Um es gleich zu sagen: Ich schreibe direkt aus der Fankurve heraus. Oft habe ich ihm zugehört, in den letzten dreißig Jahren sehr viel öfter als anderen Pianisten oder Dirigenten, ob Bach oder Liszt, Mahler oder Schönberg. Hauptgrund dafür war die Neugierde, man könnte sie »professionell« nennen, aber auch andersherum darin eher eine déformation professionnelle diagnostizieren. Denn warum schlafen Musikkritiker in Konzerten so gern ein? Weil sie es hassen, sich weiterhin zu langweilen. Bei Daniel Barenboim jedoch ist immer was los. Immer Bewegung und Leben drin. Er denkt schnell, oft zu schnell, manchmal um drei Ecken herum. Er hat so viel kreative Energie, dass man aus ihm locker zwei Barenboims machen könnte. Er ist deshalb allezeit für Überraschungen gut, im Guten wie im Bösen. Ich habe also schon viele, viele Barenboim-Rezensionen verfasst, zweifelnde und hingerissene, auch unzählige Interviews mit ihm geführt, kurze, zwischen Tür und Angel, und stundenlange, in Zigarrenqualm gehüllte. Mehr als einmal begrüßte er mich mit mildem Spott: »Ach, Sie schon wieder!« 

Dabei diskutiert er eigentlich ganz gerne mit Journalisten. Manchmal empfängt er sie gleich gruppenweise. Streitet mit ihnen, seift sie höflich ein, stellt plötzlich ernst gemeinte Rückfragen, hat offenkundig Spaß dabei. Auch darin unterscheidet er sich von anderen Musikern. Eines dieser Interviews fand statt in Weimar, in jenem Sommer, als Barenboim erstmals in Bayreuth fehlte, um stattdessen im Musikgymnasium auf Schloss Belvedere, frontal gegenüber vom Ettersberg, wo das Lager Buchenwald liegt, einen Brahms-Beethoven-Workshop zu veranstalten für achtzig junge Musiker aus Tel Aviv, Beirut, Jerusalem, Kairo und Damaskus. Daraus wurde später, wie zunächst noch nicht absehbar, die Erfolgsgeschichte des West-Eastern-Divan-Orchesters, die ihre Fortsetzung fand in der Erfolgsgeschichte der Berliner Barenboim-Said-Akademie samt Boulez-Saal und Musikkindergarten. Zuerst taten sich jedoch abenteuerliche Abgründe auf, vor allem musikalischer Art. Grundlagen fehlten. Barenboim,  versunken in blutigem Probenchaos, erklärte unwirsch: »Politik interessiert uns hier überhaupt nicht.« Fügte dann aber hinzu: »Wenn die Politik uns folgt, umso besser. Wenn die Verhandlungen in Camp David scheitern, haben wir hier zwei Wochen lang eine unglaubliche Utopie erlebt.«

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Kurz darauf feierte Daniel Barenboim sein fünfzigstes Bühnenjubiläum. Die Welt war soweit noch ganz in Ordnung. Die Twin Towers standen. Twitter war noch nicht erfunden. Es gab weder Facebook noch Spotify, und bei den Festspielen in Bayreuth wurde in diesem Jahr, weil, wie gesagt, Barenboim fehlte, die bewährte Meistersinger-Lesart des amtierenden Prinzipals Wolfgang Wagner vom jungen Christian Thielemann dirigiert. 

Auch die Teldec gab es damals noch, Barenboims Plattenfirma. Sie spendierte ihrem besten Pferd im Stall eine aufwändige Jubiläums-CD »not for sale«. Enthaltend, nebst Auszügen aus aktuellen Barenboim-Alben (Meistersinger natürlich, dann Beethovens Fünfte sowie eine Duke-Ellington-Hommage) drei verschiedene Interviews in den Sprachen Deutsch, Englisch und Spanisch. Er hätte auch auf Französisch, Russisch oder Hebräisch Interviews geben können. Barenboim besitzt vier Pässe. Er spricht neun Sprachen. Und hat das Fürchten nie gelernt. Keine Blockaden, kein Lampenfieber. Keine Versagensangst. Keine Angst vor den Leuten.

Schon an seinem ersten öffentlichen Auftritt, als Wunderkind in Buenos Aires, hatte er nichts als Freude: »I loved going on stage and I still do. You know, these are really my happiest moments when I know I can play and I can go on stage, and it was exactly like that already in 1950.« Siebeneinhalb Jahre alt war er bei diesem Debut. Beide Eltern Klavierlehrer. Was spielt so ein Kind? Natürlich ein reines Beethovenprogramm. Danach sieben Zugaben, das war’s. Er sei dann aber noch einmal hinausgegangen auf die Bühne, um sich beim Publikum zu entschuldigen. Leider müsse er aufhören, denn er habe nun alles gespielt, was er gelernt habe: »I played all I know.« Als er noch kleiner war, ein Baby, habe er selbstverständlich angenommen, alle Menschen auf der Welt spielten Klavier, denn jeder, der zur Tür reinkam, tat es.

