Salzburg ist schön wie eine Braut. Weiß, rosig, glücklich. Der Himmel weit und hoch, die Burg prangt, die Glocken läuten. So was färbt ab auf die Seele. Wenn die Pferdeäpfel dampfen, aber auch, wenn es Schnürln regnet und man nicht einmal mehr im Café Habakuk in der Linzergasse einen freien Tisch finden kann, geschweige denn im Bazar, weil alles vollgestopft ist mit sommerfrischlernden Mozartfans aus Japan, China, Italien, Russland oder sonstwoher, selbst dann bleibt man milde gestimmt und gut gelaunt. Zudem findet hier rund um die Hofstallgasse das übliche Klassentreffen statt mit Kritikern, Musikern und anderen Leuten, die ebenfalls zur arbeitenden Bevölkerung der Klassik-Blase zählen. Übers Jahr sind wir nur eine verstreute Minderheit von Einzelkämpfern, ohne nennenswerte Quote, ohne Lobby. In Salzburg dagegen: stark und wichtig. Auch das färbt natürlich ab, auf die Kritiken. Da ist es gut, sich das Ganze mal von oben anzugucken, von höherer Warte.

In diesem Zeitenwendesommer traten die Opernfestspiele überall in Europa so üppig auf wie lange nicht mehr. Es ist ja nicht nur der Sommer der ausgefallenen Züge und Flüge, auch der erste Musiksommer fast ohne Coronarestriktion. Was das bedeutet? Zum Beispiel: Endlich wieder einen Spitzenchor hören, unplugged und live, mit seinen fein changierenden, tief ins Sonnengeflecht greifenden Mischklängen! Für viele von uns ist das in diesem Sommer einfach das Größte gewesen, ein Luxus pur, der alle Übel der Welt vergessen lässt. Göttlich die aufgebrachten Brabanter und Brabanterinnen, im letzten »Rauch-Lohengrin« in Bayreuth. Himmlisch das friedlich vor sich hinwandelnde Bimbam des Ave- Maria-Chors in Puccinis Suor Angelica

Bayreuth präsentiert derzeit fünf Opern in Neuproduktion, plus zwei Wiederaufnahmen von ausgewiesenen Choropern (Lohengrin und Holländer). Aix-en-Provence hat sogar sieben Neuproduktionen gestemmt. Folgt Bregenz mit vier Opern und, erst auf dem vierten Platz, den sie sich mit Innsbruck teilen muss, die Salzburger Festspiele, mit drei neuen Opern. Nicht mitgezählt wurde bei diesem Kassensturz Konzertantes, Gastspiele und Schauspielmusiken. Außerdem ist damit noch gar nichts gesagt darüber, wie es war. Wer viel wagt, kann viel in den Sand setzen. Wer wenig programmiert, ebenfalls.

Dass die Salzburger Festspiele in puncto Oper schwächeln, erklärt sich eigentlich von selbst. Markus Hinterhäuser ist ein intellektueller Künstlerintendant auf der Höhe der Zeit. Er wirkt regelmäßig als Pianist im eigenen Festival mit. Überhaupt: Der Konzertbereich der Salzburger Festspiele blüht, da wachsen, neben den obligatorischen Hochglanzereignissen, laufend neue Ideen und junge Musiker nach. Nach wie vor reagieren die Festspiele auch, stärker als andere anderswo, auf die politische Gegenwart, so, wie es exemplarisch von Gerard Mortier betrieben wurde, der auch Hinterhäuser einst förderte und prägte. Nur ist das nun schon eine Weile her, »Gegenwart« und »Politik« buchstabiert sich inzwischen anders. Auch kommt Hinterhäuser nicht, wie Mortier, aus dem hintertreppenreichen Opernbetrieb, in dem die besten Einfälle oftmals auf diesem speziellen Humus aus Intrige, Zufall und verpasster Gelegenheit sprießen. Er hält sich also, was Stückauswahl und Casting anbelangt, gern an ein solides zeitloses Motto und an die Erfahrungen der eigenen Jugend. Was das Opernprogramm anbelangt, ist Hinterhäuser ein Fortsetzer. Kein Neuerer. 

