Eine Auschwitzoper? Überraschung! Die Oper Пассажирка, zu deutsch: Die Passagierin – komponiert 1968 von dem polnisch-jüdisch-russischen Komponisten Mieczysław Weinberg –, ist keine. Auch wenn diverse Opernschaffende und Holocausthistoriker, von Frankfurt über Gera bis Graz, von London über New York bis Miami, sich vierzehn Jahre lang an die Regieanweisungen gehalten und SS-Leute in Uniform und Häftlinge in gestreiften Lumpen gezeigt haben: Jetzt korrigierte das Team der Bayerischen Staatsoper München diesen Irrtum mit dem Rotstift.

Seit der verspäteten szenischen Uraufführung dieses atemraubend ambivalenten Meisterwerks bei den Bregenzer Festspielen, anno 2010, hat Die Passagierin mehr als ein Dutzend Inszenierungen erfahren. Weinberg kopiert darin auch musikalisch zwei Zeitebenen übereinander: die späten Fünfziger, mit Jazz und Swing und dem aufblühenden Wirtschaftswunder, eine Zeit des Vergessens und Verdrängens für die Täter. Und die frühen Vierziger, die Zeit des Massenmords in den KZs, in Verzweiflung, Not und Melancholie. Letzteres ist in München nur ausschnittsweise zu hören, nicht zu sehen. Die Banalität des Grauens sei – da lebt das alte Adornodiktum wieder auf – nicht darstellbar, daran zu denken schon Grusel genug.

Foto © Wilfried Hösl

Dirigent Vladimir Jurowski kürzte, im Einvernehmen mit dem Regieteam um Tobias Kratzer, eine gute halbe Stunde Musik aus der Partitur heraus. Das Libretto wurde aus dem Russischen ins Polnische übersetzt. Textstellen, die historische Ereignisse erwähnen, die aus Propagandagründen falsch interpretiert werden könnten, wurden weggelassen. Zwei Figuren aus der KZ-Zeitebene fehlen, andere haben sich verwandelt in entindividualisierte Statuen. Auch die Prügelszenen und Hoffnungsdialoge aus dem zweiten Aufzug, die sich in den Häftlingsbaracken abspielen, wurden umgetopft und ins Abstrakt-Symbolische überhöht: aus der »Auschwitzoper« wurde eine »Vergangenheitsbewältigungsoper«. Sie erzählt vom Selbstbetrug und gelegentlichen Gewissensbissen der Täter, die in Sicherheit und Luxus leben. Ihre Opfer tauchen in den Kabinen der Transatlantik-Kreuzfahrt, mit denen sich die Täter absetzen in die Neue Welt, als unsichtbarer Chor auf oder, sichtbar, als mahnende Erinnyen.

Auch der Epilog wurde korrigiert. Das Schluß- und Machtwort der einzigen Überlebenden des Konzentrationslagers kommt in München aus dem Off. Weinberg hat für dieses Lamento der Marta eine starke Melodie erfunden, Elena Tsallagova singt sie mit Bravour und großem Volumen. Bühnenportalfüllend wallen im Video dazu die beeindruckend schönen Wasser des ewigen Ozeans. Oder sind es die Wasser der Lethe? Marta singt jedenfalls gegen das Vergessen an, sie spricht mit ihren toten Leidensgenossen »Katja, Vlasta, Hannah, Ivetta, Tadeusz«, direkt und individuell und verspricht ihnen: »Keine Vergebung, niemals. Ich werde euch nie und nimmer vergessen.« Nur, dass der erste dieser Sätze, der vom Nicht-Vergeben, in der neuen Münchner Fassung weggekürzt wurde. »Never forget«: Das ist die Botschaft, die übrig bleibt. 

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Außerhalb deutscher Opernhäuser kann man zur Zeit lernen, dass dieser Satz um so häufiger aufgesagt wird, je weniger er in der politischen Debatte wert ist. Da wird das Eis, auf dem die Münchner Passagierin agiert, plötzlich sehr dünn. Und konsequenterweise ergeben sich weitere Fragen: Erinnern wir uns noch richtig? Gab es diese Vergangenheit überhaupt? Und wer hätte denn heute ein Interesse daran, sie zu leugnen?

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Gewiss liegt beziehungsweise lag das weder in Interesse noch Absicht von Kratzer oder Jurowski. Sie haben viel Aufwand getrieben mit dieser Neufassung, auch ihr Bestes gegeben in der Umsetzung und unterschiedlich gute Gründe für die Umarbeitung vorgetragen, im Vorfeld der Premiere. Kratzer hatte ein Originalitätsproblem. Er meint: Häftlingskleidung, kurzgeschorene Glatzen, Lumpen und Baracken seien inzwischen längst abgenutzte Bilder. Jurowski dagegen haderte mit den Zugeständnissen, auf die sich Weinberg und sein Librettist Alexander Medwedew der Zensur-Kommission des sowjetischen Komponistenverbandes gegenüber einließen, in der Bemühung, eine Aufführungserlaubnis zu ergattern – letztlich erfolglos. Allerdings: Zensur lässt sich nicht aus der Welt schaffen durch Gegenzensur. Gegen die Lügen der Propaganda helfen wahrscheinlich nur: Aufklärung, Diskurs, Freunde.

Details zur verzwickten Genese der Passagierin führen an dieser Stelle zu weit. Wer es genau wissen will, der sollte den spannenden Aufsatz von Wolfgang Mende dazu lesen, veröffentlicht in der Zeitschrift Tonkunst, vom April 2016. Nur eine Frage sei hier noch kurz angerissen: Warum musste, in dieser Neufassung, der vorletzte Satz gestrichen werden? 

