»Zyklusbasiertes Training« nennt man es im Sport, wenn man beim Trainieren berücksichtigt, dass sich körperliche Veränderungen während des Menstruationszyklus auf die Leistungsfähigkeit der Athletinnen auswirken – und die Einheiten entsprechend plant. Mittlerweile empfehlen Lifestylemagazine wie Tageszeitungen, Öffentlich-Rechtliche und Krankenkassen einen solchen Ansatz auch für Hobbysportlerinnen. Die Grundlage hierfür bilden zahlreiche Studien, unter anderem von Sportwissenschafts-Professorin Kirsten Legerlotz von der Berliner Humboldt-Universität.
Professionelle klassische Sängerinnen sind ähnlich stark von der Leistungsfähigkeit ihres Körpers abhängig wie Profi-Sportlerinnen. Wie im Sport können sich auch beim Gesang hormonelle Schwankungen innerhalb des Zyklus merklich auf die Leistungen auswirken, so zeigen Studien. Sängerin Norma Widmer hat bestehende Forschungsergebnisse im Rahmen einer Masterarbeit zusammengetragen – und kommt zu ganz ähnlichen Schlüssen wie die Sportmedizin. Ich habe darum Sportwissenschaftlerin und Sängerin zum Gespräch eingeladen – über die Möglichkeiten des zyklusbasierten Übens und die Notwendigkeit von Aufklärungsarbeit.
 

Kirsten Legerlotz (links) / Norma Widmer (rechts)

VAN: Wie verändert sich die Stimme während des Zyklus?

Norma Widmer: Bei den meisten Frauen gibt es Einschränkungen kurz vor und nach Beginn der Menstruation. Beschwerden wie zum Beispiel Bauchkrämpfe beeinflussen die Körperhaltung, man steht dann oft etwas gekrümmt. Dadurch kann sich das Zwerchfell bei der Einatmung nicht mehr gut senken und die Atemführung beim Singen ist gestört. Durch die Hormonschwankungen können sich außerdem Wassereinlagerungen bilden, auch an den Stimmlippen. Die größere Masse der Stimmlippen ist dann schwerer in Schwingung zu bringen. Es benötigt mehr Unterstützung des Körpers, vor allem bei den höheren Tönen. 

Kirsten Legerlotz: Diese vermehrte Flüssigkeitseinlagerung kann an vielen Stellen im Körper passieren. Die meisten Frauen nehmen diese Ödembildung als Brustspannen wahr, das ist eines der häufigsten Symptome.

Wie verändert sich die Leistungsfähigkeit grundsätzlich im Laufe des Zyklus?

Legerlotz: Grundsätzlich ist die Leistungsfähigkeit um den Eisprung herum meist höher als kurz vor und nach Einsetzen der Regelblutung. Das liegt aber auch daran, dass Frauen in den letzten Tagen des Zyklus und nach Einsetzen der Regelblutung vielfach von Beschwerden betroffen sind. Es lässt sich nicht leicht feststellen, was auftritt, weil sich die Frauen einfach nicht so wohl fühlen, Unterleibs, Kopf- oder Rückenschmerzen haben, und was zum Beispiel eine direkte Folge einer Änderung in der Funktionalität der Muskeln ist.

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Welche Vorteile bringt es, über diese Veränderungen Bescheid zu wissen?

Widmer: Allein schon das Bewusstsein, dass es diese Veränderungen gibt, ist als Sängerin hilfreich. Wenn diese Effekte stark ausgeprägt sind, kann man schauen, ob man Konzerte passend zum Zyklus legen kann.

Legerlotz: Im Sport ist das ganz ähnlich. Wenn man weiß, warum man nicht so leistungsfähig war, hat das einen psychologischen Effekt, es stresst einen weniger. Und man weiß auch: Es wird in wenigen Tagen besser.