Sein Motto für 2022 lautet: »Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!« Eine bei Dante entliehene Einladung, die immer und überall passt, denn sie schließt ihr Gegenteil mit ein. Wer an die Hölle glaubt, hofft auch auf den Himmel, zuverlässig führt der Weg durch die Divina Commedia ins Paradies. In Salzburg wird auf dem Domplatz regelmäßig das Hofmannsthalsche Spiel vom Sterben des reichen Mannes gezeigt, in dem sich Gott, Tod und Teufel mit dem Sündenkonto Jedermanns befassen. Als Alleinstellungsmerkmal taugt das Motto trotzdem nicht. Im vorigen Jahr konnte Dantes siebenhundertster Todestag nur halbwegs festlich begangen werden, auch andere Festivals tragen diesbezüglich noch ihre Coronaschulden ab. Pierre Audi brachte im Juli in Aix die zehnte Oper von Pascal Dusapin heraus: Il Viaggio, Dante – inszeniert von Claus Guth, dirigiert von Kent Nagano, mit dem famosen Jean-Sébastien Bou in der Titelrolle. Bei den koproduzierenden Opernhäusern in Paris, Luxemburg und Saarbrücken lässt sich das nachsitzen. Doch mit Salzburg kam Aix offenbar nicht ins Geschäft. Oder Aix nicht mit Salzburg?

Ensemble (Sibyllen) und Kinderstatisterie in De temporum fine comoedia • Foto © SF / Monika Rittershaus

Statt einer Uraufführung, die mal wieder fällig gewesen wäre, hatte Hinterhäuser eine Wiederausgrabung zur Eröffnung programmiert: Ein Weltuntergangsstück von Carl Orff, geborgen aus den Tiefen der Salzburger Festivalgeschichte. Heißt De temporum fine comoedia – im Untertitel: »Spiel vom Ende der Zeiten« und wurde 1973 von Herbert von Karajan in Auftrag gegeben und uraufgeführt, szenisch bebildert von August Everding. Einerseits steht Orffs flächige Musik, die sich aus farbigen Schlagzeug-Orgien und rhythmisch skandierten Sprechchören zusammensetzt, in der Tradition der Mysterienspiele. Zugleich handelt es sich um seinen Schwanengesang. Orff war achtundsiebzig, De temporum ist sein letztes Bühnenwerk. Die pathosgeladenen Texte der Sibyllen und Anachoreten, der Verdammten und Erlösten, stellte er sich selbst aus altgriechischen, lateinischen und deutschen Quellen zusammen. Im dritten Teil, dem Dies Illa, in dem tröstlicherweise selbst Luzifer wieder aufgenommen wird in die Gemeinschaft der Heiligen und Seligen, lässt Orff fast alle seine eigenen Werke noch einmal zitatweise aufblitzen: als wären die sein ganz persönliches Sündenregister. Dies zu wissen, ist rührend und schön. Sich der archaischen Wucht der Rhythmen hinzugeben, ebenfalls. Nur muss man Orff dafür auf Dauer schon sehr lieben. Die Chöre werden linear geführt, die Stimmen mischen sich selten, es ergeben sich immer wieder sogartig minimalistische Repetitionsmuster. Hilft alles nichts, dieser monochrome Weltuntergang dauert nun mal gut sechzig Minuten.

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Zur Belohnung mündet das Stück in die Unendlichkeit. Vier Bratschen spielen einen verzweigten Kanon, der einen Bachchoral mit altertümelnden Machaut-Dissonanzen kreuzt, erleuchtet von Glasharfentönen. Karajan soll dieses paradiesische Schluss-Stück bei der Uraufführung stark gekürzt haben. In der Studioaufnahme, die er damals für die Deutsche Grammophon produzierte, mit den Solisten Christa Ludwig, Peter Schreier und Josef Greindl, dauert es immerhin fünf Minuten. Wie lange Teodor Currentzis jetzt in der Felsenreitschule mit seinen musicAeterna-Chören und dem Mahler Jugendorchester dafür veranschlagt hatte, kann ich nicht sagen. Wir alle waren in dieser Sonntagsnachmittags-Aufführung am Ende etwas sediert, inklusive Ex-Kanzlerin Angela Merkel und Entourage. Aber was man sagen kann, ist: Von der Farbigkeit, Transparenz und Präzision der Karajan-Lesart ist der viel bewunderte und ebenso umstrittene Currentzis weit entfernt. Seine Liebe zu Pomp und Circumstances tut dieser alterskahlen Musik nicht gut. 

