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Fotos HARALD HOFFMANN

Ingo Metzmacher war Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Gerühmt wird sein Einsatz für die moderne und die zeitgenössische Musik. In Berlin dirigierte Metzmacher zuletzt die gefeierte Hans-Neuenfels-Inszenierung von Ariadne auf Naxos an der Staatsoper. Beim diesjährigen Musikfest Berlin wird er zusammen mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter anderem Arnold Schönbergs groß angelegtes Oratorienfragment Die Jakobsleiter aufführen. Arno Lücker hat Ingo Metzmacher in der Kantine des Berliner Festspielhauses zu einem Gespräch getroffen.

Am 17. September werden sie beim Musikfest Berlin das Deutsche Symphonie-Orchester dirigieren. Unter anderem steht Schönbergs opulentes, allerdings unvollendetes Oratorium Die Jakobsleiter auf dem Programm. Die Besetzung sieht über zweihundert Ausführende vor. Das habe ich zuletzt bei Schönbergs Moses und Aron an der Komischen Oper gesehen. Haben sie Moses und Aron auch schon einmal dirigiert?

Ja. In Hamburg. Ist aber schon länger her.

Die Jakobsleiter und Moses und Aron stellen konkrete religiöse Fragen. Als Jugendlicher habe ich immer gedacht, alle Zwölftonkomponisten seien Atheisten …

Interessante Bemerkung.

Arnold Schönberg: Die Jakobsleiter, »Ob rechts, ob links, vorwärts oder rückwärts«; SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Michael Gielen (Dirigent) Link zum Album

Inwiefern ist denn Die Jakobsleiter ein religiöses Werk?

Es ging Schönberg zweifellos um Religion. Es handelt im Grunde genommen vom Tod, also von etwas, das niemand kennt und von dem keiner erzählen kann oder höchstens Menschen, die ein Nahtoderlebnis hatten. Das Ende des Stücks stellt für mich den Versuch Schönbergs dar, dieses Mysterium zu komponieren. Irre! Das ist für mich auch der faszinierendste Teil des Werks. Die Musik kommt von vorne, wie üblich also, vom Podium, wo das Orchester, der Chor und die Solisten sitzen. Und dann steigt sie langsam an im Raum, indem sie von einem zweiten Orchester, dem sogenannten ›Fern- und Höhenorchester‹, erzeugt, beziehungsweise übernommen wird. Sie bewegt sich also nach oben und verschwindet dort. Das ist ein Wahnsinnsvorgang und einer der Hauptgründe, weshalb ich Die Jakobsleiter schon immer aufführen wollte. Meistens wird das Fern- und Höhen-Orchester aufgenommen und kommt dann per Zuspielung, weil es unglaublich teuer ist, diese 45 Extra-Musiker zu engagieren. Hier in Berlin werden wir das alles live machen! Man kann also sozusagen live erleben, wie der Klang von vorne langsam ansteigt nach oben und dann am Schluss mit einer einsamen Violine verschwindet.

JACOB’S DREAM VON WILLIAM BLAKE (1805, BRITISH MUSEUM, LONDON)
JACOB’S DREAM VON WILLIAM BLAKE (1805, BRITISH MUSEUM, LONDON)

Die Musiker sitzen also im Zuschauerbereich der Philharmonie?

Genau. Wir hatten mehrere Begehungen, wo wir das ausprobiert haben.

Ich selbst finde es immer sehr enttäuschend, wenn in Wagners Rheingold die 18 Ambosse vom Band kommen. Das klappt meistens mit der Synchronisation mit dem Live-Orchester eh nicht so richtig …

Das ist schlecht, das muss man live machen! Wagner würde sich im Grabe umdrehen.

Es gibt ja noch andere monumentale Werke, die aufgrund ihres Aufwandes selten aufgeführt werden können. Haben Sie eigentlich Mahlers Achte schon einmal dirigiert?

Nein, noch nie.

Hätten Sie Lust dazu?

