Auf dem Esstisch in Kaija Saariahos Wohn-Esszimmer in der ersten Etage ihres Pariser Hauses stehen drei Blumensträuße. Blumen, die sie für die drei vergangenen Aufführungen ihres Opern-Zweiteilers Only the Sound Remains, zwei Parabeln aus dem Nō-Theater, inszeniert von Peter Sellars, bekommen hat. Die dritte Aufführung fand am Vorabend unseres Treffens in Paris statt.Nach jeder Vorstellung kommt Kaija Saariaho auf die Bühne. Obwohl die zarte zurückhaltende Dame mit den rötlichen Locken ganz und gar nicht den Anschein macht, in der Menge baden zu wollen. Es ist ein höfliches Dankeschön für die Gunst des Publikums in Paris. Und für die Musiker. Das Vokalquartett Theatre of Voices, das finnische Streichquartett Meta4 und Perkussionist Heikki Parviainen – sie arbeiten erstmals zusammen. Die Solisten sind gesetzt: Countertenor Philippe Jaroussky, Bariton Davóne Tines, dazu die Tänzerin Nora Kimball-Mentzos. Eija Kankaanranta mit sechs unterschiedlich gestimmten finnischen Zitherinstrumenten und Camilla Hoitenga mit Bass- bis Piccoloflöte sind bis jetzt immer dabei gewesen.
VAN: In ihren Werken spielt immer wieder das Licht eine Rolle: In Lichtbogen, Changing Light, Notes on Light, Laterna Magica oder in Light still and moving, einer Kammermusik für Flöte und Kantele, die Sie für die beiden Musikerinnen der aktuellen Produktion aus Only the Sound Remains kurz nach der Uraufführung extrahiert haben. Was bedeutet Licht für Sie persönlich? Ist Licht eine Idée fixe?
Es ist nicht wirklich eine Idée fixe. Es ist eher eine Art, wie ich Musik imaginiere. Ich stelle mir eine Komposition wie Wirkungsgrade des Lichts vor. Das ist sehr intuitiv. Deshalb scheint es für mich ganz normal, dass sich meine Lichtwahrnehmung in der klingenden Welt auch in meinen Titeln wiederfindet.
Hat das mit einer spirituellen Qualität zu tun?
Nein, nicht speziell. Auch wenn ich glaube, dass meine Annäherung an das Licht für meine Musik vielleicht in dem Sinne spirituell ist, als dass ich versuche, … wie sagt man, versuche, dem Akt des Komponierens eine tiefgehende Bedeutung beizumessen. Aber das ist nicht religiös. Das dürfen Sie jetzt nicht verwechseln. Spirituell ist menschlich gesprochen etwas Ernsthaftes und Tiefgehendes, aber nichts Religiöses.
Das heißt, Sie versuchen, die Klänge mit allen Möglichkeiten der musikalischen Konstruktion leuchten zu lassen?
Nein, es ist eher so, dass da, wenn ich mir Musik vorstelle, noch bevor ich anfange zu arbeiten und zu schreiben, schon etwas ist, ein Gefüge aus Licht, in verschiedenen Lichtgraden. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen das beschreiben soll. Zuerst gibt es eine Vorstellung. Und dann eine imaginäre Konstruktion. Und dann gibt es die Komposition. Natürlich gibt es dann auch eine Recherche, um das, was ich mir vorstelle, zu realisieren. Aber es sind keine Metaphern, und vor allem ist es kein intellektuelles Spiel für mich.
Ton und Licht haben also materiell gesprochen für Sie eine Ähnlichkeit?
Ja, das haben sie. Aber intuitiv…
Sie haben mal den Wunsch ausgesprochen, eine Oper ganz abstrakt über das Licht zu komponieren. Sind Sie dem mit Ihrem aktuellen Werk ein bisschen nähergekommen?
Um ehrlich zu sein, war das meine allererste Idee, als ich meine erste Oper schreiben wollte. Abstrakt, ohne Geschichte, nur Poesie. Vielleicht werde ich zu der Idee zurückkehren, aber im Moment weiß ich es nicht.
Kaija Saariaho, La Passion de Simone (Auszug); Dawn Upshaw (Sopran), Dominique Blanc (Sprecherin), Esa-Pekka Salonen (Dirigent), Tapiola Chamber Choir, Finnish Radio Symphony Orchestra
In Ihren vorherigen Opern ging es um eine Fernliebe (in L’amour de loin), die Mutter (in Adriana Mater), den Kreuzweg (in La Passion de Simone) und jetzt in Only the Sound Remains um zwei Geister, männlich und weiblich. Gibt es da einen roten Faden? Oder steht jede Oper für sich?