Weil es ein Zitat ist aus einem Arioso (»ich hör’s noch«, singt Marta), das zuvor, in einer der wegfrisierten Auschwitz-Szenen, von einer gewissen Katja gesungen wurde. Und weil Katja eine Figur ist, die gestrichen ist. Warum? Weil sie als russische Partisanin auftritt, die zur Widerstandsgruppe im KZ gehört, Kassiber verteilt und Nachrichten aus der Außenwelt empfängt, wie, zum Beispiel, die: »Kiev ist befreit. Haltet durch, Freunde!« Die Widerstandsgruppe ist in der Münchner Fassung nur noch stichwortartig vorhanden. Übrig blieb freilich der Liebesbrief, zu dem Marta ihrerseits, zum Schutze der nicht mehr vorhandenen Katja, deren nicht mehr vorhandenes Kassiber umfunktioniert. Eingezwängt ins kleine Schwarze, wie alle Opfer, ist  »Lagermadonna« Marta nur mehr ein Denkmal, eine Lemure der Erinnerung. Weil aber keine Oper ohne Liebe sein darf, zieht die Regie dem Denkmal kurz das Etuikleid über den Kopf, so dass Marta (perfiderweise erzwungen von der KZ-Aufseherin Anneliese Franz) nackt da steht vor dem geliebten Mit-Häftling Tadeusz, für wenige Takte.

Es gibt zwar vieles, was man, der Kürzungen wegen, nicht verstehen kann. Aber es gibt auch genügend Raum und Gelegenheit, sich seinen Teil zu denken. Und muss man in einer Oper unbedingt alles verstehen? Nein. Aber diese ehrgeizige Opernproduktion verlangt danach, dass man über den Fall diskutiert. Also unbedingt mehrmals angucken!

Foto © Wilfried Hösl 

Schließlich ist Tobias Kratzer einer der wenigen Opernregisseure, die auch die Ironie als szenisches Stilmittel beherrschen. Er spielt virtuos mit Allusionen und durchkreuzten Erwartungshaltungen. Zahlköpfige Personengruppen setzt er ebenso totsicher ins Bild wie individuell psychoverhäkelte Duelle unter Zweien oder Dreien. Die innig-intensive »Hochzeitsszene« zwischen Marta und Tadeusz (Jacques Imbrailo), im Lichtkegel, spricht dafür ebenso wie die operettenreifen Szenen einer Ehe, die sich die vormalige Aufseherin Anneliese alias Lisa (Sophie Koch: hell und alert), in den Fünfzigern auf dem Luxusliner, inzwischen eine Frau in den besten Jahren, mit ihrem opportunistisch helltönenden Diplomaten-Gatten Walter (einfach brillant: Charles Workman) liefert.

Nur zwei Bühnenbilder ließ sich Kratzer diesmal bauen von Austatter Rainer Sellmaier, die, in gigantomanischer Schönheit, beide auf die Bildsprache des Totalitarismus verweisen. Für den ersten Akt: ein Puppenhaus à la Katie Mitchell. Fünfzehn identisch große Einzelzellen verwandeln sich im Handumdrehen geräuschlos aus Kreuzfahrtschiff-Balkonen in Kreuzfahrtschiff-Kabinen. Für den zweiten Akt: eine ins Endlose sich verlängernde Armee von langen, leeren, weiß eingedeckten Tischen, fürs Kapitänsdinner. Beides funktioniert tadellos, das taugt sowohl für eindrucksvolle oratorienhafte Standbilder wie für operettenhaftes Gewusel. Und dazwischen wogt besagter Lethe-Ozean (erfunden von den Video-Designern Jonas Dahl und Manuel Braun) und sorgt für einen spektakulären Pausen-Cliffhänger. 

Da springt die greise Doppelgängerin der Lisa, die mit einer Urne im Arm (vermutlich mit der zukünftigen Asche des springlebendigen Gatten drin) bis dato durch die Szene geisterte, samt Urne über Bord. Um zu Beginn des zweiten Akts dann, endlos durch dunkle Tiefen taumelnd, auf dem Meeresboden der Wirklichkeit anzukommen, verjüngt und identisch mit der Lisa in den besten Jahren. Das ist womöglich der einzige Regie-Unfall des Abends: Dass die steinalte Dame, als Running Gag hinzu erfunden und dargestellt von der Schauspielerin Sibylle Maria Dordel, durch die Szene hüpft wie ein Comic-Springteufel und in Zeichensprache nonstop überdeutlich macht, wie grässlich sie sich vor irgendetwas fürchtet. Die Idee zu der Figur einer unbelehrbaren Alten hatte sich Kratzer ausgeborgt bei der Grazer Passagierin-Inszenierung 2020, von Kollegin Nadja Loschky. Aber nichts daraus gemacht.

Was auf der Bühne munter durcheinander geht, wird von Jurowski und dem Bayerischen Staatsorchester im Graben scharf und klar artikuliert. Man hört es: Hier wurde geprobt bis an den Rand und darüber hinaus. Es wird herausragend gesungen in dieser Produktion von allen Beteiligten. Für die individuelle musikalische Charakteristik der Figuren, gleichviel, in welcher Stilisierung sie zu sehen sind, sorgt die vielgestaltige, farbenstarke, empathiefähige Theatermusik von Mieczysław Weinberg, in der Bach und das Volkslied, neue und alte Welt mitsingen. »Ich werde nicht müde, mich für die Oper Die Passagierin zu begeistern, ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk«, schrieb Dmitri Schostakowitsch, der sich wiederholt entschieden für seinen Freund Weinberg eingesetzt hatte, auch vor der Kommission. Und weiter: »Ich verstehe diese Oper als eine Hymne an den Menschen … Dreimal habe ich sie schon gehört und jedesmal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser.« Dem ist nichts hinzuzufügen, außer: Mehr als nur dreimal ist auch ok. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.