Mitten in den Trümmern von Berlin beginnt am 7. Februar 1946 der Rundfunk im amerikanischen Sektor, in der Abkürzung zuerst DIAS (Drahtfunk im amerikanischen Sektor), dann als RIAS sein Programm. Nur wenige Monate danach, am 15. November 1946 wird ein eigenes Orchester durch den RIAS gegründet.
Wo waren Sie zur Zeit der Orchestergründung?
Ich war damals ein englischer Kriegsgefangener und befand mich in dem kleinen Ort Tönning in Schleswig-Holstein. Eines Tages kam ein Mann auf einem Fahrrad vorbei gefahren, der einen Cellokasten auf dem Rücken trug. Es war ein Cellist der Berliner Philharmoniker, der anhielt und mir erklärte, dass er mit ein paar anderen Musikern zusammen spielen würde, und ich solle ihm etwas auf der Geige zeigen. Er besorgte mir ein Instrument, auf dem ich zwei Tage üben konnte, um ihm dann etwas aus Bruchs Violinkonzert und ein paar Sätze von Bach vorzuspielen. Von da an habe ich einige Monate mit ihm zusammen in kleinen Programmen in den Gemeinden und in Krankenhäusern gespielt.
Dann hatten Sie ihre Ausbildung zum Geiger schon abgeschlossen?
Studiert hatte ich das noch nicht. Ich hatte in der Schulzeit in meiner Heimatstadt Leipzig Geigenunterricht erhalten. Mein Vater fand einen Lehrer, einen Professor, der in der Hochschule nicht mehr unterrichten durfte, weil seine Frau eine Jüdin aus Odessa war. Er gab mir sogar kostenlos Stunden, weil mein Vater nicht viel Geld hatte. Und bei ihm habe ich bis zum Abitur die gesamte Literatur schon kennengelernt, von Bach bis Brahms, von Paganini bis Wieniawski. Und dann kam der Krieg. Ich war über sechs Jahre weg.

Eine so lange Zeit – immer ohne Instrument?
1940 konnte ich natürlich kein Instrument mit nach Russland nehmen. Eigentlich hatte ich noch ein Jahr Schonfrist – mein Lehrer hatte erfolgreich eine Eingabe für mich erwirkt, aber danach musste ich auch fort, mit einer Nachrichtenstaffel. Ich war zwar nie in der Hitlerjugend, aber den Militärdienst musste ich ableisten und kam mit der Armee ziemlich nah an Moskau heran. Erst nach über einem Jahr gab es Urlaub von der Front! Im Februar 1943 wurde ich dann schwer verwundet – ein Bauchschuss. So lag ich ungefähr zwei Jahre in verschiedenen Lazaretten, ohne Antibiotika musste man aus eigener Kraft wieder gesunden, um dann als letzte Reserve nach Dänemark geschickt zu werden. Da geriet ich in englische Gefangenschaft – und ab da konnte ich wieder Musik machen.
Haben Sie dann noch studiert?
Wenn es nach dem dortigen Kapellmeister Schmidt-Isserstedt gegangen wäre, hätte ich gleich in sein Orchester einsteigen können. Mein Freund wollte nach Berlin zurück, zum Orchester und zu seiner Familie – aber ich musste erst einmal herausfinden, ob ich wirklich Musiker werden wollte. Ich konnte mich aus der Gefangenschaft entlassen lassen – die Briten hatten sich für uns eingesetzt – und so konnte ich nach Leipzig zu meinen Eltern zurückkehren. Hier wartete auch mein Instrument auf mich. Und doch habe ich erst einmal Germanistik, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte studiert. Und ab 1947, als die Hochschule für Musik wieder eröffnetet – damals ›Mendelssohn-Akademie Leipzig‹, dann auch Geige. Da wurde auch ein Orchester gegründet – hier war ich gleich 1. Konzertmeister. Wir spielten sogar in der Oper. Ich entschied mich dann doch, die Stadt zu verlassen. Ich wollte nicht in die FDJ und entschloss mich, nach Berlin zu fahren, auch um dort weiter zu studieren. 1948 war das.
In welchem Zustand haben Sie die Stadt erlebt?
Es war viel kaputt. Es gab nicht überall Strom und fließend Wasser. Bei Kälte konnte nur sparsam geheizt werden. Es war ja Blockade in Berlin. Lebensmittel waren knapp, aber die Menschen hungerten nach Kultur. Die Hochschule konnte mir nicht das bieten, was ich suchte – so unternahm ich dann ein Probespiel bei den Berliner Philharmonikern und konnte dort im Orchester anfangen. Aber es war alles im Fluss, man spielte hier und da. Und so kam ich auch zum RIAS-Symphonie-Orchester, wo Ferenc Fricsay Ende 1948 als Chefdirigent begonnen hatte. Und diese Arbeit hat mir sofort gefallen!
