, an der Schulhoff acht Jahre lang feilte, schon neunzig Jahre alt sein soll. Sie ist vom Stoff her hybrid und surreal, formal experimentell und mit anderen Opern ihrer Zeit allenfalls punktuell vergleichbar. Eine große, reißende, rauschend malerische Klangrede entwickelt sich, aus dem Nichts. Sie wird durchbrochen von zehn szenischen Tableaus. Das volle Orchester, in dem die Instrumente sich solistisch aufspalten, wird ergänzt durch zwei Jazz-Combos außerhalb des Grabens, und die in sich satzweise geschlossenen Intermezzi und Zwischenspiele sind so autonom und lang, dass man meinen könnte, man sei Zeuge einer einzigen, großen Endzeit-Symphonie, in die eine Handlung eingelassen ist, die keine ist. Es gibt kein Narrativ, nur zehn einzelne Episoden. Und worum geht’s? Die Flammen, die bei Schulhoff den Titel abgeben, umlodern Don Juan – ein klassischer Opern-Archetypus, der schon vielfach besungen wurde, was in Allusionen und Zitaten auch in die Musik einfließt. Es sind zugleich die Flammen seiner vergeblichen Jagd nach Liebe und die Flammen der Hölle, in der Don am Ende schmort; was freilich bedeutet, dass dieser Don, anders als bei Mozart, nicht sterben kann. Er ist eine Art Kreuzung zwischen Fliegender Holländer und verunglückter Faustfigur, und die Hölle, die ihm zuteil wird, ist das ewige Leben. Folglich endet das Stück, wie es anfängt mit einer »Notturno« genannten Szene, darin einzig ein antiker Frauenchor im Dunkeln von poetischen Vergeblichkeiten munkelt.

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In allen übrigen Szenen steht der Held im Fokus: einmal aufgetreten, immer aufgetreten, begibt er sich auf den Weg ins Nirwana. Es wird dieser unglaublichen Tenorpartie einfach alles abverlangt, lyrisches Melos, geschmeidiges Belcanto, zartes Parlando, volles Rohr, Schreie und Flüstern und Gelächter. Der junge ukrainische Tenor Denys Pivnickij meistert das mit einer Selbstverständlichkeit, dass er sich am Ende feiern lassen darf wie ein Popstar. Aber auch die Frauen, mit denen er zu tun bekommt, haben, soweit sie singen, echtes Divenformat: die Mezzosopranistin Tone Kummervold als »La Morte« ebenso wie Sopranistin Victoria Korosunova als Donna Anna, Jungfrau Maria und Nonne sowie Tamara Morozová als Gretchen. Dazu kommen Figuren der Commedia del’ Arte sowie für die Karnevalsszene der unvermeidliche Bass-Komtur Jan Hnyk. Calixto Bieito hat ihn mit einer Schaufel bewaffnet statt mit einem Degen. Er hat vielleicht auch etliche weitere Requisiten und Figuren zuviel dazu erfunden: den herumschlurfenden, lüsternen alten Mann, alter ego des jungen Don; das Krokodil des Arlecchino-Baritons, den Widderkopf-Pierrot als Stierkämpfer. Aber die meisten dieser absurden Symbolbilder gehen gut auf. Und der in mülltütenschwarzes Plastik eingekleidete Guckkasten, der allmählich von außen durchlöchert wird, spricht eine eigene Sprache der Hoffnungslosigkeit.

Kateřina Jalovcová (Schatten), Veronika Hajnová (Schatten), Stanislava Jirků (Schatten), Victoria Khoroshunova (Donna Anna), Denys Pivnickij (Don Juan), Yukiko Kinjo (Schatten), Tamara Morozová (Schatten), Magdalena Heboussová (Schatten) • Foto © Serghei Gherciu

Tags darauf gab es im großen Haus des Prager Nationaltheaters die stillvergnügte tschechische Volksoper Schwanda, der Dudelsackpfeifer zu besichtigen, komponiert von Jaromír Weinberger. Sie wurde 1933 verboten, der Komponist ging ins Exil, er brachte sich um. Und parallel dazu, in der Staatsoper, die neueste Prager Premiere, die nicht zum »musica non grata«-Programm gehört, vielmehr ganz im Gegenteil ein unumstrittenes Opernmeisterwerk par excellence präsentiert, vielleicht das erfolgreichste überhaupt. Der höchst erfolgreiche Komponist des Rosenkavalier war bekanntlich eine Zeitlang Präsident der Reichsmusikkammer. Großartig gesungen, durchwegs in allen Partien. Was beweist, dass das Prager Ensemble der Flammen an diesem Haus kein Zufall war. Allein der Oktavian von Arnheiður Eiríksdóttir ist eine Stimme und ein Rollenporträt zum Verlieben.

Warum nur, frage ich anderntags den Intendanten, hat er diesem Prager Wiederbelebungsprogramm, dem wir unbedingt wünschen müssen, dass es Nachahmer findet oder wenigstens nochmal um weitere vier Jahre verlängert werden kann, so einen vornehmen Namen verpasst? In »musica non grata« versteckt sich doch, wie übrigens auch bei »musica reanimata« e.V. (dem Namen des seit den Achtzigern in Berlin aktiven musikwissenschaftlichen Vereins zur Erschließung und Rehabilitierung der von den Nazis vertriebenen Musik) schon wieder ein Euphemismus. Als ließe sich dieses Thema nur mit Glacéhandschuhen anfassen, als wolle man sich davon distanzieren. Per Boye Hansen sagt: Er wisse gar nicht, wie es dazu gekommen sei. Irgendwie müsse so ein Projekt ja heißen. Eigentlich sei es ihm egal. Vielleicht ist genau das der richtige Weg heraus aus dem Schlamassel. Kein Name, kein Etikett. Auch keine Versprechungen oder Bekenntnisse. Sondern einfach künftig die unerwünschte Musik neben der erwünschten stellen und sie einstudieren auf bestem Niveau, fürs Abo und für den Spielplan, alle Tage. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.