Ja, es gibt einen roten Faden. Wenn ich eine Oper schreibe, suche ich jedes Mal ein Thema, das mich ganz tief in mir beschäftigt. Und wo es eine Möglichkeit gibt, mich mit meiner Musik diesem Thema zu nähern. Musik ist ja mehr als Reden. Wenn wir von Liebe und Tod reden, wie in L’amour de loin, dann sind das zwei Themen, die alle angehen. Und dennoch ist es ein großes Mysterium. Wir meinen, die Liebe zu kennen und auch den Tod, aber kennen sie eigentlich doch nicht. Das merken wir immer, wenn wir anfangen darüber zu reden. Musik versucht weiter zu gehen als die Worte. Wir können durch Musik mit unserem Herz reagieren und mit allen Sinnen ohne zu verstehen. In Adriana Mater wird über Mutterschaft geredet, aber auch über Gewalt. Und wie Gewalt uns verändert. Das war für mich auch eine Möglichkeit, mit Musik weiter zu gehen als mit Worten. In La Passion de Simone geht es um Empathie und Menschlichkeit, um unsere Aufgaben den anderen gegenüber. Only the Sound Remains handelt von einer imaginären Kommunikation zwischen Menschen und Geistern. In diesen japanischen Nō-Geschichten gibt es so viele Möglichkeiten der Interpretationen. Jeder kann seine eigene finden.
Wie haben diese beiden Geschichten den Weg zu Ihnen gefunden?
Ich hatte schon ein Stück zu einem Text von Ezra Pound geschrieben. Ich liebe seine Sprache. Mit Peter Sellars habe ich nach einem Text für ein neues gemeinsames Projekt gesucht. Peter Sellars kannte die beiden Nō-Stücke. Ezra Pound hat sie ins Englische übertragen, als er noch jung war. Auch hier gefiel mir die Sprache und die Reichhaltigkeit dieser Texte, die nicht lang sind. Ich habe sie nicht dramatisiert, sondern nur ein bisschen gekürzt, wo es für mich nötig war. Schon allein in der japanischen Sprache und noch mehr in diesen Geschichten gibt es so viele Metaphern, die sich auf das Sein beziehen, auf die Natur oder Dinge, die auch musikalisch von Interesse sind.
Philippe Jaroussky und Davóne Tines in Only the Sound Remains in Amsterdam (2016)
Es wird viel von Wahrnehmung gesprochen, vom Riechen, vom Musikhören, vom Sehen und Nicht-Sehen, aber Hören. Hat auch das Sie inspiriert?
Ja, sehr. Es wird von allen Sinnen gesprochen. Gerüche sind natürlich sehr nah dran an dem, was Musik ist.
Ging es Ihnen auch darum, dass das Publikum über Ihre Musik an diesen Wahrnehmungen teilhaben soll?
Auf irgendeine Weise schon. Das ist für mich auch keine befremdliche Idee, mir vorzustellen, dass Musik einen Geruch hat …
… und Farben. Es gibt ja auch Menschen, die Farben sehen…
Natürlich, jeder hat seine Art der Wahrnehmung…
… Sie hören Farben?
Ja, in bestimmten Zusammenhängen stelle ich mir beim Hören Farben vor.
Die Kantele ist ein typisch finnisches Instrument. Warum diese Farbe in der neuen Oper? Nostalgie?
Nein, ganz und gar nicht. Ich wollte schon seit Jahren etwas für Kantele schreiben. Das ist ein sehr populäres Instrument. Jetzt ist es auch ein Instrument für die Neue Musik. Ich weiß nicht, ob sie Eija Kankaanranta gesehen haben. Sie spielt sechs verschiedene Kanteles, die wir auch unterschiedlich gestimmt haben, die Saiten sind unterschiedlich dünn oder schwer. Es gibt immer andere Klänge. Es gibt inzwischen auch eine moderne Kantele mit einem Hebel wie das Pedal bei der Harfe. Es ist ein Instrument mit vielen Klängen, und man kann damit viele Farben finden. In dem ersten Stück Tsunemasa geht es ja um ein magisches Instrument. Die Kantele kann dieses Instrument sein.
Sie komponieren meistens für bestimmte Musiker, vor allem Sänger. Haben Sie auch für die Sänger der aktuellen Produktion eine Besetzung im Kopf gehabt?
Natürlich! Das sind zwei Rollen, die exakt mit den Stimmen besetzt werden müssen, die ich mir vorgestellt habe. Philippe Jaroussky bewundere ich schon lange. Ich dachte zuerst, es würde ihn vielleicht nicht interessieren. Aber er ist sehr offen, neugierig. Und er ist genial. Es ist toll, mit ihm zu arbeiten.
