An einem für Februar ungewöhnlich sonnigen Nachmittag treffe ich Craig Urquhart in seiner Wohnung am Berliner Nollendorfplatz. »Es ist vielleicht nicht die feine Art, aber ich trinke jetzt einen Gin«, meint Urquhart, stellt dann aber fest, dass er kein Eis da hat. Urquhart war lange Zeit Leonard Bernsteins Assistent, jetzt arbeitet er als Komponist und Verantwortlicher für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Leonard Bernstein Office. Bernstein wäre dieses Jahr 100 geworden. Eine Hommage an den Chef und Mentoren.

Craig Urquhart 
Craig Urquhart 

VAN: Ich habe mir gerade ein Klavierstück angehört, das Leonard Bernstein als Teil seiner Thirteen Anniversaries für Sie geschrieben hat.

Craig Urquhart: Lenny war bekannt dafür, seinen Freunden und Kollegen zu ihren Geburtstagen, Hochzeitstagen oder ähnlichen Anlässen kleine Stücke zu schreiben. Ich habe ihm 1986 ein Stück zu seinem Geburtstag geschenkt, an meinem Geburtstag bekam ich dann etwas zurück – fünf Takte, die in mein Stück für ihn eingeschoben waren. So haben wir angefangen, Musik füreinander zu schreiben.

An Thanksgiving im selben Jahr rief er mich in sein Arbeitszimmer und spielte dieses Stück für mich. Er fragte: ›Was hältst du davon?‹ Ich sagte: ›Ich finde es wunderbar.‹ Und er meinte: ›Es ist für dich.‹ Im Manuskript steht: ›Für Craig mit Dank.‹ Es ist ein wirklich niedliches, kleines Stück, ich mag es sehr.

Sagt die Musik etwas über Sie aus?

Auf eine gewisse Art. Es gibt zwei Seiten in dieser Musik: Diesen quasi allegretto-Teil, in dem ich in Bewegung bin, weil ich für ihn arbeite und es meine Aufgabe ist, für Ordnung zu sorgen. Und dann gibt es diese kleinen, langsamen Akkord-Momente, die die Zuneigung und Liebe zeigen… All das in, wie viel, einer Minute? Es ist wundervoll, dieses Geschenk von ihm bekommen zu haben.

Die letzten 15 Sekunden oder so sind so melancholisch, dass es mich beim ersten Hören wirklich überrascht hat.

Ich habe eine melancholische Seite. Die hat er wahrscheinlich auch aufgegriffen.

Leonard Bernstein, Thirteen Anniversaries, IV. für Craig Urquhart; Stefan Litwin (Klavier) 

Haben Sie mit Bernstein jemals über Tom Wolfes Artikel ›Radical Chic‹ gesprochen?

Zu allererst mal: Wer die Wahrheit über diese Sache wissen will, kann sie hier nachlesen. Es war nicht Bernsteins Party, es war die seiner Frau. Und es ging nicht darum, die Black Panther zu unterstützen, sondern darum, ihnen ihr Recht auf rechtlichen Beistand zuzugestehen. Tom Wolfe platzte in die Party hinein und schrieb diesen fiesen kleinen Text, im Versuch, damit seine Karriere voranzubringen – auf Kosten der Fakten, würde ich sagen. Es hat den Bernsteins wirklich wehgetan. Sie waren keine Limousine Liberals, sie haben sich wirklich gesorgt und gekümmert.

Ich habe mit Leuten gesprochen, die damals auch auf der Party waren. Sie meinten, es sei interessant gewesen, weil die Stimmung anfangs sehr merkwürdig und unangenehm war, aber dann hätten die Leute angefangen, miteinander zu reden. Es war eine großartige Gelegenheit, um mit der andere Seite ins Gespräch zu kommen und gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. Aber Tom Wolfe hat wirklich sehr viel Unheil angerichtet mit seinem ›radical chic‹-Kram.

