Am 24. Februar 2022, kurz nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, begannen wir in VAN Statements zu sammeln von russischen Musiker:innen, Dirigenten und Komponisten, die sich gegen den Angriffskrieg stellten. Ein Jahr später haben wir bei einigen von ihnen nachgefragt, wie der Krieg ihr Leben verändert hat, welche Konsequenzen die politische Positionierung  nach sich zog und wie sie auf die Gegenwart und Zukunft Russlands schauen. 


Ivan Bushuev, Flötist

Als der Krieg begann, waren wir alle schockiert. Keiner wusste, wie lange er dauern würde, und jeder hoffte das Beste. Deshalb sind wir auch nicht vor Beginn der Mobilmachung ausgereist. Wegen meines Facebook-Posts und ich denke auch wegen des Statements, das ich VAN gegeben habe, wurde ich aus meinem Job entlassen (ich habe Flöte an einer der Musikhochschulen in Moskau unterrichtet) und verlor meine Studierenden und das Unterrichten, das ich so sehr liebte. Aber ich hatte immer noch meine Arbeit als Soloflötist im Moscow Contemporary Music Ensemble, und wir tourten weiterhin durch Russland und spielten Konzerte, so hatte ich etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Ich versuchte, an eine bessere Zukunft zu glauben, dass jemand Putin und diesen schrecklichen Krieg irgendwie aufhalten könnte. Aber dann, im September, als die Mobilmachung begann, schwand auch diese Hoffnung. Mir wurde klar, dass ich nicht mehr in Russland bleiben konnte, weil ich in keiner Weise mitmachen wollte. Ich kann nicht darüber reden, ich kann nicht darüber schreiben, ich kann nicht auf die Straße gehen und protestieren, ich kann nicht einmal Leute unterstützen, die mutiger sind als ich, ich kann nichts tun. Das war der Moment, Ende September, in dem ich gegangen bin. Zuerst nach Belarus, weil es keine Tickets woanders hin gab oder nur solche, die unglaublich teuer waren, und dann weiter nach Eriwan.

Hier in Eriwan habe ich eine Zeit lang im Orchester gearbeitet, wofür ich einem Freund danke, der mir geholfen hat, aber dann wurde mir klar, dass ich es mein ganzes Leben lang vermieden hatte, im Orchester zu arbeiten, und dass ich es auch jetzt nicht konnte. Deshalb leben wir jetzt von den Einkünften meiner Frau, die im IT-Bereich arbeitet. Ich verdiene Geld, indem ich den Ton für Konzertstreams bearbeite und Podcasts schneide. Im Grunde wurde mir alles genommen, was ich gerne gemacht habe: Alte und moderne Kammermusik spielen, Studierende unterrichten.

Dass die Regierung und insbesondere der Präsident dem Land jetzt alles nehmen, tut mir so leid, manchmal kommen mir da die Tränen. Und je länger das so weitergeht, desto schlimmer wird es. Es wird alles in sich zusammenfallen, erstarren, Entwicklung wird es nicht mehr geben. Ich und mein ganzes Umfeld, vor allem Leute aus der Kunst, sind gegen den Krieg. Ich hätte nie gedacht, dass es Menschen gibt, die ihn unterstützen, Menschen, die der Wahrheit nicht ins Auge sehen können, Menschen, die an die Propaganda glauben. Ich bin schockiert darüber!

Es fällt mir schwer, hier nur über mich selbst zu sprechen. Ich bin mir bewusst, dass ich die Möglichkeit hatte, zu gehen und irgendwie weiterzumachen, aber andere Menschen haben manchmal keine solche Möglichkeit und sind aus vielen Gründen gezwungen, in Russland zu bleiben. Was soll ich sagen? Mein ganzes Leben wurde mir genommen, mein Glaube an eine bessere Zukunft, meine Möglichkeiten und Träume. Jetzt muss ich mein Leben irgendwie neu beginnen, aber es scheint, dass ich dafür überhaupt keine Kraft habe.

