Ort des Geschehens: Perm am Ural im Januar 2013, das Opern- und Ballett-Theater P. I. Tschaikowski in der Petropavlovskaya ulitsa 25А. Per pietà, ben mio, perdona. Fiordiligis hornbegleitete Arie im 2. Akt von Mozarts Così fan tutte. Seit Mitternacht war man am Aufnehmen. Jetzt ist es halb drei. Nach langem Hin und Her versucht man eine Aufstellung, in der das Horn vorne dicht zwischen Sopranistin, Dirigent und Konzertmeister sitzt. »Im Übergang zum letzten Allegro moderato ist so eine Spannung aufgetaucht, mir sind die Tränen übers Gesicht gelaufen«, erinnert sich der Hornist Christian Binde. »Ich konnte fast nicht mehr spielen, weil es so berührend war.«

»I think we have everything«, sagt der Tonmeister aus der Aufnahmekabine durch. »We have everything, or you think we have everything?«, fragt der Dirigent zurück. Es wird weitergemacht. Der Stress steigt, auch die Spannungen zwischen Solistin und Dirigent nehmen zu. Irgendjemand sagt, er sei müde. Es gibt einen kurzen Meinungsaustausch, dann bricht der Dirigent ab. »I need another spirit for this, see you tomorrow.« Weg ist er. »Ich war geschockt. Für einen kurzen Moment fragt man sich, ob der wahnsinnig geworden ist? Alle dachten, wir hätten die Arie so gut wie im Kasten.«, erzählt Binde.

Als sie sich am nächsten Tag mittags wieder treffen, ist die Verunsicherung groß, insbesondere bei Simone Kermes, der Sopranistin. Es ist Tabula Rasa. »Und dann war sie plötzlich da, eine Stimmung von Per pietà, die Atmosphäre von Am-Boden-zerstört.« Es dauerte noch anderthalb Stunden, dann waren die Aufnahmen abgeschlossen.

»Und dann war sie plötzlich da, eine Stimmung von Per pietà, die Atmosphäre von Am-Boden-zerstört.« Wolfgang Amadeus Mozart Così fan tutte, 2. Akt: Per pietà, ben mio, perdona; Simone Kermes (Sopran), MusicAeterna, Christian Binde (Horn), Teodor Currentzis (Leitung). Erschienen 2014 bei Sony • Link zur Aufnahme
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Ein Dirigent, der nächtelang aufnimmt, die Musiker dabei an den Rand der Belastbarkeit führt, der von mehr als einer Person für verrückt erklärt wird, der erst die Routine ruiniert, um am Ende die Ergebnisse zu bekommen, die er sich vorstellt. Solche Geschichten sind in der Klassischen Musik in den letzten Jahrzehnten seltener geworden. Noch bemerkenswerter ist, wie davon berichtet wird. Die Stimme von Christian Binde bricht einige Male, als er mir von den Ereignissen am Telefon berichtet, und auch dann noch, als er von den Konzerten mit dem Permer Ensemble spricht, bei denen »so viel an direkter Euphorie zurückkommt wie mit kaum einem anderen Dirigenten«. Er nennt ihn, wie alle anderen, die ihn kennen, nur Teo. Teodor Currentzis.

»Für mich persönlich gehört das zu den herausragenden Höhepunkten meiner musikalischen Karriere«, sagt Binde. Es ist ein Satz, der in vielen meiner Gespräche über den 45-jährigen Currentzis fällt. Musiker, Solistinnen, Komponisten, Dirigentinnen, die seit vielen Jahren im Klassikbetrieb unterwegs sind, die mit den besten freien Ensembles und renommierten Orchestern spielen, Alte Musik ebenso wie Klassische oder Zeitgenössische – dieser Dirigent treibt sie um, zieht sie an, entzündet etwas in ihnen. Manche kaufen sich Karten für seine Konzerte, wenn er in der Umgebung spielt. Sie wollen hören, was er auszudrücken hat, auch wenn sie nicht selbst mitspielen. Was macht dieser Teodor Currentzis mit der Musik, was macht er mit den Musikern?