Bernstein und Felicia auf dem Weg in die Flitterwochen, 9. September 1951 • Foto Bradford Bachrach. © Library of Congress, Musikabteilung
Bernstein und Felicia auf dem Weg in die Flitterwochen, 9. September 1951 • Foto Bradford Bachrach. © Library of Congress, Musikabteilung

Haben Sie und Bernstein auch über Politik gesprochen, oder nur über Musik?

Ich konnte Musik und Politik mit Bernstein nie trennen. Das erste Mal traf ich ihn bei einem Vorstellungsgespräch. Es stand die Möglichkeit im Raum, dass ich vielleicht für ihn arbeiten würde, aber ich fühlte mich einfach noch nicht bereit dazu. Ich war damals noch sehr jung und wollte nicht in etwas hineingeraten, dem ich nicht gewachsen war.

Dann, Ende 1985, meinte sein Manager, er suche einen neuen Assistenten. Er brachte mich dazu, mit Lenny zu sprechen, und der fragte: ›Warum jetzt?‹ Der Grund war, dass ich gemerkt hatte, dass er nicht der war, als der er in der Presse dargestellt wurde: der Dilettanten-Superstar. Nein, er war eine sehr, sehr ernsthafte Person, mit leidenschaftlicher Hingabe für Menschenrechte, die Rechte der Homosexuellen, die Friedensbewegung. Er nutzte seine Musik, um diese Agenda voranzubringen.

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Leonard Bernstein, Sinfonie No. 2 The Age of Anxiety; Krystian Zimerman (Klavier), Leonard Bernstein (Dirigent), London Symphony Orchestra 

Bernstein glaubte offensichtlich tief an die heilende Kraft der Musik.

Das war es auch, was mich an ihm anzog. Wissen Sie, er glaubte an Harmonie und er schrieb harmonische, tonale Musik. Er glaubte, dass Musik die Kraft hat, Leute zusammenzubringen, dass sie eine universelle Sprache ist.

Weihnachten 1989 spielten und sangen Musiker der vier Besatzungsmächte, Briten, Franzosen, Amerikaner und Sowjets und dazu Deutsche und ein Kinderchor aus Dresden zusammen Beethovens Neunte, die Hymne der universellen Brüderlichkeit. Das war sehr bewegend.

Beim G20-Gipfel im Juli 2017 hörten Trump und Erdoğan gemeinsam Beethovens Neunte.

Das macht mich krank.

Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass Veranstaltungen, bei denen zum Beispiel die vier Besatzungsmächte gemeinsam Musik machen, wirklich  die Weltpolitik verändern können.

Wir haben uns verändert. Die Welt ist jetzt eine andere als vor 30 Jahren.

Hat die Musik etwas von ihrer Kraft zu heilen eingebüßt?

Ich glaube, bestimmte Stücke sind zu Klischees verkommen – unglücklicherweise, denn sie sind großartige Stücke. Beethovens Neunte gehört dazu. Immerzu muss sie dafür herhalten, wenn etwas ›Tiefgründiges‹ gespielt werden soll. Sie hat ihre Botschaft verloren, wenn Leute wie Trump und Erdoğan im Großen und Ganzen auf sie scheißen.

Aber die nehmen doch auch Teil an der Erfahrung des Zuhörens?

Das ist nicht das Gleiche wie das gemeinsame Musikmachen.

Sie haben das Weihnachtskonzert 1989 erwähnt. Es gibt vom selben Tag ein Bild von Ihnen beiden an der Berliner Mauer. Wie haben Sie das erlebt?

Es war eine sehr emotionale Zeit, besonders für Bernstein und mich, weil ich Berlin schon damals geliebt habe und in den acht Jahren zuvor regelmäßig in Berlin war – die Mauer war dann immer sehr präsent. Es war ein ziemlich spannendes Jahr. Man hat geahnt, das sich etwas ändern würde.