Es fällt mir jetzt schwer, weiter in die Zukunft zu denken. Viele Experten sprechen jetzt darüber, wie die Zukunft Russlands aussehen könnte, und es gibt sehr unterschiedliche Meinungen dazu. Aber ich sehe nur das Unbekannte vor mir, sowohl für mich als auch für Russland.


Natalia Pschenitschnikova, Komponistin, Interpretin, Performerin

Ich lebe in Berlin und war aus privaten Gründen seit der Invasion zweimal in Russland. Es ist schwer, dort zu sein, aber genauso schwer ist es auch hier. Ich bin nicht besser als die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt nicht ausreisen können. Wenn man versucht, die Verantwortung von sich auf andere zu schieben – das ist das Letzte. Es gibt leider so eine Tendenz. Ich bin, wie auch viele andere Künstlerinnen und Künstler, in eine Art Starre, Verlorenheit geraten. Es ist sehr schwer Kunst zu machen, wenn die Begriffe schwinden. Ich versuche ständig, mir selbst Fragen zu stellen und so ehrlich wie möglich auf sie zu antworten. Ehrlichkeit ist das Einzige, was noch geblieben ist. Vieles, was man vorher gemacht hat, ist nicht mehr relevant, man sollte das einfach verstehen und akzeptieren. Jetzt würde ich am liebsten in Schweigen versinken.

Ich helfe als Volontärin einer Gruppe von Psychologinnen, die ukrainische Frauen betreuen, die Kinder mit besonderer mentaler Entwicklung haben. Wir singen, ich bringe ihnen Atemkontrolle bei und sie mir Liebe und Geduld, ich bewundere unendlich ihre Kraft. In künstlerischer Hinsicht versuche ich, neue Wege für mich zu suchen, ein neues Vokabular, neuen Klang, neue Identifikation. Ich habe im letzten Herbst in Italien auf dem Festival Transart eine für mich wichtige Arbeit gemacht, Stimmen/Stimmlos. Es war eine Installation mit Live-Performance in einem leeren Haus, basierend auf Interviews mit Frauen, die ich 2018 in der Ukraine geführt hatte. Es klang sehr aktuell. Es war eine Hommage an diese Frauen, ich würde aber aus dem Krieg keine Kunst machen können und wollen.

Das, was mit Russland seit Kriegsanfang passiert, spätestens seit der Krim-Annexion 2014, kann man schwer als Entwicklung bezeichnen. Es ist ein surrealer Zustand, in dem jeder Bezug zur Realität abgebrochen ist. Es gibt aber immer noch genug Menschen dort, die es ehrlich mit sich meinen – denen geht es sehr schlecht. Es gab Selbstmorde, ganz zu schweigen von den Tausenden Verhaftungen. Das Schlimmste, was Russland passieren konnte, war es, diesen  Krieg vom Zaun zu brechen. Einen Krieg anzufangen, ist ein Verbrechen gegen die gesamte Menschheit. 

Am meisten schockiert haben mich die Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung, brutale Morde, Vergewaltigungen, Folter. In meiner Kindheit sagten die Erwachsenen, wenn bei Festen das erste Glas Wein getrunken wurde, immer die Worte: »Auf dass es nie wieder Krieg gibt.« Meine Eltern haben den Krieg noch als Kinder erlebt. Ich bin sehr traurig, auch wütend, dass es immer wieder Stimmen gibt, die in Frage stellen, ob die Ukraine sich verteidigen soll. Es gibt allgemein viele Auseinandersetzungen und Zerwürfnisse, auch zwischen Menschen, die ähnliche Ziele haben. Mir fehlt ein echter Zusammenhalt, eine Konsolidierung, mich kotzt es an, wenn ich sehe, dass Krieg für einige Leute ein politisches und sogar wirtschaftlich profitables Projekt ist.