»Einen Dirigentenstab nehme ich nicht in die Hand – das wäre wie eine geliebte Frau mit Krücken zu umarmen.«

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Ein kalter Berliner Januarabend im Jahr 2016. Bei der »Radialen Nacht« des Radialsystems bespielen jeweils wechselnde Ensembles die verschiedenen Räume und Ebenen des ehemaligen Abwasserpumpwerks. Dieses Mal ist Currentzis mit seiner MusicAeterna aus Perm angereist. In der ehemaligen Maschinenhalle singt der Chor zunächst Arvo Pärts Psalom, es folgt das Orchester mit Bibers musikalischem Schlachtengemälde Battalia. Am Schluss dann Beethovens Fünfte Sinfonie. Jeder Akzent wird betont, jedes Detail überdreht. Die Sinfonie überhitzt in einer endlosen Aneinanderreihung von Effekten. Die Musik atmet nicht, sie hechelt. Currentzis verzichtet auf ein Podium, er stampft, tanzt, verlässt seinen Platz, läuft ins stehende Orchester, sein kongenialer Konzertmeister Afanasy Chupin tanzt wie ein Derwisch. Der Großteil des Publikums ist außer sich vor Ekstase. Nachher steht man draußen an der Spree zusammen. Einige Wenige sind ehrlich verärgert, bezeichnen das Gesehene als alberne Pose und Manieriertheit, die meisten sind hin und weg vom Rausch der Tour de Force. Niemanden hat es kalt gelassen. »Hate it or love it.« Noch ein Satz, der in kaum einem Gespräch über Teodor Currentzis fehlt.

»Was beim Teo funktioniert, ist, dass er den Metagehalt von Musik, die assoziative Ebene … dass er die so direkt ansprechen kann, dass es nicht darauf ankommt, Töne nach historischem Recht und Gesetz zu spielen«, sagt Christian Binde. »Bei Opern folgt er sklavisch der Psychologie der Figuren, dann wird es mitunter egal, ob das Leopold Mozarts Violinschule widerspricht.« Vor einem Konzert mit Bach-Motetten räuchert Currentzis sein Dirigentenzimmer mit Weihrauch ein. Als er in Perm Don Giovanni aufnimmt, kleidet er sich abgestimmt auf die jeweiligen Szenen: mal Bauernkostüm und Pluderhemd, mal goldbesticktes Gewand und für die großen Finali Anzug und Schlips. Er hat es auf ein emotionales Reenactment abgesehen. Er will der Musik ihre Unmittelbarkeit zurückgeben, wo es der historischen Aufführungspraxis oft erst einmal um eine Rekonstruktion des historisch korrekten Spiels ging. »Currentzis geht zwei Schritte weiter«, sagt Matthew Sadler, Trompeter des Mahler Chamber Orchestra, der häufig in Perm bei Currentzis’ MusicAeterna aushilft. »Es geht ihm darum, die Atmosphäre der Zeit darzustellen, den Zeitgeist, so wie auf der Aufnahme von Rameaus Orage aus Platée: Das Gewitter ist wirklich ein Gewitter.« »Stell den Mozart heute auf die Bühne, in der Weltsicht deiner Seele«, umschreibt es die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, deren künstlerische Seele mit der von Currentzis eng verbandelt ist.

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»Das Gewitter ist wirklich ein Gewitter.« Jean-Philippe Rameau Platée, Akt 1, Szene 6: Orage; MusicAeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Erschienen 2014 bei Sony • Link zur Aufnahme

»Wenn Sie einen verstorbenen Komponisten zum Abendessen einladen könnten – wer wäre das?« »Schubert! Wir würden über verlorene Liebe reden. Und dann würden wir uns betrinken und vierhändig spielen. Trinken und spielen.«

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Es gibt Musik, die in Konvention und Tradition erstickt, über deren Kern der Schleier der Interpretationsgeschichte wie ein schweres Grabtuch liegt. Diese Musik braucht jemanden wie Currentzis dringend. Als er ein Jahr vor dem Konzert im Radialsystem im Berliner Funkhaus Nalepastraße mit MusicAeterna Tschaikowskis Sechste Sinfonie aufnimmt, zieht er alles verkleisternd Triefende heraus und gibt ihr eine schmerzende Dringlichkeit zurück.

