Mit Dirigentenkarrieren ist es ein bisschen wie mit Führerscheinen im Autowahnland Germanien: Ist die Lizenz erst da, gilt sie ohne weitere Überprüfung bis zum jüngsten Tag; gegebenenfalls hofft man auf Einsicht, und unter kritischen Umständen kann man von Glück sagen, wenn lediglich Blechschaden eintritt. Für junge Dirigenten ist es oft schwieriger. Da kann es passieren, dass nach einem schwierigen Konzert als kurzfristiger Einspringer eine schnell dahingeschriebene Konzertkritik in der Suchmaschine monatelang ganz oben erscheint; und wenn der Artikel sich dann noch hinter Bezahlschranke verbirgt (auch der Kritiker will ja von was leben) und vor ebenjener Schranke eine ruchlose Überschriftenredaktion ihres Amtes gewaltet hat, dann kann es einem auch mal ergehen wie dem 30-jährigen lettischen Dirigenten Aivis Greters, über den man bei Google sogleich auf den Satz stößt: »Ersatzdirigent lässt Klangbalance außer Kontrolle geraten«.

Dabei ist Aivis Greters ein vorzüglicher Dirigent, wie nun in der Berliner Philharmonie mit dem sorgsam balancierten und gutkollegial kontrollierten Deutschen Symphonie-Orchester zu hören war.

Jenseits des inneren Kreises der Klassikinteressierten (wo man weiß, dass das einstige »RIAS-Symphonieorchester« eins der besten deutschen Ensembles ist) hat das DSO in dieser Saison viel Aufmerksamkeit erregt mit dem auch in Aufkleber- und Notizblockform erhältlichen Motto: Kein Konzert ohne Komponistin! Das ist natürlich eine verdienstvolle Sache, wenn auch rein musikalisch hin und wieder etwas feigenblättrig. Sechs Minuten dauert das einleitende Stück And A tricolour Sun Shines on Everything der 1939 geborenen Maija Einfelde: eher eine Art atmosphärischer Fanfare, Solo-Trompete über Streichern, klar bis simpel, angenehm zu hören und schnell vergessen. Etwas mehr Sperrklang, sei es in Textur oder Dauer, dürfte die Programmplanung uns schon zumuten, um das musikhistorische Patriarchat zu überwinden.

Dirigent Greters verleiht dem wohlklingenden Stück dramaturgisch durch einen gut inszenierten direkten Übergang zusätzliches Gewicht (ordnet es gleichwohl damit nochmal unter), indem er Richard Wagners Wesendonck-Lieder unmittelbar anschließt. Die für Okka von der Damerau eingesprungene Anna Kissjudit, die mich seit einiger Zeit viel mehr überzeugt als noch vor einigen Jahren (zuletzt als Ježibaba in Dvořáks Rusalka), singt die fünf Lieder hinreichend deutlich, aber viel wichtiger: ergreifend und entrückend. Halb Erda, halb Isolde entzündet sie höhere Wagnerschauer und macht dabei doch deutlich, dass der kleine Zyklus viel mehr ist als Prä-Tristan-Schwüle im Schweizer Luxus-Treibhaus, wo Wagner die Gattin seines rettenden Gönners Otto Wesendonck dreist verführte und verführerisch verkomponierte. Natürlich dringt der Tristan musikalisch wie textlich (Ende, des Wollens ew’ger Tag) aus jeder Pore. Aber im vollkommenen Erstarren in Stehe still! mag man auch an Mahlers Abschied denken, zumal der orchestrierende Felix Mottl an dieser Stelle der Flöte ein Gewicht gab, das bei Wagner selbst kaum je zu finden ist.

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Obwohl also der Orchesterklang gar nicht von Wagner ist, bringt das DSO unter Greters hier einen feinen Wagnersound hervor, etwa wenn man da delikat reinpulsiert in die Träume und schließlich irgendwo hinüber entrückt. Und sensible, höchst aufmerksame Begleitung ist das DSO zudem, sodass der ebenso verinnerlichte wie warme, mitunter glühende Gesang von Anna Kissjudit uns ungehindert in erstaunlichen Welt-Atem zu levitieren vermag.