Zur Zukunft kann ich nur sagen, was ich mir wünsche: den Sieg der Ukraine, Freiheit für Russland und Frieden für alle Menschen, für immer.


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Elizaveta Miller, Pianistin

Facebook hat eine Funktion, die ich seit langem mag. Es sind die Erinnerungen, die zeigen, was einem vor genau einem Jahr, vor zwei Jahren usw. passiert ist. Jetzt ist es eine seltsame Kombination von Gefühlen, die ich fast täglich erlebe, wenn ich meine Seite öffne. Wenn ich mir ältere Fotos von meinen Kindern und meinem Zuhause ansehe, habe ich das Gefühl, dass eine Katastrophe bevorsteht, fast so, wie man sie normalerweise in der Literatur oder im Film wahrnimmt. 

Bereits kurz vor dem 24. Februar hatte ich mit dem Gedanken gespielt, das Land zu verlassen. (Wer tat das nicht?) Ich hatte sogar schon meinen Lebenslauf an eine kanadische Universität geschickt und damit zum ersten Mal in meinem Leben einen echten Schritt in Richtung dieser Entscheidung getan. Aber ich hatte ein Leben, und die Fotos, die ich täglich sehe, erinnern mich daran, dass ich nicht vorhatte, etwas davon zu verlieren. Schließlich bin ich in der Zeit der Perestroika aufgewachsen, und eines der Leitmotive meines Lebens war, dass es für meine Generation keine Emigration mehr geben musste.

[Am 1. März 2022 verließ Elizaveta Miller mit Mann und Kindern Moskau. Über Armenien, Georgien und Montenegro landete sie schließlich in Kanada. In VAN berichtete die Cembalistin über ihren Entschluss, Russland zu verlassen und die ersten Stationen der Flucht.]

Wenn ich heute darüber nachdenke, warum mir (und vielen von uns) nicht klar war, wo das alles so bald enden würde, habe ich keine Antwort, außer, dass man manchmal genau das übersieht, was man vor der Nase hat. 

Nach fast einem Jahr habe ich mich noch kein bisschen daran gewöhnt, dass Russland gegen die Ukraine Krieg führt und dass ein so großer Teil der Russinnen und Russen das unterstützt und die ganze Propaganda abkauft. Ich bin zwischen Schuld, Scham und Zorn hin- und hergerissen. Ich habe Ukrainerinnen und Ukrainer getroffen, von denen einige mit uns reden und uns akzeptieren, andere schrecken vor uns zurück, und viele fragen sich, genau wie ich: Wie ist das möglich? Ich habe Russinnen und Russen getroffen, die geflohen sind. Die meisten von ihnen wirken verloren, eine traurige Schar von Nachkommen Kains, würde ich sagen, und das ist wahrscheinlich nicht einmal eine Metapher.

Ich hatte das unglaubliche Glück, so schnell eine Stelle bekommen zu haben (ich unterrichte jetzt Cembalo an der McGill-Universität in Montreal). Ich konnte in nur wenigen Monaten mit meinen Kindern umziehen und mich hier niederlassen. Und ich habe nicht ein einziges Mal ein Wort des Vorwurfs von irgendjemandem außer meinen eigenen Landsleuten gehört. 

Bitterkeit ist ein sehr schwaches Wort für meine Gefühle. Als Mutter von drei Söhnen sehe ich das Ausmaß unseres Verlustes mit ihren Augen – sie haben ihr komplettes Leben verloren. Ich sehe das Ausmaß des Verlustes auch mit den Augen aller ukrainischen Klassenkameradinnen und -kameraden meiner Kinder. Was ich fühle, ist purer Hass und Abscheu. Und Verzweiflung, weil mich meine Facebook-Seite jeden Tag an eine Zeit erinnert, in der ich nicht glauben konnte, dass der Krieg quasi morgen beginnt.