Und der Bariton Davóne Tines ist ein enormes Stimmtalent. Ich habe ihn vor vier Jahren in New York erlebt, als er noch an der Juilliard School studiert hat. Es ist wunderbar zu sehen, wie er als Künstler wächst.

Alle Musiker sind von mir vorgeschlagen worden. Sie alle kennen meine Musik gut und ich verbinden mit jedem eine persönliche Geschichte. Sie haben hier in Paris zum ersten Mal zusammengearbeitet. Und es ist unglaublich, wie alles viel detaillierter klingt als bei den Aufführungen davor. Ich will auch, dass diese Opern-Tournee ab jetzt mit diesen Musikern weitergeht.
Peter Sellars ist seit über 20 Jahren Teil Ihres Opernschaffens. Warum ist er so wichtig für Sie?
Seine Sicht auf die Oper war enorm wichtig für mich, als ich mir vornahm, eine Oper zu schreiben, damals noch als junge Komponistin in Finnland. Dort habe ich nicht viele Opernaufführungen erleben können. Und wenn, dann waren es in den 1960ern und 70ern sehr langweilige Inszenierungen. Also war meine Definition von Oper reduziert darauf, dass sie etwas Verstaubtes aus der Vergangenheit sei. Oper hat mich nicht interessiert. Als ich nach Paris kam, sah ich natürlich viele verschiedene Opern und interessante Produktionen, 1989 dann Peter Sellars Don Giovanni. Das hat mich komplett umgehauen. Peter ist für mich kein Rebell oder so. Aber ich erlebte jemanden, der versucht, seine Sicht auf die Dinge und das Werk zu kommunizieren. Das Leben um ihn herum interessiert ihn, soziale Probleme betreffen ihn. Er muss die Welt gar nicht schockieren und möchte auch kein schockierendes Wesen sein. Aber Mozart zum Beispiel bringt er auf unsere Höhe. So habe ich 1989 verstanden, dass Oper etwas Anderes sein könnte. Ich definierte Oper als elitär, oberflächlich, und verstand, dass sie etwas Tiefgehendes sein könnte, ein Treffpunkt für alle Künstler, wenn alles gut geht. Das Aufeinandertreffen der Künste kann dann etwas sehr Aktuelles erschaffen. Oper muss nicht verstaubt sein. Ich begann mich für die Oper zu interessieren. Als ich mit L’amour de loin angefangen habe, wollte ich, dass Peter Sellars dabei ist.
Kannte er Sie überhaupt schon? Hatte er Lust, mit einer eher unbekannten Komponistin zusammenzuarbeiten?
Er kannte meine Musik. Wir hatten uns in Los Angeles kennengelernt. Aber er wollte nicht. Das war aber nicht die Frage, ob ich bekannt bin oder nicht. Er meinte, zu einer Geschichte über den französischen Troubadour Jaufré Rudel aus dem 12. Jahrhundert hätte er nichts zu sagen. Erst später wollte er sich diesem Projekt anschließen.
Und hat dann bei ihrer ersten Oper Regie geführt, wie bei der aktuellen, sehr ästhetischen Produktion. Mit Licht, Schatten, kalligraphisch gestaltetem Bühnenbild und gestisch-schöngeistigem Tanz. Wo werden da die menschlichen Konflikte ausgetragen?
Es wird noch andere Inszenierungen von Only the Sound Remains geben. Es gibt inzwischen mehr als 10 verschiedene Produktionen von L’amour de loin. Auf die Regie habe ich keinen Einfluss. Und jemand wie Peter macht was er will, ihn interessieren die Meinungen anderer gar nicht. In diesem Sinn ist es keine Kollaboration. Die besteht daraus, das jeder sein Metier einbringt. Ich sage zu Peter nicht: ›Hör mal, das finde ich nicht gut. Das müsste anders sein.‹ Vielleicht würde er es sogar anders machen. Aber er macht es so, wie es ihm zu dieser Musik einfällt.
Sie begrüßen also verschiedene Umsetzungen?
Ja. Natürlich bin ich jetzt an diese Umsetzung gewöhnt. Das heißt aber nicht, dass ich alles mag, was ich sehe und was er mit meiner Musik macht. Aber ich bin Komponistin und die Regisseure sind professionelle Regisseure. Natürlich könnte ich mich einmischen. Aber Musik muss offen bleiben, um unterschiedlich interpretiert zu werden! Das ist doch die Kraft eines Werks! ¶