Als er zehn Jahre alt war, siedelte die Familie nach Tel Aviv über. Mit zwölf ging er nach Salzburg, studierte Klavier bei Edwin Fischer und Dirigieren bei Igor Markevitch, mit dreizehn machte er sein Diplom, Kontrapunkt und Harmonielehre lernte er bei Nadia Boulanger in Paris.

Daniel Barenboim, 1958 · Foto: Hurok Attractions PR agency (Public Domain)

Als er Wilhelm Furtwängler vorspielte, nannte der ihn »ein Phänomen«. Er konzertierte mit Barbirolli, mit Klemperer. Ein Überflieger. Die Stationen dieser Blitzkarriere, zunächst nur als Pianist, dann, in den Sechzigern, auch als Dirigent, kann man überall nachlesen, sie muten an wie ein Märchen, aus unerreichbar alten Zeiten. 1967 und 1971, da war er Mitte zwanzig, nahm er, als dirigierender Pianist, gemeinsam mit dem English Chamber Orchestra, sämtliche Klavierkonzerte von Mozart auf, melodienselig, durchhörbar und zugleich unerhört dynamisch. Die Box hüten wir daheim wie ein Familienerbe; dabei steht diese Einspielung, mehrfach wieder aufgelegt, bis heute im Katalog, man könnte sie jederzeit als CD neu erwerben, sie gilt unter Mozartmenschen immer noch als Referenzaufnahme. Nicht mal die feinsinnigsten  Hammerflügelexperten haben sie von diesem Rang  herunterschubsen können.

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Für die historische Aufführungspraxis hat sich Barenboim nie wirklich interessiert: Er sei ein Musiker von heute und spiele für Menschen von heute. In gewisser Weise hat ihm die Geschichte inzwischen Recht gegeben, denn die starren Fronten aus den Siebzigern und Achtzigern haben sich aufgelöst, die Interpretationsschulen existieren friedlich nebeneinander, ob romantische oder historisch-informierte Lesart, beides möglich. Außerdem kümmert sich Barenboim durchaus um die Erschließung neuen Repertoires, nur hat er dabei seinen eigenen Kopf. Die ideologisch verbrämte Wiedergutmachungs-Mahler-Mode zum Beispiel, die im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts die großen Symphonieorchester erfasste, hat er lange ignoriert, sich dann aber schließlich doch mächtig hineingearbeitet in die Materie, erst mit dem Chicago Symphony Orchestra, dann mit der Berliner Staatskapelle. 2007 gipfelte das in einer denkwürdigen Aufführungsserie, in der er abwechselnd mit seinem Freund Pierre Boulez mit der Berliner Staatskapelle sämtliche Mahlersymphonien aufführte, in strukturfein austarierter, klangintensiver und entkitschter Lesart.

Nie vergessen werde ich die Intensität des traumverhangenen Tristan, den er in Bayreuth dirigierte, als Heiner Müller dort inszenierte. Niemals seine Darbietung von Derive 2 von Freund Boulez, mit den Divan-Musikern. Und nie die Uraufführung von What Next, von Elliott Carter, an der Lindenoper. 

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In der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts hat dieser Dirigent ebenso viele Lieblingskomponisten wie in der des neunzehnten. Er kämpft für den Nachwuchs, aber auch gegen den Routinetrott, gegen die Dummheit in der Musik, aber auch gegen die Dummheit anderswo. Unvergesslich, wie er die Staatskapelle aufgemöbelt und sich für die historisch gewachsene Opernlandschaft der Stadt eingesetzt hat. Sie sähe heute anders aus, wäre Barenboim damals nicht stur wie ein Kampfstier gegen die Fusions- und Abschaffungspläne angerannt. Die berühmten »drei Millionen!« Ja, Daniel Barenboim ist eine Kämpfernatur – aber kein Dogmatiker. Das mag ich besonders. Nicht zuletzt damit hat er sich freilich auch einige treue Feinde gemacht. 

Stets hat Barenboim auf mehreren Musikbaustellen parallel agiert, in Paris und Chicago oder in Mailand und Berlin. Er repräsentiert, in der kleinen Welt der Klassik, eine gewisse Macht. Hat sich im Lauf der Jahre auch ein Team von Troubleshootern zugelegt, die aufpassen, dass er in seiner unbändigen Arbeitswut nicht untergeht: eine Art Schutzwall, ein Sicherheitsnetz für die »Firma« Barenboim – wozu auch die Familie, die Freunde gehören. 

Als Daniel Barenboim sich neulich, mitten im neuen Lindenopern-Ring, den er aus Krankheitsgründen nicht selbst dirigieren konnte, zwischen Walküre und Siegfried plötzlich zu Wort meldete, mit einer persönlichen Erklärung, um in »einer Mischung aus Zuversicht und Traurigkeit« mitzuteilen, dass er sich künftig von einigen Auftritten, »inbesondere von Dirigaten« zurückziehen werde, war das ein Schock. Einige der Berichte darüber und über mögliche Nachfolger kommen mir fast vor wie ein verfrühter Nachruf. Hoffentlich ist nicht auch diese sehr persönliche Lobhudelei davon angekränkelt. Eine neurologische Erkrankung wie Vaskulitis ist schließlich heilbar. Achtzig ist das neue Sechzig. Gesundwerden, rausgehen, weiterspielen. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.