Polina Osetinskaya, Pianistin

Ich wohne immer noch in meinem Haus in Moskau. Meine Kinder gehen hier zur Schule. Mein Leben hat sich sehr verändert, aber wir wissen, dass sich das Leben von Millionen von Menschen noch viel dramatischer gewandelt hat als für mich – ich schlafe immerhin noch in meinem eigenen Bett. In Russland wurde ich wegen meiner Antikriegsposition aus allen staatlichen Konzertsälen verbannt, fast alle meine Konzerte wurden abgesagt, ich kann nur noch in kleinen privaten Sälen spielen. In einigen anderen Ländern wurde ich gecancelt, weil ich Russin bin. Mir wurde gesagt: Weil ich bleibe, unterstütze ich den Krieg. Aber das ist einfach nicht wahr. Hier ist mein Zuhause, meine Freundinnen und Freunde sind hier, meine Mutter, meine älteste Tochter, der Vater meiner Kinder, mein Publikum, das mich jetzt mehr braucht denn je. Ich denke immer: Würde Maria Yudina gehen? Nein, das würde sie nicht. In Anbetracht des Leids, das wir in der Ukraine verursachen, möchte ich mein eigenes Schicksal nicht überbewerten. Ich dachte, die Leute könnten den Unterschied erkennen. Aber das tun die meisten nicht. Gleichzeitig weiß ich, wie viele Menschen hier in diesem Jahr gelitten haben. Diejenigen, die gegangen sind, diejenigen, die geblieben sind. Diejenigen, die nicht sprechen können. Was mich am meisten traurig macht? Es ist schwer, eine Sache auszuwählen. Vieles. Aber da ist immer noch die Liebe. Und die Musik. Alles, was ich will, ist, dass der Krieg vorbei ist. 

Vor kurzem sprach Polina Osetinskaya ausführlicher mit VAN, hier das vollständige Interview 


Sergej Newski, Komponist

Foto © Anna Gileva

Ich lebe in Berlin mit meinem Freund Anton. Wir wohnen in einer kleinen Wohnung in Prenzlauer Berg mit unserer Katze namens Schönberg. Ich bin vor dem Februar 2022 regelmäßig nach Moskau gereist – zum Arbeiten, meistens mit privaten und nichtstaatlichen Institutionen, aber auch mit großen Theatern und Orchestern. Die russische Musikszene war vor dem Krieg sehr international und sehr offen. Selbst am 24. Februar gab es am Bolshoi Theater eine große Lohengrin-Premiere in Koproduktion mit der Met. Zugleich wuchsen der Druck des Staates und die Zensur, es gab immer mehr Repressionen gegen politische Aktivist:innen und immer weniger Nischen und Freiräume, in denen man sich frei äußern konnte.

Ich habe im Herbst 2021 viele militärische Analysen gelesen und wusste seit Ende November, dass es höchstwahrscheinlich einen russischen Überfall auf die Ukraine geben und dass sich mein Leben, wie auch das vieler anderer, ändern würde. Dieses Wissen machte mich extrem traurig. Ich habe alle meine Projekte in Russland so arrangiert, dass ich immer einen Koffer nehmen und das Land binnen 24 Stunden verlassen hätte können. Genau der Fall ist auch eingetroffen. Am 31. Januar 2022 saß ich in einer Bar in Berlin mit einem befreundeten amerikanischen Journalisten, der gerade sein Büro in Kyjiw aufgemacht hatte, und einem Freund aus Kyjiw namens Viktor, der zur Berlinale hier war.  Der Journalist sagte, dass nach Schätzungen US-amerikanischer Geheimdienste Russland die Ukraine zwischen dem 18. und 22. Februar angreifen würde, und dass der Krieg etwa drei Tage dauern würde. Worauf Viktor energisch widersprach und sagte, drei Tage wären Quatsch, die Ukrainer:innen würden kämpfen. Jedenfalls, sagte der Journalist, werde übermorgen, am  2. Februar sein Büro aus Kyjiw nach Lviv evakuiert, wie auch die wichtigsten europäischen Banken und Botschaften. Ich habe meine Tochter in Kyjiw angerufen und sie gebeten, mit ihrem Freund auszureisen. Sie sind aber stattdessen zum Skifahren nach Karpaty gefahren, Krieg hin oder her, Urlaub muss sein. So war meine Stimmung extrem düster, als ich am 23. Februar abends auf dem Sankt Petersburger Flughafen Pulkovo landete. Ich hatte dort Proben und Konzerte sowie Verhandlungen mit einem russischen Theater wegen einer Auftragskomposition für Bulgakows Die Tage der Turbins. Ich weiß nicht, ob dieses Werk, ein Klassiker, heute in Russland oder in der Ukraine gespielt werden darf, denn erstens handelt es von der Belagerung und dem Sturm auf Kyjiw während des Bürgerkriegs 1918 – erzählt aus der Perspektive seiner Einwohner:innen. Zweitens wird Kyjiw nicht von irgendwem, sondern von dem ukrainischen Unabhängigkeitskämpfer Symon Petljura angegriffen, und seine Leute kommen in diesem Werk nicht besonders nett daher. Allerdings wollte mein Verhandlungspartner und Regisseur, ein gebürtiger Ukrainer, das Stück unbedingt machen, auch weil es eine Liebeserklärung an die Stadt Kyjiw sei. 