Dann gibt es Musik, die überhaupt erst frei werden und sich von der Partitur lösen muss. So wie Berios Volkslied-Phantasie Coro in der Kölner Philharmonie im April 2017, wo Currentzis das von Mitgliedern seines Chors durchsetzte Mahler Chamber Orchestra dirigiert, zu dessen künstlerischen Partnern er neben Daniele Gatti, Isabelle Faust und Mitsuko Uchida zählt. Er löst Statements und Gesten in einen zeitlosen Fluss auf, der sich langsam von der linearen Zeitwahrnehmung erhebt.

Und dann gibt es Mozart. Wie er in den ersten sieben Takten von Mozarts Requiem Fagotte und Bassetthörner in einen zarten Dialog voller Schmerz und Trost führt, wo hat man so etwas schon einmal gehört?

Wolfgang Amadeus Mozart Requiem I. Introitus; The New Siberian Singers, MusicAeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Erschienen 2010 bei Alpha • Link zur Aufnahme

Die Aufnahme von Mozarts Da Ponte-Opern katapultierte ihn in den letzten Jahren ins Rampenlicht der westlichen Klassik-Hemisphäre, wo sie, natürlich, polarisierten: »Wenn er Mozart aufnimmt, dann nimmt es einem den Atem«, sagt Kopatchinskaja. »Auch wenn ich ihn sonst bewundere: Seinen Mozart werde ich ihm nie verzeihen«, meint ein Dirigentenkollege. Aus dem Drang, es allen zeigen zu wollen, kann auch ein Zwang werden, aus dem permanenten Wunsch nach Unmittelbarkeit Kitsch. »In den Ensembles und Chören führt die Raserei dazu, dass die Musik ums Leben kommt: Man hört nur noch zackig rumsende Akzente auf betonten Taktteilen, statt sinnerfüllter Klangrede nur atemloses Maschinengeratter«, schreibt Jan Brachmann in der FAZ und ärgert sich besonders über Currentzis’ in den Booklets vorgetragene Hybris, er sei der radikalste und schonungsloseste Mozart-Interpret aller Zeiten. »So faselt ein Schwadroneur, der mit ahnungslosen Hörern rechnet! Die Geschichte der Mozart-Interpretation blieb nicht in den sechziger Jahren stehen. All das Erschreckende, Verstörende, alle Gipfel der Lust und Schlünde der Verzweiflung haben wir durch Nikolaus Harnoncourt oder René Jacobs bereits entdecken können, dank gewissenhafterer Quellenarbeit, als Currentzis sie je geleistet hat.« Da ist etwas dran, andererseits wirkt so eine Großmäuligkeit in der Klassikkultur ziemlich erfrischend. Und kaum jemand kann derzeit in der Musik im Augenblick ihrer Entstehung ein so großes Resonanzfeld zwischen Musik, Musikern und dem Hörer öffnen wie Currentzis.

»Es gibt einige Utopien, für die in Moskau kein Platz ist. Hier beruht alles auf Geld, vor allem Dinge wie Musik oder Liebe. Musik ist hier zu kommerzialisiert. In Moskau zwingt das ganze Drumherum einen Musiker, nur darüber nachzudenken, wie viel er im Monat verdient und welches Auto er fährt.«

In Snob, Russland

Musik entsteht auf viele Arten, aber immer in Zeit und Raum. Dadurch kommen Variablen ins Spiel: die Haltung der Ausübenden, die Arbeitsbedingungen, der Ort. In der Begriffswelt von Orchestern und Opernhäusern heißt dies auch: Arbeitspflichten, Vergütungsgruppen, Haustarifverträge, »Dienst«. Für die einen ist das eine Errungenschaft, für andere ein unlösbarer Widerspruch zu dem, worum es geht. Currentzis gehört zu Letzteren. Er hat sich in der russischen Industriestadt Perm, 1.400 Kilometer östlich von Moskau am westlichen Rand des Ural, lieber gleich seinen eigenen Ort erschaffen.   