Die Sibyllen aus De temporum fine comoedia • Foto © SF / Monika Rittershaus

Als Vorspiel zu Orffs Jüngstem Tag hatte Hinterhäuser den Einakter Herzog Blaubarts Burg kombiniert. Béla Bartóks einzige Oper von 1911 ist heute ein Klassiker der Moderne, zuletzt 2008 von Johan Simons in Salzburg inszeniert, davor von Bob Wilson. Für die Regie beider Stücke hatte Hinterhäuser mit Romeo Castellucci eine weitere sichere Bank engagiert. Bei den Festspiele in Aix hatte Castellucci kurz zuvor, zu den Klängen von Mahlers Auferstehungssymphonie, ein Massengrab mit toten Soldaten ausheben lassen, in Matsch und Dauerregen. In der Felsenreitschule dagegen ließ er den politischen Kommentar zur Jetztzeit außen vor. Tauchte sowohl das krachende Weltende wie auch das symbolistische Seelendrama zwischen Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) in absolute Dunkelheit. Nur punktuell durch Feuerzeichen erleuchtet, bleiben nur wenige typische Castellucci-Bilder im Gedächtnis. 

Ausrine Stundyte als Judith • Foto © SF / Monika Rittershaus

Etwa, wie sich Judith unterwirft und verbiegt, in artistisch eigentlich unmöglichen Posen, um den Unbekannten, der sich hermetisch abschottet, zu erreichen. Man spürt, auch in ihren tief hinabsteigenden Tönen: Liebe tut weh. Oder die Steinigung der Judith-Figur, später, durch die Sibyllen. Oder, wie der Bühnenboden aufbricht und die Toten aus ihren Gräbern auferstehen, nackt und bloß, einer nach dem anderen, bis sie eine von schwarzen Schwingen überwölbte Chorusline formieren. Meist ist es freilich so finster, dass man erst kapiert, was man hätte sehen sollen, wenn man noch viel später die atemraubenden Bilder der Theaterfotografin Monika Rittershaus zu Gesicht bekommt.

Asmik Grigorian (Giorgetta) in Il trittico • Foto © SF / Monika Rittershaus

Sie hat auch die anderen beiden Salzburger Neuproduktionen abfotografiert, auf ihre Art. Für den Mittelteil der Drei-Episoden-Oper Il Trittico von Giacomo Puccini, der Tragödie der Nonne Angelica, portraitierte sie den mickrigen Klostergarten. Er vertrocknet ganz links im Großen Festspielhaus vor sich hin, im Einheitsbühnenbild von Étienne Pluss und Regisseur Christof Loy. Letzteres stellt alles auf einmal dar: Die Kirche, das Sprechzimmer der Äbtissin, das Refektorium. Und auch den Schauplatz des Marienwunders, das sich am Ende ereignet. Angelica nimmt Gift. Wie erschrickt sie, als ihr klar wird, dass sie damit schon wieder eine Sünde beging: »Ah, son dannato!« Sie weiß, sie komme nun direkt in die Hölle, nicht zu ihrem unschuldigen Kind ins Paradies, das man ihr vor sieben Jahren wegnahm, dessentwegen man sie ins Kloster wegsperrte und das inzwischen, wie ihr die herzlose Tante Fürstin soeben mitteilte, gestorben sein soll. Angelica liegt auf den Knien, sie betet und fleht, die Fernchöre der Nonnen verhallen. Da fällt ein Licht durch das einzige hohe Fenster des Raums. Die Chöre kommen wieder, es sind Engelschöre, die Wiener Philharmoniker erbeben, großes Kino in Dur, zarte Harfenklänge, und dann kommt das Kind durch die Tür gelaufen, ein Junge, etwa sieben Jahre alt, den sie, schon umnachtet, zwar nicht mehr sehen kann; und doch umarmt, herzt und küsst. Finis. Ein Vollkitsch. Total irrational. Dank Puccinis Musik wird daraus reales, echtes Glück.

Jonathan Ehrenreich und Asmik Grigorian am Ende von Suor Angelica • Foto © SF / Monika Rittershaus

Aus dem Klostergarten hatte Angelica vorher die Giftblume geerntet. Er ist dramaturgisch wichtig. Pluss hat sich also etwas dabei gedacht, als er die vernachlässigten, in Töpfe eingesperrten Pflanzen dort hinbaute, und das Rittershausfoto zeigt, dass dieses dünne, lange, um Licht und Zuwendung bettelnde Grünzeug natürlich nichts weiter ist als ein Sinnbild der Lebensgier, aber auch des Martyriums der Angelica. Merke: Auch Pflanzen warten manchmal auf Wunder.