So habe ich den 24. Februar in Sankt Petersburg erlebt. Am Vorabend habe ich mit meiner Tochter in Kyjiw telefoniert. Wir wussten schon, dass die Flughäfen im ganzen Land geschlossen und die Landebahnen blockiert werden, um die Landung feindlicher Flugzeuge zu verhindern. Meine Verwandten in Kyjiw sind morgens um acht ins Auto gestiegen und ins weiter westlich gelegene Winniza gefahren, später ging die  ganze Familie meiner Tochter samt ihrer Mutter und ihrem Freund nach Lviv. Ich habe sofort den Flug für den 25. Februar nach Berlin gebucht,  solange es noch ging. Dann war ich in der Stadt spazieren. Die Leute, die ich am 24. Februar in Sankt Petersburg sah, waren extrem deprimiert, bis auf einen Taxifahrer, der mich zwang, die Kriegserklärungsrede von Putin anzuhören, bis ich ihn bat, den Ton abzustellen. Ich habe noch nie im Leben eine Rede von Putin gehört und musste ihr etwa 15 Minuten lauschen, weil wir im Stau standen. Es klang nach einem ewig beleidigten Verschwörungstheoretiker auf Twitter, einer Verkörperung von Ressentiments. Und gerade dieser Mensch befindet sich an der Spitze der  Macht und gibt den Befehl, das Nachbarland zu bombardieren. Diese Hilflosigkeit – man ist einem geisteskranken, senilen Psychopathen ausgeliefert – war schon ein starkes Gefühl. 

Am nächsten Morgen nahm ich den Direktflug zurück nach Berlin, den vorletzten, den es gab. Ab März meldeten sich bei mir viele Kolleginnen und Kollegen, die ihre Heimatländer wegen des Krieges verlassen mussten. Zuerst waren es fast nur die ukrainischen Kolleg:innen, dann immer mehr auch  aus Russland. Allmählich bildeten sich Strukturen, die Hilfe für geflüchtete Künstler:innen ermöglichten, Projekte wie zum Beispiel die Platform B in Stuttgart. Mich selbst hat der Krieg eher motiviert, viel intensiver und konzentrierter zu arbeiten als zuvor. Am 23. Oktober hatte ich in Heidelberg die Premiere meines Stücks Eyewitness Evidence nach dem Antikriegstext des jungen russischen Dichters Dima Gerchikov, zusammen mit der Premiere eines Stücks meines Kyjiwer Kollegen Maxim Kolomiets nach Serhij Zhadan. Diese Arbeit und Unterhaltungen mit Maxim haben mir ein bisschen geholfen, zu verstehen, wie und  wohin ich mich weiter bewegen kann. 

