In einer Zeit vor dem 24. Februar 2022 leitete Serhiy Lykhomanenko als Dirigent das MASO »Slobozhansky« Symphonieorchester aus Charkiw und das Eclectic Sound Orchestra aus Kyjiw. Jetzt steht er im 5. Regiment der ukrainischen Streitkräfte der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit vor. »Im Moment befinden wir uns im Epizentrum der Kämpfe in der Nähe der Stadt Bachmut«, berichtet Lykhomanenko von der Front. »Und so sehr ich mich auch an meine neue Tätigkeit gewöhne, ich gebe die Hoffnung nicht auf, in meinen musikalischen Beruf zurückzukehren.« 

VAN: Wissen Sie noch, was Sie am 23. Februar 2022, am Tag vor dem russischen Angriff und dem letzen in ihrem ›alten‹ Leben, getan haben?

Serhiy Lykhomanenko: Ich hatte an dem Tag ein Konzert mit meinem Eclectic Sound Orchestra. Und obwohl der Saal ausverkauft war, hatten alle Musiker:innen – und auch das Publikum – ein ungutes Gefühl. Für den nächsten Tag war die Premiere eines neuen Programms geplant, für das wir fast zwei Monate lang geprobt hatten. Direkt nach dem Konzert am 23. mussten wir entscheiden, was wir mit der Premiere am nächsten Tag machen wollen. Ich bin nach dem Konzert in die Garderobe gegangen und habe dem Orchester erklärt, dass wir die neue Show verschieben müssen. Ich weiß bis heute nicht, warum ich das gemacht habe, ich hatte vermutlich so eine Vorahnung. Und unglücklicherweise hat sie sich dann bewahrheitet. 

Wie haben Sie dann den 24. Februar 2022 erlebt?

Am 24. Februar wurde dann um 5 Uhr morgens die ganze Ukraine geweckt von der Nachricht von der russischen Invasion. Das Packen und Evakuieren begann sofort, denn die Explosionen waren in Kyjiw schon deutlich hörbar. Ich brachte meinen Flötisten zum Bahnhof und meine Familie zu meinen Eltern, raus aus der Stadt. Die ersten drei Tage außerhalb der Stadt haben wir nur vor dem Fernseher oder online verbracht. Aber schon am 27. war für mich die Entscheidung gefallen, dass es immer noch besser war, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, als tatenlos auf die russischen Besatzer zu warten. Noch am selben Tag kehrte ich nach Kyjiw zurück und schloss mich einer der Einheiten von Freiwilligen an, die sich in vielen Teilen der Stadt bildeten. Am 28. Februar wurde ich dann als Soldat in eine Militäreinheit aufgenommen. Ich bekam eine Waffe und wurde Sanitäter einer Schützenkompanie, weil ich schon eine medizinische Ausbildung hatte. Das war der Beginn meiner militärischen Laufbahn.

Diese ersten Monate nach der Invasion waren ziemlich bedrückend. Wir mussten von Anfang an auf alles vorbereitet sein. Also fing ich an, nach dem Wichtigsten zum Überleben zu suchen: Lebensmittelvorräte, Wasser, Medikamente, und auch Möglichkeiten zu finden, Verwandten zu helfen und Menschen, die nicht rausgehen konnten, um Lebensmittel und Medikamente zu besorgen. Ich dachte nie darüber nach, ins Ausland zu gehen. 

Die Einheit, in die ich kam, bestand aus ganz normalen Menschen wie mir. Der Verband wurde immer besser organisiert und dann reisten wir in Gebiete, in denen Kampfhandlungen im Gange waren. Ich war beschäftigt in der Evakuierung von Verletzten aus Bucha und Lyutizh (einem Vorort von Kyjiw). Ich kann mich nicht an Situationen erinnern, in denen mich die Verzweiflung überkam, denn es gab immer etwas zu tun, zu lernen. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich von der Solidarität aller Menschen, die ich in dieser Zeit getroffen habe, beeindruckt war. Selbst völlig Fremde behandelten einander wie nahe Verwandte. Das war inspirierend, es gab uns das Gefühl, dass wir durchhalten würden. Alle Schichten oder soziale Schranken waren verschwunden: Dirigenten, Schauspieler, Busfahrer, Politiker und Führungs- wie Reinigungskräfte wurden zu einer einzigen ›Widerstandsbewegung‹.

Wie sind Sie dann zu Ihrer jetzigen Armeeeinheit und in den Donbas gekommen?

Anfang April, als die Außenbezirke von Kyjiw befreit wurden, beschloss ich, selbst zu kämpfen. Die Bedrohung war nach wie vor präsent, auf dem Gebiet der Musik lief nichts, und ich hatte bereits einige Erfahrung. Also trat ich in das neu geschaffene 5. Regiment der ukrainischen Streitkräfte ein, in dem ich bis heute diene. Ich war für die Besetzung des Regiments zuständig und habe darum viele Leute interviewt. Dabei stieß ich auf ein paar Musiker, die wie ich zur Armee gegangen waren. Wir sind immer noch befreundet und haben einen informellen ›Musikclub‹ unter den Soldaten des 5. Regiments.

Im Sommer 2022 wurde unsere Einheit in das Kriegsgebiet Donbas verlegt. Meine Karriere nahm Fahrt auf und ich wurde zum Pressechef des Regiments ernannt. Meine Aufgabe ist es, Journalist:innen mit in unsere Kampfeinheiten aufzunehmen und zu begleiten. Außerdem bin ich für die Zusammenarbeit mit Freiwilligen aus der ganzen Welt zuständig, die unsere Einheiten sehr aktiv unterstützen.

Wie präsent ist die Musik noch in Ihrem Leben? Denken Sie an Musik, hören Sie Musik, oder ist dafür kein Platz mehr?