Ja, klar! Für einen Dirigenten ist es absolut großartig, mit solch riesigen Mengen von Leuten zu arbeiten und all diese Klangquellen zusammenzuführen. Einfach tolle Momente sind das.

Sie haben ohnehin einen Sinn für sperrige Werke.

Ja, das stimmt.

Ich hatte ein bisschen Angst vor diesem Interview. Denn ich habe, Stichwort ›sperrige Werke‹, 2007 eine negative Rezension geschrieben über Ihre Aufführung von Hans Pfitzners Oratorium Von deutscher Seele am Tag der deutschen Einheit. Die Ausführenden habe ich nur gelobt, aber dieses Stück von diesem Antisemiten … an diesem Tag! Nun ja. Ich habe meine Laufbahn, glaube ich, dadurch ziemlich versaut, dass ich selber früher ab und zu sehr gemeine Kritiken geschrieben habe. Jetzt habe ich Anfang des Jahres meine erste wirklich schlechtere Kritik bekommen. Ich muss zugeben, ich habe gemerkt, dass das einen durchaus verletzen kann. Können negative Konzert- oder Opernkritiken Sie verletzen?

Mich verletzen Kritiken immer dann, wenn mir etwas unterstellt wird, was ich nie beabsichtigt hatte, also auch rein musikalisch. Das finde ich immer ein bisschen schwierig. Grundsätzlich möchte man natürlich lieber gute als schlechte Kritiken bekommen. Aber man muss sich immer vor Augen halten, dass auch die guten Kritiken manchmal übertrieben sind. Es ist immer so, dass einen Kritiken mehr verletzen, wenn man sich selber nicht sicher ist, wie es war. Wenn man das Gefühl hat, man steht mit jeder Faser hinter dem, was man getan hat, und bekommt eine schlechte Kritik, dann darf man sich schon einmal an Max Reger orientieren, der einem Kritiker geschrieben haben soll: ›Ich habe Ihre Kritik gerade hier auf der Toilette vor mir – gleich werde ich sie hinter mir haben!‹

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Aus dem Februar 2015: Ingo Metzmacher dirigiert Karol Szymanowskis Stabat Mater, Video-Konzertpreview des DSO Berlin

Apropos Max Reger. Ich habe viele Erinnerungen an Ihre Zeit hier in Berlin beim Deutschen Symphonie-Orchester. 2009 haben Sie das DSO, ebenfalls im Rahmen des Musikfests Berlin, in einem Konzert dirigiert, mit Werken von Reger, Xenakis und Eisler. Vor Regers Die Toteninsel aus den Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin haben Sie eines meiner absoluten Lieblingswerke dirigiert, Jonchaies von Iannis Xenakis. Xenakis war damals einer der Schwerpunkt-Komponisten beim Musikfest. Und ich fand, immer, wenn etwas von Xenakis auf dem Programm stand, egal was, auch bekannte große Werke, immer hat Xenakis alles überragt. Warum ist Xenakis so gut?

In dem Konzert mit der Jakobsleiter dirigiere ich ein Werk von 1983 von Xenakis. Shaar für großes Orchester. Ich weiß nicht, Xenakis … das ist eine ganz rohe, unverfälschte, unglaublich kraftvolle Musik. Das hat nichts Künstliches. Das ist wie Natur. Wild, Sturm …

… Erdbeben.

Genau. Xenakis hat eine Urkraft. Aber ich glaube, Schönbergs Jakobsleiter hat eine gute Chance, gegen Xenakis zu bestehen.

Noch eine persönliche Erinnerung von mir an eines Ihrer Dirigate. Zur Jahrtausendwende habe ich im Radio gehört, wie Sie das schöne Stück You must finish your journey alone von Anton Plate uraufgeführt haben. Damals noch in Hamburg. Ich selbst habe dieses Werk am Kontrabass im Orchester später gespielt. Eine bleibende Erinnerung. Würden Sie nicht noch mehr Werke von diesem eigentlich völlig unbekannten, aber tollen Komponisten Anton Plate dirigieren?