Man kann das natürlich proaktiv angehen: Wenn man regelmäßig unter Beschwerden leidet, nimmt man sich in diesen Tagen keine besonders intensiven Trainingseinheiten vor oder nichts besonders Kompliziertes. Im Turnen sollte man sich zu diesem Zeitpunkt zum Beispiel nicht unbedingt vornehmen, ein neues Element zu erlernen, das besonders schwierig ist. Da wäre Frustration vorprogrammiert.

Wie reagieren Trainer:innen oder auch Konzertveranstalter auf ein solches Vorgehen?

Legerlotz: Das bedeutet natürlich zusätzliche Arbeit und den Abschied vom Gewohnten. Und da sind die meisten Menschen grundsätzlich erstmal sehr zögerlich.

Was immer wieder als Argument kommt: ›Ich kann den Wettkampf ja nicht verschieben.‹ Das stimmt. Eine Weltmeisterschaft lässt sich nicht verschieben, aber eine Trainingseinheit eben schon. Das gleiche gilt für leistungsdiagnostische Tests, die im Leistungssport vielfach angewendet werden. Auch die lassen sich rein theoretisch verschieben.

Auch bei Wettkämpfen muss man sich nicht hilflos ausgeliefert fühlen. Wenn es mir zwei Stunden vor einem wichtigen Rennen ganz akut nicht gut geht und ich kommuniziere das der Trainerin oder dem Trainer, dann kann man viel aktiver handeln. Denn meistens gibt es ja Hausmittel. Ganz einfach: Wärme, die entkrampft bei Unterleibsschmerzen. Wenn man da vorbereitet ist und eine Wärmflasche oder ein Wärmeknickpad dabei hat, wirkt das Wunder. Oder man schickt eben den Trainer oder die Trainerin los, um das zu organisieren. Bei Kopfschmerzen oder Migräne kann man Reize reduzieren: Kopfhörer und Sonnenbrille auf, sich eine Decke über den Kopf ziehen. Man sieht  das tatsächlich bei großen Wettkämpfen, wo sich die Athleten ganz zurückziehen, große Kopfhörer auf, Cappy auf … Genau dasselbe kann man durchaus machen, wenn man in dem Moment Beschwerden hat. Wenn man direkt handelt, sind die schlimmen Schmerzen meist auch schnell vorbei.

Widmer: Wenn es zum Beispiel um Gesangsunterricht geht, den man im Studium zwei Mal die Woche hat, kann man ruhig darum bitten, mal eine Stunde zu verschieben oder eher ruhige, tiefere Stücke oder Atemübungen zu machen.

Früher gab es an manchen Opernhäusern die Möglichkeit, als Sängerin während der Menstruation nicht zu arbeiten [die sogenannten Grace Days oder Respect Days]. Das gibt es heute meines Wissens leider nicht mehr. 

Ist das Thema im Sport und in der klassischen Musik nach wie vor tabuisiert?

Legerlotz: Es ist auf jeden Fall ein Tabu. Da kommen, glaube ich, mehrere ungünstige Faktoren zusammen: Im Sportbereich ist die Mehrheit des Trainerpersonals männlich. Im Regelfall kommt ein Machtgefälle dazu, ein Alters- und Statusunterschied. Eine Person ist meist älter und erfahrener, die andere ist nicht nur jünger und unerfahrener, sie will auch den Platz in der Mannschaft oder im Boot nicht verlieren. Wenn man Beschwerden äußert, besteht vielfach die Angst, dass das als Schwäche ausgelegt wird.

Ein großer Punkt ist auch, dass gerade jüngere Athletinnen gar nicht wissen, warum sie das überhaupt äußern sollten. Interessiert sich mein Gegenüber überhaupt dafür? Weil sich diese Haltung so eingebürgert hat, dass man damit einfach klarkommen muss.

Und dass man das nicht muss, sondern dass man theoretisch das Training oder die Trainingsinhalte anpassen könnte – das nehmen viele Athletinnen erstmal gar nicht wahr. Und darum sprechen sie auch erst gar nicht drüber.

Gehen erfahrenere Athletinnen anders damit um?