Dann kam dieses Konzert, und dieser Morgen war großartig: Es war sonnig in Berlin, was, wie Sie wissen, eine Seltenheit ist und es war, typisch weihnachtlich, sehr leise. Das einzige, was man hörte, waren Leute, die die Mauer einrissen. Diese Kakophonie hörte man in der gesamten Stadt im Hintergrund.

Bernstein gab dieses tiefgründige, bewegende, unglaublich emotionale Konzert im Schauspielhaus, das heute das Konzerthaus ist. Nach dem Konzert und den Empfängen sagte er: ›Ich würde gern zur Mauer gehen.‹ Ich hatte einen Freund dabei, und er auch. Wir haben dem Fahrer einfach gesagt, dass wir gern zur Mauer fahren würden. Also fuhr er uns hin. Wir fuhren durch den Checkpoint Charlie und landeten hinter dem Reichstag. Und Lenny ging hin und nahm den Hammer dieses kleinen Jungen, der noch immer in Berlin lebt, und fing an, Stücke aus der Mauer zu schlagen. Es war ein sehr privater, intimer Moment. Da waren keine Reporter oder so. Er wollte auch Stücke für seine Familie mitnehmen.

Haben Sie außerhalb Ihrer professionellen Beziehung viel Zeit miteinander verbracht?

Wir hatten beide unser Privatleben, wir haben beide Wert darauf gelegt, das getrennt zu halten. Die Menschen, die in meinem Leben eine große Rolle spielten, habe ich manchmal mit auf Tour genommen, solche Sachen. Er hat meine Freunde kennengelernt – er war eine wundervolle, großzügige Person. Ich habe mit ihm auf einer professionellen Ebene zusammengearbeitet, dafür gesorgt, dass er als Leonard Bernstein wirken konnte. Ich habe mich nicht darum gekümmert, was er in seinem Privatleben macht, solange es niemandem Schaden zufügte.

Ich habe Gerüchte gehört, dass er, wenn Leute nicht mit ihm schlafen wollten, ihren Karrieren bewusst geschadet hat.

Nein, das ist nie passiert. Er hat nie jemanden sexuell belästigt. Wenn überhaupt war es andersrum. Ich habe sehr viele junge Leute gesehen, die bereit waren, alles zu tun, um dem Maestro nahe zu sein. Das hat ihn abgeturnt. Ich kenne niemanden, der sowas sagen würde – außer denen, die abgeblitzt sind. So ein Mensch war er nicht.

Ist zwischen Ihnen beiden mal was passiert?

Einmal hat er versucht mich zu küssen. Ich habe ihm die Wange getätschelt und gesagt: ›Lenny, dafür bin ich nicht hier.‹ Und damit war es gut.

Wobei haben Sie ihn im musikalischen Bereich unterstützt? Was waren Ihre Aufgaben?

Die Bereitstellung von Partituren, die Kontakte zu Verlagen und manchmal auch Solisten. Er hat seine Eintragungen in die Partitur immer nachts gemacht und mein Job war es dann, sicherzustellen, dass seine Eintragungen auch geprobt werden konnten. Während er gefrühstückt hat, habe ich mich mit dem Notenwart oder dem Orchester in Verbindung gesetzt. Es war alles immer auf den letzten Drücker – manchmal etwas anstrengend.  

War Bernstein in solchen Situationen gestresst?

Er war nie gestresst. Nur die Leute um ihn herum, mich eingeschlossen. Er ging einfach davon aus, dass alles Nötige getan würde – und das wurde es auch. Einmal, mit dem Chicago Symphony, hat er sich einfach nicht vor die Partitur gesetzt. Ich hatte die Notenwarte seit 5 Uhr nachmittags auf Abruf gehalten und bekam die Partitur schließlich um 2 oder 3 Uhr morgens. Zur Probe war dann alles fertig, aber sie waren die ganze Nacht beschäftigt. Das war nicht sehr nett, aber er wollte nicht absichtlich gemein sein.