Perm war einmal Zentrum der sowjetischen Kriegsindustrie und bis 1991 eine für Ausländer ohne Sondergenehmigung gesperrte Stadt. Sergej Djagilew, der Impresario der Ballets Russes, wurde hier geboren. Der Fußballverein heißt Amkar, was sich ableitet von den Hauptprodukten eines Düngemittelwerkes, Ammoniak und Harnstoff. In den Nullerjahren sollte aus Perm das Zentrum des russischen Kulturwunders werden. Der liberale Gouverneur Oleg Tschirkunow brachte schillernde Kuratoren aus Moskau und Avantgarde-Kunst in die Stadt – und 2011 auch Teodor Currentzis aus Nowosibirsk. Der hatte dort seit 2004 das drittgrößte Opernhaus Russlands geleitet und avancierte schon einige Jahre zum next big thing in der russischen Musikszene. In Perm bekam er alle Freiheiten und den nötigen Etat, um die für ihn idealen Entstehungsbedingungen von Musik zu schaffen. »Kein Land der Welt hätte ihm solche Arbeitsbedingungen geboten«, sagt der russische Komponist Sergej Newski, der Currentzis bereits 2005 beim Moskauer Territory-Festival traf, als ihn außerhalb Russlands noch kaum jemand kannte.

Obwohl es in Perm bereits ein Opernorchester gab, brachte Currentzis aus Nowosibirsk sein eigenes Ensemble MusicAeterna mit, in dem er die besten Studenten aus allen Musikhochschulen des Landes versammelt hatte. Eine Gruppe Gleichgesinnter, von der er eine Haltung einfordert, die sich ganz dem Primat der Kunst unterordnet. »Eigentlich holt Currentzis Möglichkeiten heraus, die auch in jedem anderen Ensemble sind. Es geht aber um die Bereitschaft, es auch zu machen«, sagt Sadler und nennt als Beispiel die gemeinsamen Konzerte vom Mahler Chamber Orchestra und dem MusicAeterna Chor: »Andere Topchöre können wahnsinnig gepflegte Bach-Motteten oder eine wuchtige Mahlers Zweite singen, aber sie sind nicht bereit, den letzten Schritt zu gehen und im richtigen Moment zu schreien.«

Die Musiker von MusicAeterna bezeichnen sich selbst oft als Bruderschaft. Den ersten Teil des Konzerts in der Kölner Philharmonie, die Bach-Motetten, singt der Chor in einheitlichen Kutten. Wer sie vor dem Konzert in dieser Tracht durch die Katakomben des Gebäudes huschen sieht, wird nicht an der Ernsthaftigkeit dieser Aussage zweifeln.

»Als ich die Staatsbürgerschaft Russlands bekommen habe, bin ich Mitbürger geworden von Tschaikowski, Dostojewski, Malewitsch, Schostakowitsch, Strawinski, Lotman, Melnikov, Brodski und Batagov. Über das Russland spreche ich, nicht über das Russland des Ersten Kanals und NTV.«

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»Partisanen kannst du nicht in der Hauptstadt versammeln, die sammelst du immer an anderen Orten«, sagt Currentzis in einem Filmporträt. Da ist sie wieder, die Hybris. Ein gallisches Dorf gegen den Klassikbetrieb und das kulturlose politische Russland. Wenn er sich mit dessen Autoritäten anlegt, wie zuletzt, als es um den – versprochenen und immer aufgeschobenen – Neubau des Permer Theaters ging, weiß er nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Ikonen der russischen Kunstgeschichte an seiner Seite: »Wir glauben daran, dass Russland nicht das Kulturministerium ist, sondern Bulgakow und Malewitsch. [Kultur]Minister Medinsky schätzt Malewitsch nicht, wir schon, das ist vereinfacht gesagt der große Unterschied. Malewitsch. Und niemand kann uns daran hindern.«

Die kulturelle Revolution hat Perm schon wieder verlassen. Der Direktor des Museums für zeitgenössische Kunst, Marat Gelman, wurde schon 2013 entlassen; zusammen mit dem ehemaligen Gouverneur Tschirkunow will er jetzt ein Kunstmuseum in Südfrankreich aufbauen. »Perm is defined these days not by what it is, but by what it was supposed to be by now and isn’t«, schrieb die New York Times vor einigen Monaten. Currentzis ist geblieben, unterstützt von einigen Oligarchen und Firmen aus der Region. »Wir wollen von Perm aus die Aufladung der Kunstlandschaft in Russland verändern«, sagt er mir im Gespräch. »Moskau oder St.Petersburg sind dafür zu langsam. Wir brauchen ein neues Zentrum, in dem wir uns frei bewegen können.« Er hat sich mittlerweile einen Nimbus der Unantastbarkeit erarbeitet. In Russland ist der Currentzis-Hype schon dreizehn Jahre alt. Wenn er Konzerte in Moskau spielt, kosten die Karten viele hundert Euro und die Maybachs parken vor dem Konzerthaus.