Mein Eindruck ist, dass die russische Regierung nach dem Scheitern des Blitzkrieges zwei Sachen gleichzeitig zu erreichen versucht: den Krieg als etwas normales, als permanenten Ausnahmezustand in die Gesellschaft zu installieren und gleichzeitig ihn als etwas sehr fernes und unwichtiges für die Normalbevölkerung darzustellen; als etwas, das die Routine nicht beeinflusst. Also eine Mischung aus gleichzeitiger Mobilmachung (für den ärmeren Teil der Bevölkerung) und Verdrängung (für den reicheren Teil). Ich kenne aber niemanden, auf die oder den diese Strategie gewirkt hat. Alle Menschen aus Russland,  mit denen ich mich im letzten Jahr unterhalten habe – Künstler:innen, Geschäftsleute oder einfach meine Verwandten –, halten die russische Aggression für eine absolute Katastrophe für ihr Land. Vielleicht liegt es an meinem Freundeskreis. Es gibt ein paar Ausnahmen, wie den Petersburger Barockgeiger Reshetnikov, dessen Unterstützung des Krieges alle, die ihn kannten, geschockt hat, und es gibt natürlich die altbekannten Putin-Fans wie Gergiev, Matsuev, Netrebko oder Metschetina, aber sie waren auch früher nicht anders, und deren Nähe zum Regime ist keine Überraschung.

Was das Leben in Russland  betrifft, da gab es die Beschleunigung all der Prozesse, die sich schon vor dem Krieg abgezeichnet hatten. Wir erlebten die Schließung noch übrig gebliebener freier Medien und eine regelrechte Auslöschung der unabhängigen Theaterszene, die vor dem Krieg sehr einflussreich, kritisch und zugleich international verankert war. Wir erlebten im Kontext der Proteste mehrere Gerichtsurteile und Tausende Verhaftungen. Natürlich wird dieser Krieg wie jeder anderer auch für innenpolitische Zwecke benutzt, um alles in der russischen Gesellschaft kaputt zu machen, was noch nicht kaputt gemacht wurde. Das immer noch nicht ausgerufene Kriegsrecht wird de facto bereits umgesetzt, trifft alle Bereiche des Lebens und erlaubt jede Willkür. Aber auch jetzt, wenn sämtliche Proteste erstickt sind, legen die Menschen in den russischen Städten Blumen an den Denkmälern ukrainischer Dichter:innen wie Taras Shevchenko und Lesja Ukrainka nieder, um so zum Beispiel den Opfern der russischen Raketenangriffe wie auf Dnipro am 14. Januar 2023 zu gedenken. Ich hege tiefe Empathie für meine Freund:innen und Kolleg:innen, die immer noch in Russland leben und diesen Krieg zutiefst verabscheuen und ich versuche sie zu unterstützen, wo ich kann. 

Die Sinnlosigkeit des Ganzen schockiert mich. Dass die russische Armee seit einem Jahr ohne jeglichen Grund, Frauen, Kinder und Zivilisten tötet. Die Leute in den angegriffenen Gebieten der Ostukraine, die unter der Aggression am meisten gelitten haben, sprechen meist russisch, gehören demselben Glauben an, auch wenn sie Mitglieder einer anderen Kirche sind, und sind mit Menschen auf der russischen Seite verwandt. Gerade das lässt diesen Krieg so mittelalterlich barbarisch und archaisch aussehen. Und, wie die ukrainische Schriftstellerin Yevgenia Belorusets in ihrem Kriegstagebuch richtig formuliert hat: Man sah und sieht überhaupt keinen Plan hinter der Invasion. Wie könnte die russische Armee Kyjiw und andere Städte halten, würde sie sie überhaupt besetzen? Es hat nicht mal mit Cherson geklappt. Das war auch der Grund, warum so viele Leute auf der ganzen Welt nicht geglaubt haben, dass es diesen Krieg geben wird – es entzieht sich jeglicher Rationalität. Der einzig mögliche Plan, der hinter den Verbrechen der russischen Führung  stecken könnte, ist, die Weltgemeinschaft und die Bevölkerung im eigenen Land in einen permanenten dauerhaften Stresszustand zu versetzen, das Denken und Handeln total zu militarisieren, und die düstersten Instinkte menschlicher Natur aufsteigen zu lassen – und zwar weltweit. Wenn dies der Plan von Putin war, dann ist er aufgegangen, leider. 