Ja, unbedingt! Anton Plate hat mich damals überhaupt erst zum Dirigieren gebracht, weil er mir beim Jugendsinfonieorchester Hannover eine halbe Stunde von seiner Probe gegeben hat. Er hat einfach gesagt: ›Komm, probier mal aus!‹

Können Sie sich noch erinnern, welches Stück das damals war?

Tschaikowskis erste Sinfonie.

Das ist ja furchtbar! Eine weitere Erinnerung: Es war ebenfalls 2009 in der Philharmonie. Sie dirigierten damals das DSO mit Mahlers Dritter. Da klingelte ausgerechnet in dieser zersprengten, sich immer wieder aus dem Schlamm erhebenden Einleitung des ersten Satzes im Parkett ein Mobiltelefon. Ein Kritiker schrieb nachher, dass das Mahler sicher gefallen hätte: In die sinfonische Schilderung des mal Erhabenen, mal Banalen das banalste Geräusch überhaupt. Können Sie sich daran erinnern?

Nein. Aber ich hasse Handys, die im Konzert klingeln. Das ist nicht banal, das ist gedankenlos und dumm. Das Tolle ist ja, dass man als Zuschauer in einem Raum mit den Musikern zusammen ist. Also nicht zuhause, denn da kann man machen, was man will. Und dann im Konzertsaal zusammen mit den Musikern nicht dran zu denken, sein Handy auszustellen – das kann ich überhaupt nicht verstehen.

Mir geht es mit dem Husten im Konzert genauso. Häufig wird das ja feuilletonistisch so weggekichert, ins Anekdotische, ›Typisch Klassik!‹ und so weiter, verschoben – das ärgert mich, da ich Husten im Konzert für ein Verbrechen halte. Wenn ich als Musikvermittler ein Konzert moderiere, möchte ich zeigen, dass es das Tollste ist, wenn alle absolut still sind und nur zuhören. Und die Leute sollten doch wissen, dass es auch so etwas wie ein Fortissimo gibt; und wenn man unbedingt husten muss, dann sollte man das bei Fortissimo-Stellen machen und nicht an dem schönsten, zerbrechlisten Übergang in der Musik.

Wollen Sie meine ehrliche Meinung dazu hören?

Ja, natürlich!

Waren Sie mal bei einem der ›Casual Concerts‹?

Selbstverständlich!

Also in meiner Erfahrung ist das immer ein ganz tolles Publikum. Auch der Applaus klingt anders. Dort wird fast gar nicht gehustet. Weil das, in der Mehrzahl jedenfalls, Leute sind, die das Ritual des Konzerts gar nicht kennen, was bei den ›Casual Concerts‹ auch mit der fehlenden konzerttypischen Kleidung unterlaufen wird. Außerdem gibt es freie Platzwahl. Da habe ich die Erfahrung gemacht, dass dort die wenigsten, wenn überhaupt, während des Konzerts husten. Ich glaube, dass das Husten inzwischen Bestandteil des Konzertrituals ist. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem Menschen gemeinsam husten, außer im Konzert. Ich verstehe es überhaupt nicht: Es hat sich leider so entwickelt, und es ist so wie ein Reflex. Im Konzert hustet man halt. Wenn die Musik aufhört, dann wird gehustet. Es wäre doch ganz toll, wenn zwischen den Sätzen mal Stille wäre. Richtige, echte Stille!

Das würde beispielsweise nach dem ersten Satz von Mahlers Dritter passen, wo er ja fünf Minuten Pause, also im Grunde: Stille vorgeschrieben hat.

Genau. Aber das schafft man nicht.

Ja, aber fünf Minuten husten, das würden die Leute auch nicht schaffen. Leider wird diese fünfminütige Pause nie gemacht.

Man sollte das machen, stimmt. Ich habe schon immer lange gewartet bis zum zweiten Satz, aber fünf Minuten, das ist eine ganz, ganz lange Zeit!

Noch eine Frage zu Mahlers Dritter. Warum wird das ›Bimm Bamm‹ des Knabenchors für meine Ohren immer zu harmlos gesungen?