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Dmitri Schostakowitsch, Sinfonie No. 1 in f-Moll Op. 10; Leonard Bernstein (Dirigent), Chicago Symphony Orchestra, Juni 1988

Oft braucht es von den Menschen hinter den Kulissen sehr viel hektisches Treiben, um die Spontaneität aufrechtzuerhalten, die viele Dirigenten so schätzen.

Ja, aber Lenny war sehr diszipliniert, wirklich. Er hat härter gearbeitet als die meisten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe.

Ist es schwer, als Komponist in so einer engen Beziehung zu einem großen Komponisten zu stehen?

Er mochte meine Musik, unterstützte sie und ermutigte mich. Er hat mich dazu gebracht, die Art von Musik zu schreiben, die ich schreibe. Als ich ihn kennenlernte, zeigte ich ihm etwas von meiner Musik, schöne, tonale Musik, wie ich sie heute schreibe und ein großes Orchesterstück, das auf Stockhausen basierte. Er sagt: ›Weißt du, es gibt hier eine echte, ehrliche Stimme. Sagst du mir, welche?‹ Worauf ich antwortete, es sei das tonale Stück. Er meinte: ›Dann ist es das, wovon du beim Schreiben ausgehen solltest: Du schreibst aus dem Herzen.‹ Er erklärte mir auch sein eigenes Dilemma: Er schrieb tonale Musik, die nie sehr modern war. In akademischen Kreisen wurde er nie ernstgenommen, obwohl er als Komponist ernstgenommen werden wollte. Jetzt wird er das.

Bernstein dirigiert die New York City Symphony, 1945 • Foto Courtesy of Amberson Enterprises, Inc. © Library of Congress, Musikabteilung
Bernstein dirigiert die New York City Symphony, 1945 • Foto Courtesy of Amberson Enterprises, Inc. © Library of Congress, Musikabteilung

Nimmt die akademische Welt ihn jetzt ernst?

Ich glaube, dass die Tatsache, dass Komponisten heute, auch in akademischen Kontexten und an Universitäten, in einer Vielzahl von Stilen schreiben können, der Bernstein-Effekt ist. Komponisten können sich jetzt jeder Art von Form oder Genre bedienen, es muss nicht strikt zwölftönig oder nach Boulez’ System laufen. Deswegen denke ich, dass sein Einfluss ernstgenommen wird. Und es gibt heute sehr viele Dissertationen über seine Musik.

Über alternative Fakten, durchgearbeitete Nächte, tonale Musik und die Berliner Mauer. Craig Urquhart über Leonard Bernstein, seinen Chef und Mentoren in @vanmusik.

Ist die Era der großen, Bernstein-mäßigen Maestros passé?

Ich glaube, die Welt ist heute ganz anders als damals. Diese Zeiten sind vorbei.

Das heißt nicht, dass es nicht auch unter den jüngeren Maestros großartige gibt; aber der Umgang mit ihnen hat sich verändert. Die Plattenfirmen sind nicht mehr so erfolgreich wie damals, der Markt ist gesättigt. Die Leute kaufen diesen Kram

[er zeigt auf eine große Bernstein-Box auf dem Beistelltisch] nicht mehr, weil alles online passiert. Das ist schon in Ordnung – Musik ist auf eine Art sehr viel einfacher zugänglich, davon bin ich ein großer Fan.

Ich denke auch, dass die Kultur sich verändert hat. Ich wuchs in den 50ern und 60ern in den Staaten auf, da hatten wir so etwas, das ›Kunst- und Musikerziehung‹ hieß. Musikalische und künstlerische Bildung galt als etwas Gutes, Bildung hatte einen Stellenwert. Jetzt haben wir eine Situation in den Vereinigten Staaten, in der Bildung schlechtgeredet wird, genau wie die Gerichte, die Justiz, und sie nehmen den Künsten sämtliche Mittel. Schon seit zwei Generationen wird da mehr und mehr weggekürzt. Das Resultat sind ziemlich ungebildete Generationen, die nicht mal mehr wissen, wer Beethoven ist. Das wird tragische Folgen für die Menschheit haben. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.

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