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Die bedingungslose Hingabe, mit der ihm sein Ensemble folgt, erzeugt im Westen auch Misstrauen. Oft ist von »Sekte«, »Drill« und »Diktatur« die Rede. »Wenn er das Gefühl hat, dass die Einstellung stimmt, dann ist er kompromissbereiter als viele andere Dirigenten«, sagt Sadler über die Zusammenarbeit mit dem MCO. »Deswegen finde ich vieles, was in den Medien steht, unfair, weil er [in der Darstellung] oft wie ein Diktator mit Allüren wirkt. So empfinden wir ihn nicht.« Viele andere Maestros seien viel divenhafter, viele, die nach außen wie Menschenfreunde aussähen, seien in Wirklichkeit rabiater und gnadenloser. »Er ist berühmt dafür, komisch zu sein. Es kursieren in der Musikerwelt viele Gerüchte darüber, dass es schwer sei, mit ihm zu arbeiten. Darauf waren alle vorbereitet. Umso überraschter waren wir, als wir merkten, dass das absolute Gegenteil der Fall ist«, erzählt die Geigerin Elzbieta Szymanska-Čonka von den Wiener Symphonikern, die mit Currentzis im Januar eine längere Tournee gespielt haben.


Mit Currentzis bei der Arbeit: Stimmen.

»Als ich MusicAeterna gründete, habe ich nicht nur die Besten der Besten berufen. Ich holte Gleichgesinnte. Solche, die die Proben nicht auf Gongschlag verlassen und sich danach ihren eigenen Dingen widmen. Ich brauche Menschen, die Tag und Nacht über  Musik nachdenken, auch wenn sie eventuell etwas weniger präzise und streng spielen als einige ihrer Kollegen  – gleichgültige Techniker.«

In Snob, Russland

Ein Dirigent, der sein Orchester nicht als amorphe Masse sieht, der plastische Bilder vorgibt, frei in der Gestik ist, Phrasen vorsingt, akribisch probt, genau weiß, was er will, keine Angst hat vor Musikern und deren Mündigkeit. »Ist es nicht das, was Dirigenten und Musiker machen?«, könnte jemand verwundert fragen, der mit der Klassikwelt unvertraut ist. Wenn Musiker von Perm und der Arbeit mit Currentzis schwärmen, legt dies immer auch Informationen frei über den Zustand des Rests. Der Ort, den sich Currentzis in Perm geschaffen hat, ist auch ein Brennglas, unter dem die klassische Musikkultur auf sich selbst zurückgeworfen wird. »Eigentlich ist das, was er dort macht, das einzig Wahre«, sagt Currentzis’ Kollegin, die Erfurter Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz. »Für die meisten meiner Kollegen wäre das nichts«, sagen internationale Musiker, die zu ihm nach Perm fahren.

Viele waren daher überrascht, dass Currentzis mit Beginn der Spielzeit 2018/19 erster Chefdirigent des neuen SWR Symphonieorchesters wird. Ausgerechnet das Orchester, dessen Gründungsgeschichte eine Auslöschung ist. Zwei ehemals unabhängige Orchester am Reißbrett fusioniert, Resultat kalter Verwaltungseffizienz, ohne Geschichte, Seele, Identität. Vielleicht ist es das, was Currentzis reizt. Hier kann er etwas aufbauen, ohne erst etwas abtragen zu müssen. Wieder eine Art Tabula Rasa. Bei den Wiener Philharmonikern, die er 2013 bei der Salzburger Mozartwoche dirigierte, ist er krachend gegen die Wand gefahren. »In Wien glauben eben alle zu wissen, wie man den heiligen Mozart spielen muss«, sagt eine Wiener Musikerin. »Ich denke, er war einfach zu exzentrisch mit seinen Ideen. Ich kenne Leute, die das nicht mögen, dass man gewisse Traditionen mit Füßen tritt. Man kann ein heiliges Bild nicht auf den Boden werfen.« »Die Art von Teo kommt nicht überall gut an, er braucht die Möglichkeit einer sehr direkten Interaktion mit den Musikern. Die meisten Berufsorchester sind aber auf eine große Distanz gepolt«, sagt der Hornist Binde.