Große Sorgfalt kennzeichnet dann auch Greters’ Bruckner-Arbeit. Während ein Christian Thielemann sogar Bruckners St. Florianer Nebenkostenabrechnung von 1859 auswendig dirigiert, legt Greters sich ordentlich die Partitur der Dritten d-Moll aufs Pult, genauer gesagt ihrer dritten und letzten Fassung von 1889: der kürzesten und meistgespielten, auch wenn der Rowohlt-Konzertführer ausgiebig mault, die zweite Fassung von 1877 sei zu bevorzugen. Aber diese heiklen Zucht- und Schnittfragen im Treibhaus von Bruckners ungeheurer Phantastik sind ein anderes Thema.

Obwohl Greters das Orchester durchaus mächtige Massen entfesseln lässt, scheint sein Bruckner nie harsch-konstruktiv, sondern hat auch bei hoher Dezibel-Umdrehung stets eine gewisse sängerische Geschmeidigkeit. Auch in Fortissimi wird (es deutete sich im Eröffnungsakkord von Wagners Wesendonck-Schmerzen schon an) nie dreingefahren, sondern immer hineingeblüht. Physische Überwältigung ohne Kantholz oder Architektur-Unerbittlichkeit. Auffällig scheinen mir immer wieder konturierte Basslinien und prägnante Gegenstimmen. Die Choral-Akkorde im Finale sind wirklich nicht verschmolzene Mehrklänge, sondern bestehen deutlich hörbar aus einzelnen Stimmen. So entsteht in dieser Bruckner-Aufführung bei mir statt der sonst obligatorischen Orgel-Assoziationen der starke Eindruck von Chorgebilden. Und tatsächlich bestätigt nachher der Blick in Greters’ Lebenslauf seine Chor-Affinität und -Erfahrung.

Aber ein guter Tänzer ist er auch. Einerseits in eleganter Fußarbeit, wie mir nach dem Konzert meine Begleiterin berichtet, die im Gegensatz zu mir beim Brucknerhören die Augen offen lässt. Andererseits auch klanglich: Das Ländlertrio im dritten Satz pendelt mit derart breitem Bratschenwitz (und Ähnliches gilt für die Polka im Finale und andere »Volkstümlichkeiten«), dass die oft erwähnte Verwandtschaft zu Gustav Mahler hier endlich mal unmittelbar einleuchtenden Hörsinn ergibt.

Wie stets weckt das so effektvolle wie irritierend komprimierte Finale der Drittfassung der Dritten Lust auf die weitschweifigeren früheren Finalfassungen. Wie viele Austriebe sind darin ratzefax abgeschnitten! Aber wie gesagt, das ist ein anderes Thema. Keinesfalls verschwiegen werden darf hier allerdings noch die sympathische Antwort, die der so unprätentiöse wie kompetente Dirigent Aivis Greters im Programmheft auf die Interviewfrage nach seinem Lieblingsklang gibt: »Stille, wenn meine Kinder schlafen.« ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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2 Kommentare

  1. Völlig d`accord mit Ihnen , Herr Selge Auch ich war hingerissen von der entrückt- singenden, gleichwohl vom pp bis zum klangvoll, Mezzosopranistin, die verdientermaßen viele Brava erhalten hat. Und bei 6 Minuten Komponistinnenmmusik, selbst wenn sie aufregender gewesen wäre, kann man von der Feigenblattassooiation sich kaum noch befreien. Da ich am Abend vorher beim blitzschnellreagierenden RSB war, auch unter der Leitung eines noch jungen, wenn auch schon etablierteren Dirigenten, kann ich die Mahlerparallele nur bestätigen – das RSB spielte die Erste- zudem beide Dirigenten im Scherzo /Respektive dem Ländler-mit B Verlaub, dem Affen wirklich Zucker gaben. Wir haben tolle Orcheter in der Stadt, ging es mir immer durch den Kopf, als ich nach Hause radelte.

    1. Lieber Herr Sindelar, das RSB-Konzert hätte ich auch gern gehört. Allein die Kombination Mahler mit Schönbergs Klavierkonzert fand ich reizvoll. Aber wie Sie schreiben: so viele tolle Orchester und überhaupt Musik in dieser Stadt – ein Jammer, dass man nicht ALLES hören kann.
      „Dem Affen Zucker“ trifft es gut, wie ich den Ländler empfand.

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