Wo haben Sie gelebt?
Ich war mit meiner zukünftigen Frau nach Berlin gegangen, und wir fanden zwei Zimmer. Getrennt natürlich. Sie war Lehrerin, 1950 heirateten wir und fanden dann eine Wohnung in Nikolassee. Es war einfach ein Zettel an der Laterne befestigt – und die Besitzerin des Hauses hat uns kurz kennen gelernt und sagte: ›Sie gefallen mir!‹. Das Nachbargrundstück war zu diesem Zeitpunkt völlig ausgebombt. 22 Jahre haben wir dort gewohnt, bis unsere Tochter etwas größer wurde und wir etwas mehr Platz brauchten.

Sie haben also Ihre Anstellung bei den Berliner Philharmonikern aufgegeben, um zum RIAS zu gehen?
Ja. Allerdings war das nicht gleich möglich, ich hätte gern früher angefangen, aber es kam erst 1955 zum endgültigen Wechsel.
Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Es lag an der Arbeit mit Ferenc Fricsay, die mir unglaublich zusagte. Ich hatte ja bei den Berliner Philharmonikern auch tolle Begegnungen, mit Furtwängler oder Celibidache. Gleich 1948 unternahmen die Berliner Philharmoniker eine Konzertreise nach England. Damals wurden die Flieger, die Lebensmittel und Kohle in die Stadt gebracht hatten kurzerhand leer geräumt, es wurden Sitze eingebaut und dann flogen wir aus der Stadt heraus.
Aber das Orchester beim RIAS hatte eine besondere Arbeitsatmosphäre.
Können Sie die noch mehr beschreiben?
Das Orchester bestand aus sehr guten Musikern. Ein Teil kam von der Staatskapelle, die im Ostteil lag. Auch andere Kollegen aus den östlichen großen Orchestern stießen zu uns, auch Berliner Philharmoniker wechselten. Denn bei den Philharmonikern war die Zukunft auch nicht sicher. Der Weggang von Furtwängler verunsicherte die Musiker – und seine Arbeit war so außergewöhnlich! Bei Furtwängler war man auf eine ganz bestimmte Art und Weise am Entstehen der Musik beteiligt. Man spürte direkt, wie das wuchs, wie die Musik ›erfahren‹ wurde in dem Moment, wie sich alle gemeinsam fanden in der Geburt dieses Stückes – ein bisschen pathetisch ausgedrückt.
Eberhard Wangemann
1920 in Leipzig geboren, Studium der Germanistik, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte, ab 1947 auch der Musik an der Mendelssohn-Akademie Leipzig – Hauptfach Geige. Nach einer Zwischenstation im Berliner Philharmonischen Orchester von 1955 bis Ende der Spielzeit 1984/85 Geiger im RSO Berlin, 1984 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Band, 1985 Ernennung zum Ehrenmitglied des RSO Berlin, heute: Deutsches Symphonie-Orchester.
Und was war das Besondere im RIAS-Symphonie-Orchester?
Die Stärke im Orchester. Es ist so wunderbar, wenn ein Orchester kräftig und erfahren genug ist, ein Gegengewicht zum Dirigenten zu bilden und sich nicht nur blind anzuvertrauen. Dieses Gegengewicht zu Fricsay, das war großartig – das hat sich nie negativ ausgewirkt, sondern immer befruchtend. Sie müssen sich vorstellen, da treffen zwei hohe Niveaus aufeinander, die auf Grund ihrer großen Qualität an Stärke gewinnen.
Wie hat Ferenc Fricsay in den Proben gearbeitet?