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Ich frage Currentzis, was er durch seine Gastspiele bei anderen Orchestern gelernt hat. Wie geht er mit Widerstand um? »Es gibt zwei Wege: Entweder du hörst auf oder bleibst offen und versuchst, die anderen langsam auf deine Seite zu ziehen, wie ein Magnet. Musik ist immer eine Expedition in ein unbekanntes Land. Dafür braucht es offene Menschen. Wenn man glaubt zu wissen, reproduziert man nur. Wenn du weißt, welche Duftstoffe ein Parfüm hat, baust du es nur nach. Es kommt aber darauf an, etwas zu entdecken.«

Aber die Anstellung beim SWR bleibt ein Risiko. Was macht er, wenn einer der vielen Schutzmechanismen gegen Veränderung anspringt? Ein System, in dem »das geht nicht« oder »so haben wir es schon immer gemacht« eben auch zum Inventar gehören, das nicht selten als »Tradition« kaschiert wird. Ein System, das sich an seiner Exzellenz berauscht und dabei zuweilen ganz fett und träge geworden ist. »Wir sehen es als Respektlosigkeit gegenüber den Musikern, wenn Proben 15 Minuten länger dauern. In Perm sehen sie es als Respektlosigkeit gegenüber Mozart und Tschaikowski, wenn man 15 Minuten eher aufhört«, sagt Matthew Sadler. »Wenn du gegen den Strom schwimmst, wirst du schneller müde«, warnt ein Musiker der MusicAeterna im Film. Wird Currentzis’ ideelles Fieber vom Klassik-Establishment abgetötet? Oder steckt er das »Weltkulturerbe Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft« damit an? »Er steht vor uns und nach zehn Minuten weiß man, dass man nicht tatenlos sitzen und nur seinen Dienst machen kann«, erzählt die Geigerin Elzbieta Szymanska-Čonka. »Man merkt: Das ist ein Querdenker, jemand, der das Ganze aufmischen und umkrempeln will, der auf der Suche ist, der mit seiner Begeisterung anstecken will«. »Es braucht sie mehr, diese Querulanten, diese Feuerköpfe, diese Leute wie Currentzis«, sagt Patricia Kopatchinskaja.

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»Er ist jemand, der keine Angst vor den Musikern [hat], das merkt man auch im Blickkontakt.« Teodor Currentzis und MusicAeterna spielen den 6. Satz aus Mahlers 3. Sinfonie auf dem Diaghilev Festival 2014 in Perm.

»Ich versuche jeden Tag, alle Türme zu zerstören, die ich selber gebaut habe, sogar um mich herum. Die gründliche Zerstörung seiner eigenen Mythologie ist sehr wichtig.«

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»Unsere Kultur ist besessen von realen Ereignissen, weil wir kaum noch welche erleben«, schreibt David Shields in seinem Buch Reality Hunger. Die Funktion des Events beschreibt in der klassischen Musik der Begriff der Authentizität. Je öfter er affirmiert wird, desto deutlicher wird, dass damit etwas im Argen liegt. 

Der Hype um Currentzis kommt auch aus der Ahnung, dass sich hinter der exzentrischen Fassade einmal kein Spießer verbirgt, der die Leidenschaft bloß postuliert. Hier könnte es jemand wirklich ernst meinen mit der Künstlerexistenz. Currentzis, der Ex-Gothic Punk und Anarchist, der zu den Dead Kennedys tanzt, der sein eigenes Parfüm kreiert, Gaze-Röckchen, Plateausohlen und Mascara trägt, wird in einer Musikkultur zur Sensation, die zwar Mozart, Paganini und Schubert hervorgebracht hat, in der es heute aber noch weniger echte Exzentriker gibt als unter Blumenzüchtern, Filmemachern oder Astronauten. In der Enge ist es leichter, aus dem Rahmen zu fallen. Currentzis aber ist auch außerhalb des Marketings zur Projektionsfläche geworden, auf der sich all das spiegelt, was der Klassikkultur fehlt. »Meine Musiker und ich wirken ein wenig wie Nudisten in einem Musiksystem, das sehr gut gekleidet ist«, sagt er in einem Interview. »Ich bin ehrlich in dem, was ich will. In einer Welt, die das nicht ist, sieht diese Ehrlichkeit exzentrisch aus. Exzentrisch sind die anderen, ich bin normal.« Currentzis schillert auch deshalb, weil sein Hintergrund oft farblos ist.

