Im ICE war ich wieder auf Tschaikowsky gekommen, mit ihm macht Eisenbahnfahren noch Spaß, und im Finale der Fünften kann man sogar so etwas wie eine vor Sehnsucht außer Kontrolle geratene Dampflok über die Schienen rasen sehen. Aber jetzt war mir nach einem Scherzo, und ich suchte auf Youtube nach dem aus der Zweiten Sinfonie, die nicht so oft gespielt wird. Ich hatte es als genial in Erinnerung, seit ich die Sinfonie vor wirklich sehr vielen Jahren in einem Jugendsinfonieorchester gespielt hatte. Wie genau ich es wirklich im Kopf hatte, wurde mir klar, als ich eine Aufnahme mit Bernstein aus den frühen 1970ern anstellte, New York Philharmonic. Unpräzise, schwammig und drüberweg, zügiges Tempo, und doch klangen die Achtel im Dreiachteltakt unausgeschlafen. Also nee. Nächster: John Eliot Gardiner dirigiert das Concertgebouworkest, Liveaufnahme von 2012. Viel präziser alles, aber ohne Biss und Witz und Drang. Je länger ich da hineinhörte, desto mehr wusste ich, wie das Stück sein muss. Desto mehr sah ich, wie Anton es dirigierte, wie er es mit uns geprobt hatte, donnerstags in einer Schulaula in Hannover.

Eigentlich war Anton Komponist, das wussten wir, ohne seine Musik zu kennen, wir setzten voraus, dass sie gut war, weil wir ihn super fanden. Er war an die 30 und ich vielleicht sechzehn, als ich da anfing, seit einem Jahr von der Geige, die mich ablehnte, zur freundlichen Bratsche gewechselt. Tschaikowskys Zweite war nicht mein erstes Orchestererlebnis als Spieler, aber das bahnbrechende, dank Anton. Anton Plate, 1950 in Hildesheim geboren. Er unterrichtete an der hannoverschen Musikhochschule, er komponierte, und vor allem – aus unserer Sicht – machte er aus all den Donnerstagabenden Ereignisse, an denen er mit uns probte, mit Jugendlichen so etwa zwischen 14 und 18. Er war einer von drei Dirigenten des Jugendsinfonieorchesters, ein Ensemble, für das man vorspielen musste, das hatte ich trotz massiven Lampenfiebers mit Stamitz geschafft.

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Anton war ein witziger, freundlich sarkastischer Typ, mit wuchtigem Oberkörper, großem, markantem Kopf und ebensolcher Stimme, mit kräftigen Armen, die nur im Konzert zur Gänze bedeckt waren. Er trug ein T-Shirt, meist weiß, oder er krempelte die Ärmel hoch. Seine Bewegungen hatten etwas Grobes und Feines zugleich, wie bei einem, der Bäume fällen kann, aber auch zarte Pflänzchen betreuen. Und sie passten genau zu dem, was er in der Musik fand und von uns wollte. Es machte ihm Spaß, das merkte man, und es war ihm absolut ernst damit. Das Scherzo probte er, als hätte er es sich zusammen mit Tschaikowsky ausgedacht – diese irren Synkopen, diese durchs ganze Orchester springenden Zweiachtelpünktchen, die jähen Abrisse im vollen Schwung. Das war eigentlich zwei Nummern zu raffiniert für so ein Orchester, und garantiert haben wir es nicht so spielen können, wie er es uns vermittelte. Aber er vermittelte es, mit seinen Armen hielt er die ganze Wucht zusammen, während seine Rechte mit dem Stab gewisse Pünktchen in der Luft traf und funkeln ließ, und die Linke, Zeigefinger und kleiner Finger abgespreizt, zur Aufmerksamkeit forderte. Dem ganzen Anton sah man die Musik an, auch seinem verschmitzten Lächeln manchmal. Deswegen kamen wir da überhaupt durch, und deswegen sind mir Bernstein und Gardiner für dieses Stück einfach nicht gut genug.

Sie fordern nicht halb so viel von ihren Profis, wie er von uns forderte. Die können ja schon alles, die Sache läuft. Wir hatten den unschätzbaren Vorteil, dass wir uns in diesen Proben überhaupt erst in Musiker zu verwandeln begannen, merkten, was überraschenderweise so alles möglich ist. Wir nahmen unbewusst das Existentielle an der Sache wahr, während Anton uns mit aller Kraft ins Licht der Kunst bugsierte. In einem Curriculum Vitae liest sich das ja nicht so beeindruckend, »leitete mehr als 20 Jahre lang ein Jugendsinfonieorchester«. Es sollte aber fett unterstrichen werden. Bei mir und noch vielen anderen hat Anton so viel angerichtet, wachgerufen, freigelegt wie später mein ganzes Studium nicht, zu dem es ohne diese Orchestererlebnisse kaum gekommen wäre. Erst nachdem ich ausgebildeter Bratscher war, begann ich die Musik wieder so zu entdecken wie mit Anton Plate. Aber das wird mir erst jetzt klar, nach dieser ICE-Zeitreise mit dem Scherzo von Tschaikowsky. Und nach Antons Tod.

Er ist am 8. September, schon länger krank, gestorben. Zum Glück wenigstens erst, nachdem Ingo Metzmacher im Januar seine Sinfonie Libération mit der Radiophilharmonie Hannover und der Sopranistin Marlis Petersen uraufgeführt hat, an der er fast zwei Jahrzehnte lang gearbeitet hatte. Er saß an vielen Werken sehr lange, aber auch sehr gern. Kiloweise Ideen, Ansätze, Versuchsanordnungen auf Notenpapier lagen herum, als ich ihn 1993 besuchte, da war er Anfang 40. »Es geht gar nicht um die Stücke«, meinte er, »es geht ums Komponieren«. Um das Da-Sein in der Musik, für das es natürlich ganz gut ist, wenn ab und zu auch mal ein neues Stück fertig wird, was selbst bei ihm vorkam. Aber Anton Plate wäre auch ohne Werkregister eine große Gestalt. Er hat junge Amateure genauso ernst genommen wie die Stücke, die er mit ihnen probte, und nach der Probe haute er nicht ab, sondern ging mit denen, die schon durften, in die Kneipe. Das Leben gehört nämlich auch zur Musik, wussten wir teilweise noch gar nicht.

An Leute wie ihn sollte man denken, wenn es um »musikalische Arbeit mit Jugendlichen« geht, einen Punkt ganz hinten in der Öffentlichkeit. Über dem Thema stünde besser »Allegro molto vivace«, wie über dem irren Scherzo. ¶

Anton Plate, 1993 • Foto © Jochen Lübke

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.