Maria Ostroukhova, Mezzosopranistin

Dieses Jahr war unerträglich. Wenn ich es mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich das Wort »Verzweiflung« wählen. Vor einem Jahr war ich für einen (wie ich dachte) kurzen Aufenthalt in Deutschland. Nach Kriegsbeginn hatte ich Angst, nach Russland zurückzukehren, da ich eine entschiedene Haltung gegen die sogenannte »Spezialoperation« einnahm. Ich musste vorübergehend in das Vereinigte Königreich umziehen. Vorübergehend… das ist eines der Worte, die nach dem 24. Februar 2022 ihre Bedeutung geändert haben. Nichts ist jetzt mehr von Dauer, alles ist vorübergehend.

Ich muss sagen, dass ich vor dem Krieg noch nie so viele ukrainische Freund:innen gehabt habe. Unsere gemeinsame Tragödie hat uns zusammengebracht. Wir wurden zu unserem gegenseitigen Anker. Eine Schwimmweste, die uns über Wasser hält.

Leider muss ich auch die grassierende Diskriminierung und die Vorurteile erwähnen, denen ich während dieses anstrengenden Jahres ausgesetzt war. Das sind Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was ukrainische Zivilist:innen durchmachen müssen: Kündigung aufgrund meiner Nationalität, körperliche Bedrohung und Beleidigungen online und offline. Es gibt auch diese schreckliche Sehnsucht, die mein tägliches Leben durchdringt. Eine Sehnsucht nach meinem Zuhause, meinen Eltern, meinen Haustieren, meiner Stadt, die jetzt die meistgehasste Stadt der Welt ist. 

Meine Entschlossenheit ist jedoch ungebrochen. Ich stehe immer noch an der Seite der Ukraine. Ich will Frieden für beide Nationen. Und ich glaube, dass mein Heimatland, mein Russland, von der Dunkelheit, die es verschlungen hat, befreit werden wird. 

Meine beiden Familien in Russland und in der Ukraine leben noch und es geht ihnen relativ gut.


Vladimir Rannev, Komponist

Ich arbeite zurzeit sowohl in Deutschland als auch in Russland, was ich seltsam finde. Ich bin nicht sicher, ob es lange so weiterlaufen wird. Der Grund dafür ist, dass mein 83-jähriger Vater allein in Moskau wohnt, 2022 einen Schlaganfall hatte und meine Hilfe braucht. Das heißt, dass ich keinen ständigen Wohnsitz wählen kann – ohne hin und her zu pendeln. Was das Komponieren betrifft, bin ich seit Beginn des Krieges der Überzeugung, dass in jedem Stück, das ich komponiere, der Schrecken und die Scham reflektiert werden muss. Einschließlich – und vor allem – in den Werken, die in Russland aufgeführt werden. Ich bin der Meinung, dass Musik – und Kunst im Allgemeinen – nicht auf »bessere Zeiten« warten soll, sonst verlieren wir die Hoffnung, dass der katastrophale Zustand der heutigen russischen Gesellschaft überhaupt ein besserer werden kann. Und wenn wir jetzt, in diesen dunklen Zeiten, vergleichbar mit den Dreißiger Jahren in Deutschland, auch noch die seltenen und halbversteckten Zeichen von Menschlichkeit verlieren, bleibt nach einer Weile nur noch eine völlig entmenschlichte Ödnis.