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Es gibt nicht wenige in der Klassikwelt, die Currentzis’ Exzentrik nervt. Einige halten es auch für reine Pose, Verführung und Kalkül. »Wenn er beim Dirigieren durchs Orchester geht und die Musiker beinahe anrempelt, dann schindet er Eindruck bei den leicht Verführbaren, die das für gefühlsechten Ausdruck im kalten Klassikbetrieb halten. Metierkenner allerdings wissen, dass es sich hierbei um choreographierte Hörbefehle handelt, nicht um professionelle Spielanweisungen«, schreibt Jan Brachmann in der FAZ. Aber trifft der Vorwurf der kalkulierten Wirkung bei der Kunst nicht ins Leere, weil es um andere Kategorien als Wissen und objektive Wahrheit geht? Ist die Pose nicht oft die Krone großer Kunst? Substanz, Musikalität, akribische Arbeit sprechen Currentzis selbst diejenigen nicht ab, die ihn nicht ausstehen können. »Ein Ort, an dem eine Lüge nur danach beurteilt wird, ob sie schlecht oder gut ist, und nicht danach, ob mit guten oder bösen Absichten gelogen wurde, ist das Theater«, schreibt René Pollesch. Mit Currentzis findet auch das große Theater zurück in die Klassikkultur.

»Ich bin ein großer Romantiker. Aber nicht im Sinne von Kategorien wie ›Landschaft‹, ›Küste‹, ›mein Schatz‹. Meine  Romantik ist erhaben. Wilde Katzen, die auf einen Flügel springen, wilde Pflanzen mit Aromen wie Weihrauch – so wie bei Baudelaire.«

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Der Film Die Farbe des Granatapfels des sowjetischen Regisseurs Sergei Paradschanow ist einer der Lieblingsfilme von Teodor Currentzis. Er erzählt in symbolischen Bildern aus dem Leben des armenischen Dichters Sayat Nova. Es ist ein Film, der Fundstücke einer vergangenen Zeit herüberweht wie ein sehnsuchtsvoller Traum. Orthodoxe Klosterruinen, archaische Rituale, das mönchische Leben, Heiligenbilder, Schlachtungen, Engel. Es erscheint wie eine stilisierte Welt, aus der auch Currentzis Inspiration schöpft. »Er hat sich aus der Musik heraus ein ideelles Russland gebaut«, sagt Sergej Newski. »Als ich [1994] zum ersten Mal nach Russland kam, fühlte ich mich glücklich. Es war eine Welt, in der immer noch der Geist der Romantik lebte. […] Wenn der Westen Sex als Folge des Zusammenspiels von Hormonen erklärt, glaubte man hier, so schien es, noch an Engel. Also blieb ich«, erklärt Currentzis in einem Interview mit der russischen Ausgabe von Esquire. Auch er ist ein wenig aus der Zeit gefallen oder aus einem Tim Burton Film. Eine Mischung aus Ian Curtis, Lord Byron, Tarkovsky, Marilyn Manson, Oscar Wilde, aus Werther, Great Gatsby und Guru. Immerzu erinnert er an jemanden, nie will es richtig passen. Aber er ist auch ein Anti-Gergiev. Man kann ihn sich nur schwer in einer Gazprom-Werbung vorstellen. Eher schon eine Art Kirill Petrenko unter umgekehrten Vorzeichen. Das Ying und Yang der Klassikkultur.