Legerlotz: Ja, tatsächlich. Ältere und erfahrene Athletinnen gehen tendenziell selbstbewusster mit dem Thema um, sind aufgrund von Alter und Erfahrung eher in der Lage, auf Augenhöhe mit den Trainer:innen zu kommunizieren und öfter gewillt, auch mal Forderungen zu stellen, weil sie meist weniger um ihre Position im Team fürchten. Es gibt dann auch Effekte von Vorbildern: Wenn man eine ältere Athletin in der Mannschaft hat, die darüber ganz offen spricht, kann man sich davon etwas abgucken. Aber diese Vorbilder fehlen vielfach, weil so wenig und auch so wenig öffentlich darüber gesprochen wird. Das scheint sich aber im Sport gerade zu ändern.

Widmer: Im Gesang ist das ganz ähnlich. Es wird entweder nicht darüber gesprochen oder es heißt: ›Ich hab’s ja auch überlebt.‹ Das Thema wird kleingeredet. So denken dann viele Sängerinnen, sie wären die einzigen mit solchen Problemen.

Kann man nicht einfach die Pille nehmen und ist damit alle Beschwerden los?

Legerlotz: Für alle, die unter schweren Menstruationsbeschwerden oder dem Prämenstruellen Syndrom leiden, kann das eine gute und durchaus legitime Lösung sein. Auf der anderen Seite kann hormonelle Kontrazeption natürlich auch unerwünschte Nebenwirkungen haben: Gewichtszunahme – was gerade im Leistungssport vielfach ungünstig ist –, aber auch depressive Verstimmungen, die sich negativ auf die Leistungsfähigkeit auswirken können. Es ist interindividuell ganz unterschiedlich, wie Frauen auf diese Hormongabe reagieren. Es kann eine gute Lösung sein, es kann aber auch nach hinten losgehen. 

Widmer: Beim Gesang werden in Studien [zum Thema Menstruation] Frauen, die hormonell verhüten, oft nicht berücksichtigt. In Interviews, die ich geführt habe, klang aber an, dass auch Frauen, die die Pille nehmen, diese Beschwerden beim Singen haben. Vielleicht etwas weniger.

Legerlotz: Wenn man die Pille einnimmt, hat man erstmal ein sehr konstantes Hormonlevel. Meistens sind das Kombinationen von Gestagen und Östrogenen. Deren Hormonlevel sind dann für die 21 Tage der Pilleneinnahme sehr konstant und wenn man dann die Pille, wie es in der Regel passiert, für eine Woche absetzt, setzt die Abbruchblutung ein und die natürlichen Hormone fangen an, sich wieder in ihrem Spiegel zu verändern. Und diese Pillenpause ist dann die Phase, in der Beschwerden auftreten können. Manche nehmen dagegen die Pille ohne Pause durch, auch viele Athletinnen. Diese Planbarkeit empfinden viele als positiv – dass man die Pille einfach eine Woche länger nimmt, wenn einem die Beschwerden wirklich nicht in den Kram passen.

Widmer: Das habe ich von Sängerinnen, die zum Beispiel ein wichtiges Konzert hatten, auch gehört.

Um einen Trainings- oder Probenplan nach dem Zyklus zu richten, muss man den erstmal kennen. Man muss ja im Vorhinein wissen, wann höchstwahrscheinlich die Menstruation einsetzen wird und so die damit einhergehenden Beschwerden anstehen. Wie überblickt man das am besten?

Legerlotz: Am einfachsten geht das mit Zyklusapps. Man muss da eigentlich nur den ersten Tag der Menstruationsblutung eintragen und im Idealfall, wie lange diese dauert. Wenn ich das regelmäßig mache, kann die Zyklusapp vorwarnen, wann die Periode vermutlich einsetzen wird. Man hat dann auch einen Überblick über die vergangenen Zyklen und kann sehen, ob sie regelmäßig kommen, ob sie unnormal lang oder kurz sind oder ausbleiben, was ein Zeichen sein kann für zu viel Stress, zu wenig Essen oder unzureichende Erholung. Das machen auch viele Athletinnen.