Normalerweise bin ich ein lebensfroher und extrovertierter Mensch, habe das alltägliche Leben genossen. Jetzt aber denke ich fast immer an den Krieg und fühle mich schuldig für das Leiden der Hunderttausenden Menschen. Das ändert das Leben grundsätzlich. Ich habe einige Projekte abgesagt, weil sie nur für die Friedenszeit passen. Alle, die in Russland leben und ein Gewissen haben und Mitleid empfinden können, fallen jetzt in eine Art soziale Depression.

Ich glaube, die Invasion war eine katastrophale Entscheidung der russischen Machthaber, die dem Staat langes Verwelken in allen Sphären des Lebens bringt. Mich überrascht die Tatsache, dass man im 21. Jahrhundert so primitiv und barbarisch eigene primitive und barbarische Ziele erreichen kann, und dass die Hälfte der Welt das nicht ernst nimmt. Es muss die ganze Welt dazu ermutigen, eine globale politische Impfung zu finden, damit in Zukunft keine kleinen oder großen Kriege mehr möglich werden. 

Keine Ahnung, wie es in Russland selbst weitergeht – es wird wohl eher noch schlimmer, weil ich keinen kollektiven Willen entdecke, etwas zu ändern (außer viele, aber einzelne Menschen, die ihn unter dem Repressionsdruck nicht äußern können). Das Leben aber geht pausenlos weiter und wir müssen lernen, unter schwierigen Umständen zu leben, die wir uns nicht ausgesucht haben, für die wir aber trotzdem verantwortlich sind.


Mikhail Mordvinov, Pianist

Jeden Tag werden viele Worte zur Unterstützung der Ukraine und der Schuldzuweisung an Russland gesagt – ich kann mich ihnen nur anschließen. Als gebürtiger Moskauer ist es besonders bitter. Der Schock der ersten Wochen ist vorbei, aber ich frage mich jeden Tag verzweifelt, was ich persönlich hätte tun können, um diesen Krieg zu verhindern, und finde keine Antwort. 

Ich hatte das Glück, schon eine Weile in Berlin zu leben und vor einiger Zeit sogar die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, so dass die Auswirkungen des Krieges auf mein persönliches und berufliches Leben weitaus geringer sind als für diejenigen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Ich wohne immer noch in derselben Wohnung, habe immer noch dieselbe Lehrtätigkeit, wir sprechen zuhause immer noch Russisch, und ich hoffe, dass sich das nicht ändern muss. 

Aber natürlich musste ich viele Projekte in Russland aufgeben, weil ich es mir einfach nicht leisten kann, dorthin zu gehen. Als Schockreaktion habe ich letztes Jahr alles abgesagt. Aber jetzt würde ich dort auftreten, wenn ich könnte, und ich würde in diesem Fall keine große moralische Barriere sehen: Es gibt dort großartige Menschen, viele Freund:innen und Kolleg:innen, die diesen Krieg ganz sicher nie unterstützt haben. Auch wenn viele das Land bereits verlassen haben, sind immer noch viele dort. Ich würde es einfach vermeiden, mit staatlich finanzierten Institutionen zu tun zu haben.

Was mich auch sehr traurig macht – auch wenn es zu erwarten war – ist, dass einige westliche Institutionen niemandem mit russischem Pass helfen oder unterstützen wollen, unabhängig von Ansichten und Absichten. Das macht sich sogar im Bereich der Musik bemerkbar – wo nationale Grenzen eigentlich keine große Rolle spielen sollten. Aber in Deutschland erlebe ich das zum Glück nicht, im Gegenteil. 

Und natürlich versuche ich, meinen Teil der Verantwortung wahrzunehmen, indem ich Ukrainer:innen – Musikstudierende oder Kolleg:innen – auf ihrem beruflichen Weg unterstütze. Und ich erhalte viel Dankbarkeit als Antwort, so dass ich hier das größte Zeichen der Hoffnung sehe – wir sind keine Feinde! ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com