Wenn in den letzten Jahren Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk geübt wurde, ging es zum Beispiel um Parallelstrukturen bei Fernsehprogrammen und Hörfunkwellen, zu hohe Intendant:innengehälter und Pensionsansprüche, teure Sportübertragungen, zu wenig Meinungsvielfalt, mangelnde Staatsferne, Korruption und Vetternwirtschaft, die Selbstbedienungsmentalität und eine zweifelhafte inhaltliche Qualität des Programms – schlechte Shows, schlechte Serien, schlechte Filme. 

Worum es eher nicht ging: die Orchester, Chöre und Big Bands der Sender. Das liegt vermutlich nicht daran, dass eine Kritik an den Klangkörpern ein »Tabuthema« oder deren Existenz unbekannt wären. Wahrscheinlicher ist, dass selbst vielen Kritiker:innen des öffentlich-rechtliche Rundfunks andere Punkte wichtiger sind, oder dass es einen breiten Konsens darüber gibt, dass die Arbeit der Ensembles gut und wichtig ist und zum »Rundfunkauftrag« gehört. 

Es ist daher unaufrichtig, wenn der ARD-Vorsitzende und WDR-Intendant Tom Buhrow seine ›privaten Gedankenspiele‹ über die Rundfunkensembles hinter einem vermeintlichen Wunsch der Beitragszahler versteckt: »Wollen die Beitragszahler die insgesamt 16 Ensembles: Orchester, Big Bands, Chöre, die die ARD derzeit unterhalten?«, fragte er letzte Woche in seiner Rede vor dem Hamburger Übersee-Club, nur um die Antwort rhetorisch schon vorwegzunehmen: 2.000 Menschen, alle fest angestellt, und das obwohl es in Deutschland ja schon mehr als 120 Berufsorchester gibt, wer will denn sowas?

Damit lieferte er eine Argumentationshilfe frei Haus für all jene, die nur auf eine weitere günstige Gelegenheit warten, die Axt ans ganze System zu legen. Und die Geister, die er rief, ließen nicht lange auf sich warten, namentlich in Gestalt der Springer-Presse: 

Die Gebührenzahler finanzieren bei der #ARD übrigens auch 16 Ensembles: Orchester, Big Bands, Chöre. ›Etwa 2.000 Menschen, fast alle fest angestellt‹, gibt ARD-Chef Buhrow zu. Höchste Zeit für eine Radikal-Reform (die jetzt offenbar auch Buhrow will)!

twitterte Bild-Redakteur Jan Schäfer, ganz so, als sei die Existenz der rundfunkeigenen Klangkörper ein dunkles Geheimnis, das nun aufgedeckt wurde. Und die Bild-Zeitung fragte ihre Leser:innen: »Die ARD leistet sich insgesamt 16 Orchester, Chöre, Big Bands etc. mit insgesamt rund 2.000 Mitarbeitern. Sollen die erhalten bleiben?« Zwischenstand nach 79.829 Teilnehmer:innen: Für 7 Prozent lautet die Antwort »Ja«, für 38 Prozent »langt auch die Hälfte«, 56 Prozent wollen »alles abschaffen«. Mit Buhrows Hilfe standen die 16 Rundfunkensembles plötzlich in einer Reihe mit Patricia Schlesingers Massagesitzen: Symbole öffentlich-rechtlicher Verschwendungssucht.

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Dass der eigene Intendant die Orchester »der Bild zum Fraß vorwirft«, wie es ein WDR-Orchestermusiker VAN gegenüber ausdrückte, hat viele erzürnt, aber wenige überrascht. Die Orchester kämpfen schon lange weniger gegen Kritik aus der Öffentlichkeit als gegen die aus den eigenen Reihen. Buhrow versucht, »dem Beitragszahler« einen Wunsch in die Schuhe zu schieben, der tatsächlich wohl vor allem in den Sendern selbst, insbesondere beim dortigen Leitungspersonal, floriert. 

Dort können viele mit den Orchestern und deren »Produkt« wenig anfangen: zu teuer, zu wenig Reichweite, zu voraussetzungsreich, zu wenig crossmedial. Die Orchester wirken bisweilen wie Fremdkörper im eigenen Haus. Insbesondere beim WDR beschweren sich viele Orchestermusiker:innen schon länger über mangelndes Commitment und fehlende Anerkennung: Das Marketing für das Orchester sei zu altbacken und zu wenig sichtbar, die ersten Livestreams, die der Sender vor ein paar Jahren mit dem Orchester produzierte, seien so schlecht gewesen, »dass sie den Ruf des Orchesters beschädigt haben«, und als der neue Chefdirigent Cristian Măcelaru mit Intendant Tom Buhrow sprechen wollte, sei ihm ein Termin in einem halben Jahr angeboten worden.