Der »Klostergarten« • Foto © SF / Monika Rittershaus

Regisseur Loy stellte in seiner Trittico-Inszenierung diesen Einakter mit den über die Hölle der Unmenschlichkeit triumphierenden Engelschören ans Ende und das von Puccini vorgesehene Schlussstück, die Burleske Gianni Schicchi, an den Anfang, wo eigentlich das dritte Teilstück Il Tabarro platziert sein sollte. 

Man könnte stundenlang darüber streiten, ob das sinnvoll ist: erst die lässliche Sünde der Erbschleicherei, dann die Todsünde Mord, dann der Madonnenfreischein ins Paradies. Am Ende ist das egal. Jedes Stück steht für sich. Sie sind musikalisch vollkommen eigenständig, jedes hat eine andere Farbe. Wichtig ist nur, dass die Inszenierungen so sauber durchdacht sind, dass die Wiener unter Franz Welser-Möst so traumhaft spielen und dass Asmik Grigorian, mit ihrer wandelbaren, charakteristisch-lyrischen Nicht-Puccini-Stimme, alle drei weiblichen Hauptrollen lebendig macht.

Auch Káťa Kabanová von Leoš Janáček ist retrospektivisch. Eine Erinnerung an gute alte Zeiten. 1998 machte das Werk erstmals in Salzburg Furore, da war Hinterhäuser gerade erfolgreich mit seiner Zeitfluss-Reihe. Neu, frisch und gemein wirkten die Spießerbilder mit den gemusterten Tapeten aus dem verranzten Hinterhof, die Christoph Marthaler und Anna Viebrock für diese Frauenoper erfunden hatten. Heute erzählt Barrie Kosky, das alte Theatertier, die Sache ganz ohne Requisiten. Hell ist die Bühne der Felsenreitschule, wie leer gefegt. Sie wird nur durch Licht gegliedert, natürlich auch durch die musikalische Klangrede, die Jakub Hrůša punktgenau aus dem Graben aufblühen lässt, sowie durch bewegliche Pulks von Menschen – Statistenmenschen, Menschenpuppen, alle in Alltagskluft. 

Corinne Winters als Káťa • Foto © SF / Monika Rittershaus

Sie wenden den Leuten im Saal und der Hauptperson Káťa konsequent den Rücken zu. Rittershaus hat diesmal die Totale fotografiert: die Masse Mensch, das ist die wahre Hölle. Allein durch alltägliche Ignoranz teilt sie das angeblich Böse von dem angeblich Guten. »Als ob mirs der Satan einflüsterte…« sagt Káťa alias Corinne Winters, die schmale amerikanische Sopranistin mit der kräftigen Alltagsstimme. Und glaubt es und springt in die Wolga.

Corinne Winters als Káťa • Foto © SF / Monika Rittershaus

Diese Geschichte ist russisch, weil sie von dem russischen Nationaldichter Alexander Ostrowski erfunden wurde, der damit um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Trägheit des Herzens in der zaristischen Gesellschaft anprangerte. Janáček hat sie 1921 ins Tschechische übertragen. Aber die Wolga heißt bei ihm immer noch: Wolga. Als die Tschechoslowakei dann im zweiten Weltkrieg von Hitlers Truppen besetzt wurde, fiel Káťa Kabanová unter Aufführungsverbot – wegen der russischen Vorlage. »Cancel Culture ist der Ausdruck einer vollkommenen Kulturlosigkeit«, sagt Markus Hinterhäuser im Interview mit dem Hamburger Abendblatt. Und weiter: In Zeiten des Krieges helfe gegen das Böse nur Differenzierung: »Wir müssen auch Zwischentöne zulassen.« Er hatte sich schützend vor den Dirigenten Teodor Currentzis gestellt, dem vorgeworfen wird, dass er sich und sein Orchester weiterhin finanzieren lässt von der russischen VTB-Bank. Nun wird er selbst angegriffen. Ein Symposion zu dieser Frage ist noch für diesen Festivalsommer in Planung. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.