Natürlich verschwindet die Musik nicht. Sie taucht vielmehr immer wieder auf! Mein Freund Vlad Solodovnikov, ein Komponist, und ich sind ständig in Kontakt. Obwohl er nach Deutschland gegangen ist, kommunizieren wir viel über Messenger. Er hat gerade ein Klavierkonzert geschrieben, Concerto from The Lost Souls, das den Ereignissen in Bucha gewidmet ist. Unter den Eindrücken des Krieges sind zwei Teile eines Requiems entstanden – Lacrimosa und Requiem eterna. Und im Moment sind er und ich dabei, die Kampfhymne unserer Einheit zu schreiben zu den Worten von Taras Schewtschenko Борітеся – поборете вам Бог помогає [Kämpfe und du wirst siegen, Gott ist mit dir].

Ich halte außerdem so gut es geht Kontakt zu meinem Freund, dem italienischen Komponisten Gabriele Denaro, der der Ukraine ebenfalls ein großes Klavierkonzert gewidmet hat. Ich finde dieses Werk sehr majestätisch und schön, und ich träume davon, es zu dirigieren, sobald ich die Gelegenheit dazu habe.

Im Januar 2023 hat das Lviv National Philharmonic Orchestra mich eingeladen, das Abschlusskonzert des Bach Contemporary Festivals zu dirigieren, aber es war für mich nicht möglich, meine Einheit zu verlassen. Abends schaffe ich es manchmal, in Ruhe und konzentriert symphonische Musik zu hören. Endlich höre ich alles von Mahler. Und ich komme immer wieder zurück zu Bach, er hilft mir, mein Hirn zu aktivieren. Vor 10 oder 20 Jahren waren ›mein‹ Bach und auch ›mein‹ Mahler ganz andere Komponisten. Als ich sehr jung war, interessierte ich mich besonders für das Spektakuläre in Bachs Präludien und Toccaten oder Mahlers originelle Instrumentierung, jetzt entdecke ich die Ästhetik der früher ›langweiligen‹ Fugen, der Passionen von Bach, der Kindertotenlieder und des Lieds von der Erde von Mahler. Bruckner habe ich auch immer in der Playlist und in letzter Zeit auch Philip Glass. Da stelle ich mir immer vor, wie ich seine Opern dirigieren würde. Unter den Bedingungen, unter denen wir heute leben, kann klassische Musik ein Rückzugsort sein, eine Gegenwelt, ein Zufluchtsort zur Ablenkung von einer ziemlich trostlosen und manchmal erschreckenden Realität.

ANZEIGE

Können Sie sich vorstellen, wie das wird, wenn Sie wieder in Ihr altes Leben zurückkehren?

Ja, das stelle ich mir die ganze Zeit vor. Aber ich weiß, dass es noch nicht möglich ist. Leider. Das ›Slobozhansky‹ Symphonieorchester aus Charkiw, wo ich herkomme, ist derzeit auf einer unbefristeten Tournee in Polen. Ich möchte mich ihnen anschließen. Vielleicht gehe ich, wenn ich von der Armee beurlaubt werde, nach Polen und dirigiere die eben erwähnten Werke, die während des Krieges komponiert wurden.

Auch mein Orchester in Kyjiw wartet auf mich, wir wollten unsere Reihe mit Orchestermusik und Lichtshow fortsetzen, ›Organum‹ nannten wir die. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Konzerten mit populärer Musik, die neu für Kammerorchester und Orgel arrangiert wurde.

Ich kann mir auch vorstellen, was mit den Orchestern von Lviv, Riwne und Chmelnyzky zu machen, mit denen ich schon zusammengearbeitet habe. Ich hoffe, dass ich nach dem Krieg keine Zeit und Gelegenheit haben werde, mich an diese dunklen Zeiten zu erinnern, sondern versuchen werde, voll in die Konzerttätigkeit ›einzutauchen‹. Ich denke auch über eine Reihe von Einspielungen ukrainischer Musik nach und interessiere mich besonders für das Werk des ukrainischen Komponisten Viktor Kosenko. Ich habe eine Reihe von symphonischen Bearbeitungen, die noch nie aufgeführt wurden und die eine wertvolle Erweiterung des ukrainischen Repertoires für Symphonieorchester sein könnten.

Wie hat sich Ihr Blick auf das Leben und auch auf Musik verändert? 

Ich glaube, es ändert für alle die Perspektive, wenn man sich bewusst macht, dass das Leben jeden Moment enden kann. Wenn ein paar hundert Meter entfernt ständig Granaten und Raketen explodieren, Kugeln um einen herumfliegen. Ich hätte nicht gedacht, dass man diese Erfahrung im 21. Jahrhundert noch macht, aber … ich habe sie gemacht. Also lebe ich nach dem Prinzip, jeden Augenblick zu genießen. Positiv zu bleiben und Humor sind das beste Mittel gegen den andauernden Stress.

Für mich ist Musik eine Ästhetik und Ordnung des Klangs, die große Emotionen und Gefühle hervorruft, die mir helfen, in dieser Realität zu leben. Der Klang des Krieges ist der Klang von Unordnung und Chaos, der Tod und Angst bringt. Deshalb bin ich gegen die Ästhetisierung des Krieges. Nur als Warnung, als Erinnerung daran, was in der Gesellschaft nicht sein sollte. ¶

Julia Nikolaevskaya ist Professorin am Institut für Musikanalyse an der Nationalen Universität der Künste I.P. Kotljarewski in Charkiw.

Eine Antwort auf “»Jetzt entdecke ich die Ästhetik der Passionen von Bach und der ›Kindertotenlieder‹ von Mahler.«”

Kommentare sind geschlossen.