In den 1920er Jahren erlebte Lettland eine wirtschaftliche Blüte. Nach der Weltwirtschaftskrise und zahlreichen innenpolitischen Problemen kam es 1934 allerdings zu einem Putsch: Mit dem Staatsreich am 15. Mai des Jahres ergriff Kārlis Ulmanis (1866–1942) die Macht. Es folgte die Zeit eines autoritären Regimes. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wiederum wurde Lettland dem sowjetischen Machtbereich zugeordnet – und 1940 endgültig (und völkerrechtswidrig) von der Sowjetunion annektiert. In der Folge der nun grassierenden Umsiedlungspolitik mussten viele Deutschbalten im Herbst und Winter 1939/1940 das Land verlassen.

Unter den vielen Flüchtenden befand sich aber – trotz »passenden« Nachnamens – die am 2. Januar 1939 im lettischen Valmiera geborene Maija Einfelde offenbar nicht. (Gründe dafür müsste man persönlich bei der heute 83-Jährigen erfragen). Einfeldes Mutter war Organistin; der Vater arbeitete als Orgelbauer. Nach frühen Jahren der musikalischen Ausbildung studierte Maija Einfelde von 1962 bis 1966 am Konservatorium von Lettland bei Jānis Ivanovs (1906–1983); einem unterschätzten Komponisten, der sich durchaus modernen Kompositionstechniken (wie der Dodekaphonie) zuwandte und dessen Alterswerke wieder an die »nördliche Sprödheit« der Musik von Sibelius erinnern.

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Seit 1968 – so liest man an – unterrichtete Einfelde an verschiedenen Institutionen selbst Komposition: an der Alfrēds-Kalniņš-Musikschule in Cēsis (im Norden Lettlands gelegen), an der Musikschule »Emīls Dārziņš« in Riga sowie an der sich ebenfalls in Riga befindenden Musikschule »Jāzeps Mediņš«.

Am 24. Oktober 2022 spielen die Instrumentalistinnen und Instrumentalisten der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker Einfeldes Traurige Serenaden. Drei Lieder an das sterbende Meer (für Klarinette und Streichquartett) – eine absolute Ausnahme in dem programmatisch faden Konzertkalender der Philharmonie Berlin, der unter etwa 600 im Oktober 2022 gespielten Werken nur etwa vier Komponistinnen-Werke auflistet.


Maija Einfelde (* 1939)
Lux Aeterna für gemischten Chor und Glockenspiel (2018)

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2018 komponierte Maija Einfelde ihr Lux Aeterna für gemischten Chor und Glockenspiel; ein Werk, das schon anderswo äußerst positives Feedback zutage förderte. Doch: Dockt Einfelde mit ihrer Vertonung des Lux Aeterna (in dem traditionell-liturgisch innerhalb der Totenmesse das ewige Leuchten besungen wird) an das bekannteste Lux Aeterna des 20. Jahrhunderts von György Ligeti (komponiert 1966) an? Nein. Warum sollte sie das tun?

Die erste Partitur schaut zunächst einmal übersichtlich und recht konservativ aus. »Gegeben« scheint a-Moll. In das a-Moll mischt sich früh ein f1 mit ein (das schnell chromatisch zum fis1 hinübergleitet). Vielleicht denkt man an die ähnliche Klangmischung in Mahlers Wunderhornlied Wo die schönen Trompeten blasen (1890er Jahre), doch dort – bei Mahler – »fehlt« die a-Moll-Terz. Hier, bei Einfelde, ist sie mit eingemischt worden.

Die einfach aussehende Partitur täuscht jedoch ein wenig. Denn von Anfang an lässt Einfelde den Text polyphon »zerfließen«. Die lateinischen Worte erscheinen jeweils auf verschieden lang disponierten Tönen und Tonketten. Aber in Takt 14 kommen die oberen vier Stimmen textlich-rhythmisch zusammen. Die Harmonik gibt sich konservativ, doch resultieren mitunter durchaus scharfe Dissonanzreibungen (wie beispielsweise auf dem letzten Ton der beiden Sopranstimmen in Takt 14), die nicht im Sinne von »Durchgängen« aufgelöst werden. Charismatisch spielt Einfelde im Folgenden mit den Wirkungen der Abwechslung von polyphoner Durchmischung und eindrücklichen Homophonie-Momenten. Sympathisch auch, wie die Komponistin nur ganz am Anfang und zu Beginn das Glockenspiel mitspielen lässt; als tönende Versinnbildlichung des göttlichen Leuchtens. Eine von der Zeit abgehobene Musik! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.