Was bräuchte es auf struktureller Ebene? Menstruationsurlaub? Oder die Vermittlung von Wissen zum Zyklus im Studium?

Widmer: Das Wichtigste ist, darüber zu reden. Jeder Menstruationszyklus ist anders, darum ist etwas wie Menstruationsurlaub zu schwer zu planen.

Legerlotz: Ich glaube, auf einer strukturellen Ebene wäre die einfachste Maßnahme, das Thema Menstruationszyklus in den Curricula der jeweiligen Studiengänge fest zu verankern, weil man so einen Vervielfältigungseffekt hat, wenn man diejenigen ausbildet, die wiederum andere ausbilden: in der Lehramtsausbildung, in der Sportwissenschaft. Die tragen das Wissen dann auch in den Unterricht und die Trainerinnen- und Trainerausbildung. Aber dazu müssen wir erstmal das Bewusstsein schaffen, dass das ein wichtiges Thema ist, das ins Curriculum aufgenommen werden sollte.

Frau Legerlotz, Sie haben schon 2018 einen Artikel über Ihre Studie zu Menstruation und Verletzungsrisiko in einem Eishockeyteam veröffentlicht, in der Fachzeitschrift Health Science Reports. Fünf Jahre später scheint das Thema noch immer tabuisiert. Werden Sie irgendwann müde, über Zyklus und Training zu reden?

Legerlotz: Es ist immer bereichernd, wenn man sich mit Menschen darüber unterhält, die das als ein wichtiges Thema empfinden. Was mich wirklich nervt, ist das Unverständnis und das Negieren, dass der Menstruationszyklus überhaupt Leistungsschwankungen hervorrufen kann. Es gibt genug Studien, die belegen, dass sich die Leistungsfähigkeit im Verlauf des Menstruationszyklus ändern kann. Das ist von Frau zu Frau unterschiedlich. Manche haben gar keine Beschwerden, andere sehr stark. Und dass manche Frauen sehr stark darunter leiden, wird immer noch nicht von allen verstanden und auch nicht respektiert. Da wird tatsächlich erwartet, dass die sich ›gefälligst mal zusammenreißen, das kann ja nicht so schlimm sein, das war ja früher auch nie schlimm‹. Und das ist, was mich wirklich ermüdet.

Widmer: Ich bin manchmal wirklich erstaunt, dass so eine Reaktion auch von Frauen kommt, die vielleicht keine oder wenig Beschwerden haben, und dann sagen: ›Tu doch nicht so, so schlimm ist es nicht.‹ Man weiß ja auch, dass es Frauen gibt, die noch schlimmer leiden, zum Beispiel mit Endometriose. Das ist doch alles bekannt! Und das dann herunterzuspielen, das verstehe ich gar nicht.

Wie sehen Sie in die Zukunft, hoffen Sie auf baldige Verbesserung?

Legerlotz: Ich glaube, dass mehr und mehr Athletinnen sich das nicht mehr gefallen lassen. In den letzten Monaten gab es ja viele medienwirksame Auftritte von einzelnen Athletinnen, die sich offen in Interviews dazu geäußert haben. Das kann eine Menge bewirken. Ich glaube, diese Bewegung kommt gerade von unten: Die Athletinnen fordern ein, dass sich was ändert. Und ich denke, es wird sich so auch was ändern.

Widmer: Dass es mehr und mehr offene Gespräche gibt, verändert schon viel. Dass einfach anerkannt wird, dass das ein Problem ist – da geht es in die richtige Richtung. ¶


Am 4. Dezember sind Kirsten Legerlotz und Norma Widmer zu Gast bei einem Podiumsgespräch zum Thema »Zyklusorientiertes Üben und Musizieren« in der Universität der Künste Berlin. Die Veranstaltung ist Teil einer Reihe, die sich mit den Themen Zyklus, Schwangerschaft, Geburt, Wechseljahre im Leben von professionellen Musiker:innen auseinandersetzt.

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com