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Film Still aus Die Farbe des Granatapfels (1968) des sowjetischen Regisseurs Sergei Paradschanow

Wo dahinter der Mensch Currentzis hervorscheint, zeichnet sich ein Bild ab, das balancierter ist. Anders als ein Byronscher Held ist Currentzis kein Einzelkämpfer, anders als Lermontows »überflüssiger Mensch« kein untätiger Zuschauer. Das Mahler Chamber Orchestra hat sich auch deshalb für ihn als Artistic Partner entschieden, »weil er gerne mit Leuten kollaboriert, die ähnlich denken«, erklärt Matthew Sadler. Dazu gehören Patricia Kopatchinskaja, Isabelle Faust, Alexander Melnikov. Er hat ein gutes Gespür für Gesangstalente und homogene Ensembles. Er wartet nicht bis jemand erfolgreich ist, um sie dann erst für seine nächste Aufnahme zu engagieren. Seine Mozart-Aufnahmen bilden auch in dieser Hinsicht einen Kontrast zu denen seines Kollegen Yannick Nézet-Séguin, für die jeweils die Supergroup an Sängern gecastet wurde. Früher hat er öfter viel versprochen und wenig gehalten, das hat sich gebessert. Er ist loyal gegenüber seinen Leuten, lässt Musiker nicht auflaufen oder vernichtet Karrieren.

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»Seine Sicht auf Musik ist die eines Komponisten, was viele verstört, weil sie es als Überschreitung der zulässigen Interpretationsgrenzen sehen.« Currentzis dirigiert das SWR Symphonieorchester mit Werken von Lachenmann, Dowland, Kourliandski, Biber und Scelsi.

Wie geht es weiter mit Currentzis? »Noch vor zwei Jahren dachte ich, er wird ein ganz normaler Star-Dirigent. Viele hatten Angst, dass er zu einer Art Carlos Kleiber wird, der ein enges Repertoire dirigiert. Aber zum Glück ist es umgekehrt. Ich bin sehr optimistisch, dass wir ihn noch lange in unterschiedlichen Facetten erleben werden«, erzählt Sergej Newski. Es sei schön, dass er seit drei Jahren wieder viel Neue Musik mache und für solche Programme auch eingeladen werde. Hier liegen seine Wurzeln, bei Grisey, Xenakis, Vivier oder Christou, dessen Anaparastasis I und III er 2011 erstmals in Russland aufführte. Für das Moskauer Territory-Festival kuratierte er schon 2006 Programme, in denen er Musik von Kourliandski, Scelsi, Pärt und Jani Christou Purcells Dido and Aeneas gegenüberstellte. Hier liegen tatsächlich Wurzeln, die ihn mit dem SWR-Orchester verbinden.

Perm, wo er eine Stunde außerhalb des Stadtzentrums in einem großen Holzhaus in einer Waldsiedlung lebt, und MusicAeterna werden einstweilen sein Rückzugsort bleiben. »Ich hoffe, irgendwann einmal ein musikalisches Kloster zu gründen, ich muss nur noch die passenden Ruinen dafür finden,« erzählt er mir. »Ein Ort außerhalb der Kommunikation, wo Künstler leben, meditieren und zusammen Musik machen können. Manchmal gehen wir dann in die großen Städte, spielen Konzerte. Danach kehren wir wieder heim.«

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»Es gibt keine Helden«, sagt Andrej gegen Ende von Tschechows Drei Schwestern. »Keine Menschen, die leidenschaftlich für eine Sache eintreten würden, zu denen man aufblicken und denen man nacheifern will, die einen mitreißen, einen begeistern würden, nichts, keinen einzigen Denker, Schriftsteller, Politiker, Wissenschaftler, auf den man stolz sein kann und mit Begeisterung zujubelt, hier gibt es absolut nichts, nichts, Stillstand, nichts bewegt sich. Kein Einziger, der aus dieser trüben Masse herausstechen würde. Sie fressen, saufen, schlafen und sterben … dann kommen andere zur Welt, die wieder fressen, saufen und schlafen. Dazwischen ein paar Intrigen, Korruptionen und sehr viel Gleichgültigkeit und Langeweile.« Als Ort der Handlung hat Tschechow »eine größere Garnisonstadt im Osten Russlands« angegeben. Gemeint ist vermutlich Perm am Ural. Für die klassische Musik ist dieser Ort in der Peripherie Sehnsucht und Verheißung geworden. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com