Er war immer sehr gut vorbereitet. Und wir auch. Proben in den Einzelgruppen, Streichern oder Bläsern, waren nicht nötig. Die meisten von uns kamen ja auch aus Orchestern mit langer Tradition. Fricsay hat nie mit dem Taktstock dirigiert. Er hatte sehr feine, ausdrucksstarke Hände. Mit ihnen konnte er sehr plastisch formen, wie er sich die Musik vorstellte. Fricsay hat in den Proben auch viel gesungen, vor-gesungen mit seiner schönen Tenorstimme, um zu verdeutlichen, was er gern wollte. Und seine Wünsche konnte er so prägnant vermitteln, dass Proben und Aufnahmen zügig voran gingen. Auf seiner Schallplatte Erzähltes Leben fasst er das Miteinander von Orchester und Dirigent sehr schön zusammen. Er spricht von Kollegen, von Gemeinschaft, er wolle kein Diktator sein, der eine hundertköpfige Gegnerschaft bändigen muss. Wenn er Kollegen gegenüber dann doch deutlicher werden musste, dann klang das mit seinem österreich-ungarischen Idiom so herzlich, dass man ihm gar nicht böse sein konnte. Und wenn die Probe vorbei war, dann verabschiedete er uns oft mit: ›S’ war schön mit die Herren.‹ … wobei wir schon immer auch Frauen im Orchester hatten. Von Anfang an.
Wie war das Arbeitspensum?
Nun, wir hatten die Aufnahmen für den Rundfunk zu leisten, für den RIAS und den SFB. Dann die Proben und auch Konzerte! Manchmal hatten wir vor- und nachmittags Proben und am Abend noch ein Konzert. Wir haben immer feste arbeiten müssen, um uns über Wasser zu halten. Denn die Finanzierung des Orchesters war ja nur für einige Jahre sicher.
Die Amerikaner finanzierten das Orchester bis zum Jahr 1953. Dann endete die Partnerschaft. Wie kämpfte das Orchester ums Überleben?
Das war nicht einfach. Die Zusagen der Sender waren ein wichtiger Teil – die Gehälter für die Aufnahmen wurden dann in einen Topf geworfen und entsprechend ausgezahlt. Kurz nach dem Krieg erhielten die Musiker auch Lebensmittel-Marken. Dann stiegen aber der Senat der Stadt Berlin und auch der Bund mit in die Finanzierung ein. Aber erst 1977 wurden ganz genaue Regelungen getroffen. Inzwischen, 1956, hatte sich das Orchester auch umbenannt in ›Radio-Symphonie-Orchester‹, um zu verdeutlichen, dass wir für zwei Sender, den SFB und den RIAS Einspielungen vornahmen.

Welche Rolle spielte Yehudi Menuhin in den ersten Jahren?
Er war ein großer Geiger, der uns sehr geholfen hat. Einmal hat er sogar seine Gage gegen Care-Pakete für das Orchester eingetauscht.
Wo haben Sie geprobt?
Es gab verschiedene Orte, an denen wir spielten: In Lankwitz probten wird, in der Siemens-Villa. Auch in der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem wurde geprobt und aufgenommen. Ebenso im großen Sendesaal, der sich im Haus des Rundfunks befindet. Dort spielten wir auch viele Konzerte.
Ferenc Fricsay hat unzählige Aufnahmen unternommen. Wie ist er mit der damals neuen Technik umgegangen?
Sehr interessiert! Und viel früher und intensiver noch als Karajan. Damals war der Umgang mit den Mikrophonen ganz neu. Manchmal musste einer von uns das Orchester bei einer Probe dirigieren, und Fricsay selbst ging in den Abhörraum hinter einer dicken Scheibe und versuchte dort mit den Technikern, seine Klangideale zu verwirklichen. Er probierte aus: Wo stehen die Mikrophone am besten? Er hat sich auch sofort mit der aufkommenden Stereophonie beschäftigt. Oder mit der Kunstkopf-Stereophonie, die sich aber nicht durchsetzen konnte. Fricsay ist auch immer mit technischen Pannen sehr souverän umgegangen: Wenn ein Mikrophon herunter fiel, diese waren damals noch nicht so perfekt befestigt wie heute, dann gab es nur eine kurze Pause – man blieb in der Stimmung verharren – und Fricsay konnte in dem selben Tempo, mit dem selben Duktus weitermachen. Das war für mich ungeheuer imponierend.
Welche Geige hat sie besonders durch die Zeit im Orchester getragen?
Ein Instrument, das bei meinem Berliner Geigenbauer erstanden habe. Ich sagte ihm eines Tages: ›Wenn Du ein schönes, altes, italienisches Instrumente bekommst, dann lege es doch bitte für mich zurück.‹ Er hat an mich gedacht und mir eines Tages eine Geige präsentiert, die ich dann auch kaufte. Ein absoluter Glücksgriff, denn es ist ein wirklich wertvolles Instrument. Momentan habe ich die Geige an einen Kollegen weitergegeben, an Saschko Gawriloff. Ihr besonderes Merkmal: ein schwarzer Punkt auf dem Rücken – ein Ast im alten Holz. ¶