Vielleicht muss man Kinder von der Straße holen, die das singen.

Oder den Kindern nichts zu Essen geben.

(Lacht) Nein, so meine ich das nicht. Ich meine Kinder, die noch nicht gelernt haben, wie man richtig singt. Das ist ja das, was die Menschen so mögen an der Knabenstimme. Diese Stimme, von der man weiß, die wird irgendwann brechen. Die hat einfach so einen ganz besonderen Charme. Ich habe früher selber im Knabenchor Hannover gesungen. In der Knabenstimme ist die Vergänglichkeit schon mit drin. Und Knaben bekommen beigebracht, wie man richtig singt, und so klingt es dann halt. Ich habe Mahlers Dritte mal in Ungarn gemacht. Auf einer Tournee mit dem Gustav Mahler Jugendorchester und da kam (macht einen ungarischen Akzent nach) der Ungarische Kinderchor des Rundfunks. Da klang es anders.

Brauchen wir eigentlich noch mehr education, noch mehr Vermittlungsprojekte im Bereich der klassischen Musik?

Ich habe viele Erfahrungen gesammelt damit. Vor jedem Konzert mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg habe ich selber eine Einführung gemacht. Eine halbe oder eine Dreiviertelstunde vorher. Manchmal habe ich nur über einen einzigen Akkord in dem jeweiligen Werk geredet und gezeigt: ›Der könnte auch so klingen, oder so!‹ Manchmal reicht es schon, die Aufmerksamkeit auf ganz einfache Weise übers Ohr hervorzulocken, dass das Publikum einfach besser zuhört. Denn wenn man dem Publikum zu viel Informationen gibt, dann denken die im Konzert: ›Oh Gott, jetzt habe ich das zweite Thema im Fagott nicht gehört!‹ Aber darum geht es ja gar nicht! Das führt häufig an der Musik vorbei. Wichtiger ist, dass man die Aufmerksamkeit für den Moment, für das Wunder des Hörens gewinnt.

… und den Leuten die Angst vor dem vermeintlichen Verstehenmüssen nimmt. Die Verstehensangst!

Genau, das ist ja häufig im Zusammenhang mit der Musik so: Ich verstehe davon nichts, also kann ich nicht zu einem Sinfoniekonzert gehen! Das ist Unfug. Dabei rennen alle immer in die Museen und schauen sich moderne Kunst an. Ich würde nicht sagen, dass es unbedingt sinnvoll ist, da so mit einem Audioguide-Kopfhörer durch die Gegend zu rennen, um immer gleich alles erklärt zu bekommen, ohne dass man mal die Chance hat, die Bilder einfach auf sich wirken zu lassen. Stattdessen wird man gleich mit zweifelhaftem Wissen bombardiert. Die unmittelbare Erfahrung, das ist es doch, worum es in jeder Kunstform geht. Und dafür die Bereitschaft zu wecken, darum geht es. Natürlich hilft es immer, nach dieser unmittelbaren Erfahrung mehr Informationen zu bekommen. Beim nächsten oder übernächsten Mal kann man dann das Erlebnis vertiefen. Aber wenn man dieses ursprüngliche Erlebnis nicht hat, dann nimmt man ganz viel weg. Als ich als junger Kerl zum ersten Mal in Straßburg war, wusste ich nicht, dass es das Straßburger Münster gibt, und ich hatte auch keinen Stadtplan. Ich habe also nicht gedacht: Ah, hier ist das Straßburger Münster, also muss ich da lang. Ich bin einfach nur durch die Stadt geradelt und kam um die Ecke und sah dieses Straßburger Münster, das für weit mehr als zwei Jahrhunderte das höchste Gebäude der Menschheit war. Ich werde diesen Moment nie vergessen! Und diesen Moment hätte ich nicht gehabt, wenn ich gewusst hätte, dass dieses Ding da steht. Wir sind ja nicht blöd, wir sind aus Fleisch und Blut und haben fünf Sinne und wir erfahren ja Dinge. Und wenn wir dann mehr wissen wollen, umso besser. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.