Die Skepsis des Leitungspersonals gegenüber allem, »was nach klassischer Kulturdisziplin aussieht«, wie es letztes Jahr eine WDR 3-Mitarbeiterin ausdrückte, betrifft nicht nur die Klangkörper, sondern auch die Kulturradios. Deren Programm ist in den letzten Jahren systematisch verflacht worden, um sogenannte »Wechselhörer« zu gewinnen. Das Mantra »mehr Reichweite« ist dabei zu einer Art Selbstzweck geworden, der jede inhaltliche Debatte ersetzt. (Ein paar Schatzinseln im Programm gibt es trotzdem noch.) Derweil fungiert das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Bereich der klassischen Musik ohnehin schon längst nicht mehr als Korrektiv des Marktes, sondern als verlängerte Werkbank für die PR-Abteilungen der Major Labels. 

Dass Buhrow vor zwei Wochen in seinem Grußwort zum 75-jährigen Jubiläum des Orchesters den Wunsch ausdrückt, »dass das großartige WDR Sinfonieorchester auch den nächsten Generationen die gesellschaftliche Bedeutung der Musikkultur vermittelt«, wirkt im Rückblick wie ein Bluff. Denn bei der von ihm selbst angeregten »Best-of-Lösung« – »das beste Sinfonieorchester, den besten Chor, die beste Big Band, das beste Funkhausorchester« anstelle von 16 Ensembles – bliebe womöglich gerade das Sinfonieorchester seiner eigenen Sendeanstalt auf der Strecke: Der BR hat sein Orchester stets besser ausgestattet, sowohl finanziell aus auch aufmerksamkeitsöknomisch, und kämpft mit dem designierten Chefdirigenten Simon Rattle für ein eigenes Konzerthaus, das NDR Elbphilharmonie Orchester residiert bereits in einem internationalen Kulturleuchtturm, beim SWR wurden gerade erst zwei Orchester fusioniert, und beim WDR gibt es neben dem Sinfonie- auch noch das Funkhausorchester. Wer Streichkandidaten sucht, würde hier womöglich am ehesten fündig.

Eine Diskussion darüber, welches Profil die Rundfunkorchester – nach dem weitgehend verloren gegangenen Gründungsauftrag –  entwickeln sollten, ist notwendig: Programmatisch haben sie sich den öffentlich finanzierten Konzertorchestern immer mehr angenähert. Unterscheidungsmerkmale gibt es kaum noch. Zeitgenössische Musik wird in der Außenkommunikation der Orchester und den Programmen der Sender zu oft verschämt versteckt. Im Bereich der Musikvermittlung müssten die Rundfunkensembles eigentlich eine Vorreiterrolle einnehmen, bleiben aber sowohl quantitativ als auch qualitativ unter ihren Möglichkeiten. Der Auftrag, mit »niedrigschwelligen Angeboten« vor allem auch im Sendegebiet sichtbar zu sein, beißt sich mit dem Selbstverständnis einiger Orchestermusiker:innen, zur Weltspitze zu gehören und international in den größten Sälen zu gastieren.

Die Mühen einer solchen Debatte kann man sich aber sparen, wenn die Senderleitung selbst gar kein Interesse an einer inhaltlichen Legitimation ihrer Klangkörper hat. Wenn die Möglichkeit des Kahlschlags einmal im Raum steht, wirkt jedes inhaltliche Argument dagegen lediglich wie veränderungsresistente Besitzstandswahrung. Der Kritik, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinem Kulturauftrag nicht mehr gerecht werde, begegnet Buhrow mit dem Vorschlag, Kultur weiter zu kürzen. Überhaupt scheint er immer nur an »Was kann weg?« zu denken, statt an »Was muss besser?«. 

Dabei fällt auf, was er in seiner plötzlich entdeckten Rolle des Tabubrechers und der Tabula-rasa-Geste alles nicht auf den Tisch bringt: die 214 Millionen Euro für die Rechte an der Fussball-WM in Katar zum Beispiel, die fast 2 Millionen Euro pro Folge für den ›Usedom-Krimi‹ am Donnerstag oder ›Die Eifelpraxis‹ am Freitag, all die verkitschten Vorabendserien und hanebüchen schlechten (und teuren) Unterhaltungsformate. Stattdessen beklagt er sich darüber, dass »die Dokumentarfilmer mehr Dokumentarfilme, die Kulturlobby mehr Kultur, die Nachrichtenjournalisten mehr Nachrichten« wollten, also alles Dinge, die den Kern des öffentlich-rechtlichen Programm- und Kulturauftrags eigentlich ausmachen sollten.

Wenn man sich mit der »Kulturlobby« anlege, jammert Buhrow, werde man als »Kultur-Banause oder sogar Kultur-Vernichter dargestellt«. Nur weil man einen Vorwurf gegen sich kommunikativ vorwegnimmt, muss er nicht falsch sein. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

2 Antworten auf “Wie die Axt im Walde“

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